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Ein Weihnachtsfest, das Fest der Liebe - oder aber das Fest der Tragödien, der Einsamkeit und der (Selbst-)Morde. Der Erzähler in Maruan Paschens rasantem und pointenreichem tragikomischen Familienroman berichtet einem Therapeuten vom letzten Weihnachtsfest mit seiner Familie: seine alleinerziehende Mutter und ihre Brüder. Voll abgründigem Witz kommt Paschen schnell zur Sache, da geht es um das Fondue, das in Handschellen zu sich genommen wird, um eine Liebesbeziehung im Kaufhaus, den kranken Onkel Art, der einen Weihnachtsbaum samt Auto klaut, Onkel Tarzan, der Araber hasst und von seiner…mehr

Produktbeschreibung
Ein Weihnachtsfest, das Fest der Liebe - oder aber das Fest der Tragödien, der Einsamkeit und der (Selbst-)Morde. Der Erzähler in Maruan Paschens rasantem und pointenreichem tragikomischen Familienroman berichtet einem Therapeuten vom letzten Weihnachtsfest mit seiner Familie: seine alleinerziehende Mutter und ihre Brüder. Voll abgründigem Witz kommt Paschen schnell zur Sache, da geht es um das Fondue, das in Handschellen zu sich genommen wird, um eine Liebesbeziehung im Kaufhaus, den kranken Onkel Art, der einen Weihnachtsbaum samt Auto klaut, Onkel Tarzan, der Araber hasst und von seiner Familie verlassen wurde, und Onkel Berti, der beim Versuch, das Weihnachtskonzert zu dirigieren, den Fonduetopf umwirft. Immer wilder werden die Geschichten und immer mehr erfährt man vom Leben des Erzählers und seiner Familie. In Erinnerungen an frühere Weihnachtsfeste und die Familiengeschichte tritt die Vergangenheit wieder hervor. Alte Kränkungen und dunkle Geheimnisse, die über Generationen weitergegeben werden und das Leben schleichend vergiften, kommen ans Tageslicht. Aber wer tötete wen? Und wer war der Therapeut?
Autorenporträt
Paschen, MaruanMaruan Paschen, 1984 geboren, wuchs in Hamburg auf. Nach einer Ausbildung zum Koch absolvierte er ein Studium am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel. Paschen lebt in Leipzig.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.12.2018

Ein Fest für Doktor Gänsehaupt
Psychoanalytische Séance am heiligen Abend: Maruan Paschens Roman "Weihnachten"

Zu einer Zeit, als Gastarbeiter noch Gastarbeiter hießen, legte sich die Zunft der Literaturkritiker auf einen triftigen Untersuchungsgegenstand fest. Unter Migrantenliteratur verstand man die literarischen Texte, die, von Migranten erster oder zweiter Generation geschrieben, wahlweise Heimweh, Fremdheit oder soziale Ausschlüsse verhandelten. Mit den Jahren schärfte sich der Analyseanspruch. Aus Migrantenliteratur wurden "postmigrantische Perspektiven". Inzwischen wird kaum noch vom Migrationshintergrund des Autors auf Motiv oder Erzählweise seines Romans geschlossen. Eine Erwartung an diese Form deutschsprachiger Literatur hält sich jedoch hartnäckig: Man liest bevorzugt Identität heraus. Nicht selten, so scheint es, haben hier die Protagonisten Identitäts- oder Integritätskonflike, Ambiguitäten müssen ausgehalten, stabile Protagonisten-Persönlichkeiten erst entwickelt werden.

Erfrischend anders ist das in Maruan Paschens nun erschienenem zweiten Roman "Weihnachten", der als psychoanalytische Séance angelegt ist. Der Protagonist, er trägt den gleichen Namen wie der Autor, berichtet seinem schweigsamen Therapeuten Dr. Gänsehaupt vom Weihnachtsfest der Familie, den "Paschens". Eine autobiographische Weihnachtsgeschichte? Nein, die Figuren in diesem Roman haben keine stabilen Identitäten, keine realen Bezüge, sie wollen nicht gedeutet werden. Die Paschens, das sind Maruans Mutter und ihre vier Brüder, Tarzan, Art, Otto und Berti. Einmal im Jahr treffen sie sich zum gemeinsamen Weihnachtsfest, wobei Fondue und Tischgespräche dem Öffnen der Geschenke vorgezogen werden. Man spricht über die Vergangenheit der jetzigen und die der vorherigen Generation. Jedes dieser 25 Kapitel des Buchs enthält eine Familiengeschichte, ein Bild, ein Ritual, ein Objekt, an dem sich die nostalgische Erinnerung des Erzählers entzündet. Angeordnet sind sie spontan, disparat und dringlich. Oft haben die Episoden szenischen Charakter: Da ist das Rindfleisch, das stets im Uhrzeigersinn in die Runde gegeben wird, da der dampfende Rumtopf, der schweigend getrunken wird, kleine alljährliche Gesten mit familienstiftendem Sinn. Da sind die Fotografien der Vorfahren in Wehrmachtsuniform und die familiäre Unfähigkeit, darüber zu sprechen. Da ist die Erinnerung an Maruans Vater, einen im Westjordanland lebenden Unbekannten, konserviert und sorgsam weitererzählt von den Verwandten. Da ist die zerstörte Butterschale und die Verzweiflung über den mütterlichen Schmerz angesichts ihrer Scherben.

Maruan Paschen gelingt es, an Objekten der Erinnerung ein ganzes Zeitpanorama seiner Jugend und somit der achtziger und neunziger Jahre zu entfalten, eine Zeit, "in der die Farbe Grün zu einer politischen Farbe wurde, in der der VW Käfer zum VW Golf wurde" und "in der die Suppen mit Eigelb gebunden wurden, anstatt mit Mehl". Der Roman ist die Beschreibung der weihnachtlichen Zusammenkunft einer Familie, die genauso wenig normal ist wie jede andere, genauso wenig heil, und in der jeder seinen eigenen Abgrund mit sich herumträgt. Die Erzählung mäandert, ist nicht kondensiert, sondern wirkt locker und nonchalant aus der Hand geschrieben. Dagegen steht die Schwere der Erinnerungssplitter, die schmerzen und isolieren, immer wieder schweigt einer den Teller an, während andere durcheinanderreden.

Paschens Roman ist eine Bestandsaufnahme dessen, was in die Waagschale gehörte, wenn man Identität wirklich erfassen wollte. Und weil diese Schale als so groß, die Erinnerungen als so mannigfach geschildert werden, ist es eben kein Buch über die Identität als abstrakte Größe, sondern darüber, dass diese immer relational ist: Protagonist Maruan ist Sohn und Einzelkind. Vaterlos zwar, aber wird hier nicht deutlich, dass vier erinnerungserzählende und mitunter auch erinnerungserfindende Onkel einen fehlenden Vater hinreichend ersetzen können? Paschens Figuren sind fluide und wechselhaft, sie schmiegen sich ihrem Gesprächspartner an, fügen sich ein und sind doch immer ein bisschen allein. Man möchte glauben, dass hinter einer solchen Figurenkonzeption eine echte und menschliche Weltanschauung steht.

Manchmal fügen sich Paschens Charaktere in eine ihnen angebotene Rolle nur aus experimentellem Interesse ein. Für einige Minuten findet sich Maruan wieder als ein "in Deutschland lebenden Araber". Auf einem Flug nach Tripolis wird über das Bordmikrofon ein Arzt verlangt. Im Affekt meldet sich Maruan, der, obschon kein Arzt, sich darüber freut, den auf Arabisch gesprochenen Notruf zu verstehen: "Ich wollte sagen: Ja, hier, hier ist einer, der diese Sprache versteht. Hier ist einer, der in Deutschland lebt und diese Wörter versteht." Und auch heißt es da: "Ich war ein in Deutschland lebender Araber, aber nur für ein paar Minuten. Ich gebe zu, das sieht so aus, als gäbe es gar kein System, nach welchem man ein in Deutschland lebender Araber ist. Und ich gebe auch zu, dass das stimmt." Hier entfaltet der Roman einen ernsteren Ton. Denn nicht jede Rolle kann abgestreift werden wie eine Schlangenhaut, manchmal kommt sie in Form eines Weihnachtsgeschenks zurück.

Weihnachten ist die Urszene der Identitätsverhandlung. Die Sorge vor dem alljährlichen Heimkommen ist die Sorge vor dem Vermittlungsproblem zwischen früherem und spätem Ich. Maruan Paschen, der in einem Interview gesagt hat, dass er es schätzt, wenn Literatur nicht zwingend etwas verändern, etwas heilen muss, hat einen Roman darüber geschrieben.

MIRYAM SCHELLBACH

Maruan Paschen:

"Weihnachten". Roman.

Verlag Mattes & Seitz, Berlin 2018. 196 S., geb., 20,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 17.12.2018

Melancholie
im Fonduetopf
Maruan Paschens aberwitziger
Roman „Weihnachten“
Das Weihnachtsfest als Motiv ist in der Literatur ein Dauerbrenner. Alle Jahre wieder schreiben Autorinnen und Autoren Weihnachtsromane, Weihnachtsgeschichten, Weihnachtsgedichte, und zumindest in den letzten hundert Jahren tun sie das unter eher ironischen Vorzeichen. Verwunderlich ist das nicht: Das bürgerliche Setting der Weihnachtsfeierlichkeiten liefert eine dankbare, konfliktträchtige Vorlage. Die Familie kommt einmal im Jahr zusammen, die Einheit von Ort und Zeit ist gewahrt, und schon fliegen die Fetzen. Wenn das kein Fest für den Satiriker im Schriftsteller ist! Möglicherweise, aber das nur am Rande, hat es der ein oder andere Autor auch darauf abgesehen, sein „Christmas Carol“ zu schreiben – einen Longseller also, der alle Jahre wieder neu aufgelegt unterm Weihnachtsbaum landen kann und stetig Tantiemen abwerfen soll.
Der 1984 geborene Maruan Paschen nennt seinen neuesten Roman gleich ohne Umschweife „Weihnachten“, auf dass die Buchhändler aufmerken mögen. Eine typische, konsumkritische Satire ist dieses Buch nicht. Und wer gar eine gemütliche oder erbauliche Lektüre erwartet, sollte gleichfalls gewarnt sein. Niemand kommt aus dieser Lektüre heil heraus, schon gar nicht die Figuren. Denn auch wenn die Ausgangslage noch allen weihnachtsliterarischen Konventionen entspricht – die Familie sitzt um den Fonduetopf herum –, wird doch rasch klar, dass hier erzählerisch einiges aus dem Ruder läuft.
Nach ein paar Seiten lässt sich nicht mehr genau sagen, was eigentlich geschieht und ob nicht alles einer fantastisch verschrobenen Wahrnehmung entspringt. Ein Indiz für diese Vermutung gibt es zumindest: Der naiv auftretende, zugleich gewiefte Ich-Erzähler Maruan berichtet einem Psychiater namens Dr. Gänsehaupt von den traditionellen Weihnachtsfeiern einer Familie namens Paschen. Muttern, fünf Onkel und Maruan selbst kommen unterm Weihnachtsbaum zusammen, verteilen untereinander Geldgeschenke und tunken – hier fängt der Wahnwitz an, hört aber lange noch nicht auf – mit Handschellen angetan ihre Fleischstückchen in den Topf. Maruan Paschen lässt seinen Erzähler aus der Familiengeschichte plaudern, ein in immer groteskeren Schleifen sich bewegender Monolog, dessen Adressat – Psychiater Gänsehaupt – so ausdauernd schweigt, dass man am Ende nicht sicher ist, ob es ihn wirklich gibt.
Überhaupt kann man sich nur über wenig in diesem Roman im Klaren sein. Hat Maruan seine Sippe tatsächlich auf dem Gewissen, wie er am Anfang behauptet? Konnte er das Immergleiche nicht mehr ertragen und hat, statt zur Fonduegabel, zum Fleischermesser gegriffen, um dem trauten Zusammensein ein Ende zu bereiten? Was wir mit Sicherheit sagen können: Paschen überdreht das Genre der Weihnachtssatire – verglichen etwa mit Heinrich Bölls „Nicht nur zur Weihnachtszeit“ – noch einmal gehörig, lässt an der Familie kein realistisches Haar, überreizt und überdehnt die Sprache, bis man das Gefühl hat, einfach zu viel Braten, Plätzchen und Rotwein in viel zu kurzer Zeit zu sich genommen zu haben.
Unter oder hinter dieser von überbordender Fantasie getriebenen Rede verbirgt sich aber eine tiefe Melancholie – denn der Tod sitzt hier mit am Tisch, er hat sich schon in die Runde eingeschlichen, und die Familie gleicht mehr einem auf Gedeih und Verderb einander ausgelieferten Schicksalsverbund als einer dem Leben trotzenden, eingeschworenen Gemeinschaft. Letztlich geht es darum, sich mit dem Alleinsein abzufinden, das man ausgerechnet dann am heftigsten verspürt, wenn man mit den Liebsten ritualisierte Handlungen vollzieht.
Vorwerfen ließe sich Paschen allenfalls, dass er zu deutlich eine Fährte zur Psychose des Erzählers legt, zu einer pathologischen Wirklichkeitsauflösung, wo es doch noch ein bisschen irrer wäre, könnte das Erzählte in seiner Absurdität einfach so dastehen und schließlich ins Leere laufen. Aber dieser Vorbehalt sollte nicht von der Lektüre abhalten – die familiär herausfordernden Weihnachtstage lassen sich mit „Weihnachten“ womöglich besser überstehen als ohne.
ULRICH RÜDENAUER
Maruan Paschen: Weihnachten. Roman. Matthes & Seitz Berlin. 2018. 196 Seiten, 20 Euro.
Mit den Handschellen
fängt der Wahnwitz an
und hört dann nicht mehr auf
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Eine Weihnachtsgeschichte zu schreiben, ist ein riskantes Unterfangen, weiß Rezensent Tomacz Kurianowicz. Umso erstaunlicher und erfreulicher ist es, wenn es wie in Maruan Paschens zweitem Roman "Weihnachten" so gut gelingt. Scheinbar mühelos manövriert der junge Schriftsteller seine Erzählung zwischen den Klippen der Klischees hindurch, vorbei am Riff der guten Absichten und über alle Plattitüden hinweg, lesen wir. Mit spielerischer Leichtigkeit greift und baut er Genrekonventionen auf, um sie anschließend doch zu unterlaufen, er philosophiert, poetisiert, assoziiert und ulkt herum, dass es eine reine Freude ist und beweist dabei eine Virtuosität, die den Rezensenten nach Analogien in der Musik suchen lässt. Paschens ungewöhnliche Familienanalyse sei keine Prosa, meint Kurianowicz, es sei "Jazz"! Schade, dass sein Verlag beim breiten Lesepublikum noch keine sonderlich große Anhängerschaft gefunden hat, so der begeisterte Rezensent.

© Perlentaucher Medien GmbH