Ein kleines großes Buch mit Versen zur Weihnachtszeit: Von 1962 an bis zu seinem Tod 1996 hat der Nobelpreisträger Joseph Brodsky jeweils zu Weihnachten ein Gedicht geschrieben, um an die Geburt Christi zu erinnern. In der atheistischen Sowjetunion eine Provokation. Aber auch im Exil ließ der Dichter nicht von seiner Übung ab. Ein ideales Buch für alle, die sich einen Sinn für das Fest bewahrt haben.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.11.2004Das Auge des Vaters
Ein Salto: Weihnachtsgedichte von Joseph Brodsky
Von sich selbst hat Brodsky einst gesagt, er sei wohl ein "schlechter Russe" und ein "schlechter Jude" dazu, dürfe sich aber zumindest für einen "guten Dichter" halten. Daß er, darüber hinaus, auch "so etwas wie ein Christ" war, ist belegt durch eine lange Reihe von Gedichten, die er zwischen 1962 und 1995 mit einer gewissen Regelmäßigkeit eigens zu Weihnachten geschrieben hat, um seiner "Geburtstagsfreude" Ausdruck zu geben - der Freude nicht nur über Gottes Menschwerdung in der Gestalt Jesu, der Freude auch über den Beginn eines neuen Zeitalters, ja der historischen Zeit überhaupt, die den Kult zur Kunst, den Menschen zum Individuum gemacht habe.
Achtzehn "Weihnachtsgedichte" sind im Lauf der Jahre entstanden, siebzehn davon liegen nun in einer russisch-deutschen Ausgabe vor. Der schmale Band ist freilich weit mehr als nur eine Sammlung von thematisch verwandten Gedichten. Die hier vereinten Texte weisen, ungeachtet ihrer geringen Anzahl, eine solche formale Vielfalt auf und umfassen einen so großen Zeitraum, daß sie insgesamt als eine repräsentative Werkauswahl gelten können, die Brodskys Schaffen in höchster Verdichtung und dennoch in voller Breite vor Augen führt. Hier finden sich Romanzen und Wiegenlieder, politisch und autobiographisch grundierte Gedichte, philosophische und mythologische Lyrik in unterschiedlichsten Vers- und Strophenformen.
Weihnachten ist für Brodskys Schreiben zumeist nur Anlaß, nicht Thema - Gelegenheit, über Gott und die Welt, Geschichte und Freiheit, das Leben und die Liebe, kurz: über "nichts und wieder nichts" poetisch zu räsonieren. Dies kann im Volksliedton, in kruder, wiewohl gereimter Alltagssprache oder auch in erhabenen, didaktisch daherkommenden Versen geschehen. Bisweilen verschmelzen die unterschiedlichen Intonationen zu einem besonderen Sound, der einzig bei Brodsky so zu vernehmen ist: "Marx hatte recht: Für die großen Horden / läßt sich das Dasein nicht besser ordnen! / Nur wäre ich längst beseitigt worden, / ging es nach ihm . . . Wer verdient am Saldo? - / Hab' keinen Schimmer von all dem Plunder. / Daß ich noch lebe, ist ein Wunder, / Verzeihn Sie mir, doch ich bin so munter / und verlass' die Epoche mit einem Salto!"
Wo Brodsky das Weihnachtsfest tatsächlich in den Blick rückt, korrespondiert es mit der Urszene von Betlehem, empfängt sein Licht vom großen Stern ("der das Auge des Vaters war") und vereint die üblichen Requisiten und Personen, die man aus dem Evangelium, aber auch aus der christlichen Ikonographie kennt - Stall und Krippe, Mutter und Kind, die Heiligen Drei Könige: "Dem neugeborenen Kind kam alles gewaltig vor: / die Brust der Mutter, die Nüstern des Ochsen, Kaspar, Melchior, / Balthasar und deren Geschenke, die man hereintrug. Den Kern / bildete aber das Kind selber. Und das war der Stern." In seinen spätesten Weihnachtsgedichten verlegt Brodsky die Geburt Jesu aus der Enge des Stalls in die Weite der Wüste und gibt damit dem Heilsgeschehen, ebenso eindrücklich wie erschreckend, eine neue, zutiefst resignative Dimension - Leere, grenzenlos und menschenfern: "Warst geboren in der Wüste, / liebes Kind, / wo die Könige und Fürsten / machtlos sind . . . / Diese Öde, diese Weiten / sind kein Ort / für die Menschen. Nur die Zeiten / wandern dort."
Der Übersetzung von Brodskys Weihnachtsgedichten, die an formaler Raffinesse und motivischer Komplexität ihresgleichen suchen, hat sich Alexander Nitzberg angenommen. Nitzbergs primäres Interesse gilt dem Reim, der bei Brodsky auf höchstem technischen Niveau gehandhabt wird und dessen konstruktive sowie klangliche Qualität in den deutschen Versionen manch staunenswerte Entsprechung, bisweilen aber auch allzu angestrengte, unnötig manieriert wirkende Nachahmung findet. Das vorrangige Festhalten am Reimschema der Originaltexte führt in den Übersetzungen naturgemäß zu Defiziten auf der Aussageebene - um die Paar- oder Tripelreime zu retten, muß Nitzberg zahlreiche inhaltliche Konzessionen machen. Er tut dies bedenkenlos, indem er fortläßt, was nicht ins Schema paßt, und indem er beifügt (oder umdeutet), was er zu dessen Erfüllung braucht. Das kann zu ingeniösen Lösungen wie auch zu peinlichen Entgleisungen führen; beides ist reichlich vorhanden.
Es gibt auch diverse Mißverständnisse, durch die Brodskys Aussagen massiv verfälscht oder gar in ihr Gegenteil verkehrt werden, etwa dort, wo es im Original heißt: "man zähle ein Jahr für zwei" - was die Zeit logischerweise halbieren würde, anders als im Deutschen, wo es statt dessen heißt: "man zähle die Jahre doppelt"; aber "doppelt" soll sich eben auf "koppelt" reimen. An anderer Stelle evoziert Brodsky ein venezianisches Hotelzimmer - in einem alten, mit blinden Flecken übersäten Spiegel erkennt man ein Möbel, ein "Gestell", das noch feucht ist von "Tränen, Liebkosung und schmutzigen Träumen"; zu deutsch: ". . . im Spiegel, bewachsen / mit Moos, das Gerät, das vor schlüpfrigen Faxen, / Tränen und Zärtlichkeit triefen muß". Bei dem ominösen "Gerät" dürfte es sich ganz einfach um ein Bett handeln, bei dem "mit Moos bewachsenen" Spiegel um eine Vision des Übersetzers. Bei aller Kritik im Detail: Über weite Strecken ist Nitzberg die Verdeutschung von Brodskys anspruchsvollen Gedichten sehr gelungen.
Joseph Brodsky: "Weihnachtsgedichte". Russisch-deutsch. Aus dem Russischen übersetzt von Alexander Nitzberg. Hanser Verlag, München 2004. 93 S., geb., 12,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein Salto: Weihnachtsgedichte von Joseph Brodsky
Von sich selbst hat Brodsky einst gesagt, er sei wohl ein "schlechter Russe" und ein "schlechter Jude" dazu, dürfe sich aber zumindest für einen "guten Dichter" halten. Daß er, darüber hinaus, auch "so etwas wie ein Christ" war, ist belegt durch eine lange Reihe von Gedichten, die er zwischen 1962 und 1995 mit einer gewissen Regelmäßigkeit eigens zu Weihnachten geschrieben hat, um seiner "Geburtstagsfreude" Ausdruck zu geben - der Freude nicht nur über Gottes Menschwerdung in der Gestalt Jesu, der Freude auch über den Beginn eines neuen Zeitalters, ja der historischen Zeit überhaupt, die den Kult zur Kunst, den Menschen zum Individuum gemacht habe.
Achtzehn "Weihnachtsgedichte" sind im Lauf der Jahre entstanden, siebzehn davon liegen nun in einer russisch-deutschen Ausgabe vor. Der schmale Band ist freilich weit mehr als nur eine Sammlung von thematisch verwandten Gedichten. Die hier vereinten Texte weisen, ungeachtet ihrer geringen Anzahl, eine solche formale Vielfalt auf und umfassen einen so großen Zeitraum, daß sie insgesamt als eine repräsentative Werkauswahl gelten können, die Brodskys Schaffen in höchster Verdichtung und dennoch in voller Breite vor Augen führt. Hier finden sich Romanzen und Wiegenlieder, politisch und autobiographisch grundierte Gedichte, philosophische und mythologische Lyrik in unterschiedlichsten Vers- und Strophenformen.
Weihnachten ist für Brodskys Schreiben zumeist nur Anlaß, nicht Thema - Gelegenheit, über Gott und die Welt, Geschichte und Freiheit, das Leben und die Liebe, kurz: über "nichts und wieder nichts" poetisch zu räsonieren. Dies kann im Volksliedton, in kruder, wiewohl gereimter Alltagssprache oder auch in erhabenen, didaktisch daherkommenden Versen geschehen. Bisweilen verschmelzen die unterschiedlichen Intonationen zu einem besonderen Sound, der einzig bei Brodsky so zu vernehmen ist: "Marx hatte recht: Für die großen Horden / läßt sich das Dasein nicht besser ordnen! / Nur wäre ich längst beseitigt worden, / ging es nach ihm . . . Wer verdient am Saldo? - / Hab' keinen Schimmer von all dem Plunder. / Daß ich noch lebe, ist ein Wunder, / Verzeihn Sie mir, doch ich bin so munter / und verlass' die Epoche mit einem Salto!"
Wo Brodsky das Weihnachtsfest tatsächlich in den Blick rückt, korrespondiert es mit der Urszene von Betlehem, empfängt sein Licht vom großen Stern ("der das Auge des Vaters war") und vereint die üblichen Requisiten und Personen, die man aus dem Evangelium, aber auch aus der christlichen Ikonographie kennt - Stall und Krippe, Mutter und Kind, die Heiligen Drei Könige: "Dem neugeborenen Kind kam alles gewaltig vor: / die Brust der Mutter, die Nüstern des Ochsen, Kaspar, Melchior, / Balthasar und deren Geschenke, die man hereintrug. Den Kern / bildete aber das Kind selber. Und das war der Stern." In seinen spätesten Weihnachtsgedichten verlegt Brodsky die Geburt Jesu aus der Enge des Stalls in die Weite der Wüste und gibt damit dem Heilsgeschehen, ebenso eindrücklich wie erschreckend, eine neue, zutiefst resignative Dimension - Leere, grenzenlos und menschenfern: "Warst geboren in der Wüste, / liebes Kind, / wo die Könige und Fürsten / machtlos sind . . . / Diese Öde, diese Weiten / sind kein Ort / für die Menschen. Nur die Zeiten / wandern dort."
Der Übersetzung von Brodskys Weihnachtsgedichten, die an formaler Raffinesse und motivischer Komplexität ihresgleichen suchen, hat sich Alexander Nitzberg angenommen. Nitzbergs primäres Interesse gilt dem Reim, der bei Brodsky auf höchstem technischen Niveau gehandhabt wird und dessen konstruktive sowie klangliche Qualität in den deutschen Versionen manch staunenswerte Entsprechung, bisweilen aber auch allzu angestrengte, unnötig manieriert wirkende Nachahmung findet. Das vorrangige Festhalten am Reimschema der Originaltexte führt in den Übersetzungen naturgemäß zu Defiziten auf der Aussageebene - um die Paar- oder Tripelreime zu retten, muß Nitzberg zahlreiche inhaltliche Konzessionen machen. Er tut dies bedenkenlos, indem er fortläßt, was nicht ins Schema paßt, und indem er beifügt (oder umdeutet), was er zu dessen Erfüllung braucht. Das kann zu ingeniösen Lösungen wie auch zu peinlichen Entgleisungen führen; beides ist reichlich vorhanden.
Es gibt auch diverse Mißverständnisse, durch die Brodskys Aussagen massiv verfälscht oder gar in ihr Gegenteil verkehrt werden, etwa dort, wo es im Original heißt: "man zähle ein Jahr für zwei" - was die Zeit logischerweise halbieren würde, anders als im Deutschen, wo es statt dessen heißt: "man zähle die Jahre doppelt"; aber "doppelt" soll sich eben auf "koppelt" reimen. An anderer Stelle evoziert Brodsky ein venezianisches Hotelzimmer - in einem alten, mit blinden Flecken übersäten Spiegel erkennt man ein Möbel, ein "Gestell", das noch feucht ist von "Tränen, Liebkosung und schmutzigen Träumen"; zu deutsch: ". . . im Spiegel, bewachsen / mit Moos, das Gerät, das vor schlüpfrigen Faxen, / Tränen und Zärtlichkeit triefen muß". Bei dem ominösen "Gerät" dürfte es sich ganz einfach um ein Bett handeln, bei dem "mit Moos bewachsenen" Spiegel um eine Vision des Übersetzers. Bei aller Kritik im Detail: Über weite Strecken ist Nitzberg die Verdeutschung von Brodskys anspruchsvollen Gedichten sehr gelungen.
Joseph Brodsky: "Weihnachtsgedichte". Russisch-deutsch. Aus dem Russischen übersetzt von Alexander Nitzberg. Hanser Verlag, München 2004. 93 S., geb., 12,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 23.12.2004Im Nachtzug
Joseph Brodskys coole Weihnachtslieder
Dichtung lebt von Gelegenheiten; was eine Weisheit ist, die erst in der Nachmoderne wieder so recht zur Geltung kommt. Doch muss der Dichter sich die Gelegenheiten auch schaffen oder setzen. Joseph Brodsky, der erst russische, dann amerikanische Poeta Laureatus, einer der Größten im späten 20. Jahrhundert, hat seit dem Ende der sechziger Jahre alljährlich ein Weihnachtsgedicht geschrieben, bis 1995, ein Jahr vor seinem Tod - und damit den schwierigsten Anlass fürs leichteste Spiel gewählt. Denn Weihnachten, theologisch die Geburt des Herrn Jesus, bürgerlich das Bratapfelfest mit Kinderkitsch und Keksexzess, wo Familiengemeinschaft so nervt wie Einsamkeit weh tut - das ist, als Gelegenheit, wohl so ziemlich die hinderlichste Bedingung für Poesie, die man sich aussuchen kann.
„Drei strickende Omas im Foyer, so/ vertieft in die Leidensgeschichte Jesu./ Der Fernseher dröhnt. Es treibt die Pension/ Accademia NAME KURSIV!]Heiligabend entgegen./ Der Kosmos auch. Mit Jahresbelegen/ steht am Steuer der Mann von der Rezeption.” So beginnt ein Venedig-Canto in vierzehn Stanzen, die das Thema der Heilsgeschichte - von Anfang an eine „Leidensgeschichte” - durch die Winternacht eines einsamen Dandys treiben.
Schon das erste dieser Gedichte, eine lange „Weihnachtsromanze” von 1967, war ein Großstadtgedicht, noch über Leningrad, das vor dem Goldgrund der Heiligen Nacht einen sowjetischen Trauerfries vom heillosen Leben entwarf: „Es treibt in unbekannter Trauer/ ein Sänger durch die Metropole./ Es wacht ein rundgesichtiger Bauer/ beim Schild ,Petroleum und Kohle./ Ein Casanova über achtzig/ ist unermüdlich auf der Lauer./ Es treibt ein frischvermählter Nachtzug/ dahin in unbekannter Trauer.” Die Übersetzung aus dem Russischen von Alexander Nitzberg riskiert viel für diese Lässigkeit, die „achtzig” auf „Nachtzug” reimt, aber sie trifft den Geist des coolen Originals nicht schlecht. Denn es war ja auch eine Frechheit, im Sozialismus von der Weihnacht zu singen.
Im Lauf der Jahre wurde aus dem wohl absichtslos begonnenen Zyklus ein großes Variationsvirtuosenkunstwerk, das immer radikaler an den mystischen Kern des Heilsgeschehens heranrückte. 1989 entwirft Brodsky die Krippe als Elendskulisse aus armseligen Requisiten: „Entzünde ein Streichholz, um dir dann im Hellen/ den Krempel, das Vieh und den Herd vorzustellen./ Vermische die Falten des Tuchs mit den deinen,/ schon siehst du das heilige Paar mit dem Kleinen.” Dann aber folgt etwas, was man sich nur noch vorstellen kann, aber gewiss nicht sehen: „Nun stelle dir Gott vor, wie er sich im Sohne/ des Menschen zum ersten Mal findet: Es betten / ein heimloses Wesen die heimlosen Stätten.” Seit Mandelstam wurde nicht mehr so hoch gegriffen in russischer Poesie. Eine „Flucht nach Ägypten” von 1995 muss eines der letzten Gedichte Brodskys sein. Die Heilige Familie, Maria, Joseph und Jesus finden irgendwo eine Bleibe: „Ein Stern hat über die Schwelle geschaut./ Doch keiner von ihnen war vertraut/ mit der tieferen Ursache dieses Lichts./ Bis auf das Kind - und das sagte nichts.” Der Bänkelsängerton, das Schlagerhafte, mit dem Brodsky uns hier kommt, hat etwas Evangelisches, etwas von kosmopolitischem sermo humilis - für alle, die sich am Heiligen Abend lieber mit einem perlenden Getränk berauschen, als an Zimtsternen überfressen.
GUSTAV SEIBT
JOSEPH BRODSKY: Weihnachtsgedichte. Russisch-Deutsch. Aus dem Russischen von Alexander Nitzberg. Carl Hanser Verlag, München 2004. 95 Seiten, 12,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Joseph Brodskys coole Weihnachtslieder
Dichtung lebt von Gelegenheiten; was eine Weisheit ist, die erst in der Nachmoderne wieder so recht zur Geltung kommt. Doch muss der Dichter sich die Gelegenheiten auch schaffen oder setzen. Joseph Brodsky, der erst russische, dann amerikanische Poeta Laureatus, einer der Größten im späten 20. Jahrhundert, hat seit dem Ende der sechziger Jahre alljährlich ein Weihnachtsgedicht geschrieben, bis 1995, ein Jahr vor seinem Tod - und damit den schwierigsten Anlass fürs leichteste Spiel gewählt. Denn Weihnachten, theologisch die Geburt des Herrn Jesus, bürgerlich das Bratapfelfest mit Kinderkitsch und Keksexzess, wo Familiengemeinschaft so nervt wie Einsamkeit weh tut - das ist, als Gelegenheit, wohl so ziemlich die hinderlichste Bedingung für Poesie, die man sich aussuchen kann.
„Drei strickende Omas im Foyer, so/ vertieft in die Leidensgeschichte Jesu./ Der Fernseher dröhnt. Es treibt die Pension/ Accademia NAME KURSIV!]Heiligabend entgegen./ Der Kosmos auch. Mit Jahresbelegen/ steht am Steuer der Mann von der Rezeption.” So beginnt ein Venedig-Canto in vierzehn Stanzen, die das Thema der Heilsgeschichte - von Anfang an eine „Leidensgeschichte” - durch die Winternacht eines einsamen Dandys treiben.
Schon das erste dieser Gedichte, eine lange „Weihnachtsromanze” von 1967, war ein Großstadtgedicht, noch über Leningrad, das vor dem Goldgrund der Heiligen Nacht einen sowjetischen Trauerfries vom heillosen Leben entwarf: „Es treibt in unbekannter Trauer/ ein Sänger durch die Metropole./ Es wacht ein rundgesichtiger Bauer/ beim Schild ,Petroleum und Kohle./ Ein Casanova über achtzig/ ist unermüdlich auf der Lauer./ Es treibt ein frischvermählter Nachtzug/ dahin in unbekannter Trauer.” Die Übersetzung aus dem Russischen von Alexander Nitzberg riskiert viel für diese Lässigkeit, die „achtzig” auf „Nachtzug” reimt, aber sie trifft den Geist des coolen Originals nicht schlecht. Denn es war ja auch eine Frechheit, im Sozialismus von der Weihnacht zu singen.
Im Lauf der Jahre wurde aus dem wohl absichtslos begonnenen Zyklus ein großes Variationsvirtuosenkunstwerk, das immer radikaler an den mystischen Kern des Heilsgeschehens heranrückte. 1989 entwirft Brodsky die Krippe als Elendskulisse aus armseligen Requisiten: „Entzünde ein Streichholz, um dir dann im Hellen/ den Krempel, das Vieh und den Herd vorzustellen./ Vermische die Falten des Tuchs mit den deinen,/ schon siehst du das heilige Paar mit dem Kleinen.” Dann aber folgt etwas, was man sich nur noch vorstellen kann, aber gewiss nicht sehen: „Nun stelle dir Gott vor, wie er sich im Sohne/ des Menschen zum ersten Mal findet: Es betten / ein heimloses Wesen die heimlosen Stätten.” Seit Mandelstam wurde nicht mehr so hoch gegriffen in russischer Poesie. Eine „Flucht nach Ägypten” von 1995 muss eines der letzten Gedichte Brodskys sein. Die Heilige Familie, Maria, Joseph und Jesus finden irgendwo eine Bleibe: „Ein Stern hat über die Schwelle geschaut./ Doch keiner von ihnen war vertraut/ mit der tieferen Ursache dieses Lichts./ Bis auf das Kind - und das sagte nichts.” Der Bänkelsängerton, das Schlagerhafte, mit dem Brodsky uns hier kommt, hat etwas Evangelisches, etwas von kosmopolitischem sermo humilis - für alle, die sich am Heiligen Abend lieber mit einem perlenden Getränk berauschen, als an Zimtsternen überfressen.
GUSTAV SEIBT
JOSEPH BRODSKY: Weihnachtsgedichte. Russisch-Deutsch. Aus dem Russischen von Alexander Nitzberg. Carl Hanser Verlag, München 2004. 95 Seiten, 12,90 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
"Weit mehr als eine Sammlung thematisch verwandter Gedichte ist diese Lyrikedition in den Augen von Rezensent Felix Philipp Ingold. Vielmehr sieht er darin eine repräsentative Werkauswahl, die dem Leser Joseph Brodskys Schaffen "in höchster Verdichtung und dennoch in voller Breite" vor Augen führt. Zwar stehen laut Ingold im Zentrum des Buchs siebzehn Weihnachtsgedichte, die der bekennende 'schlechte Jude', wie Brodsky sich selbst genannt habe, zwischen 1962 und 1995 geschrieben hat. Weihnachten sei jedoch meist nur der Anlass und nicht das Thema der Gedichte, die an formaler Raffinesse und motivischer Komplexität nach Ansicht des Rezensenten ihresgleichen suchen. Auch finden sich in der Sammlung Romanzen und Wiegenlieder, politisch und biografisch grundierte Gedichte, philosophische und mythologische Lyrik in unterschiedlichsten Vers- und Strophenformen, freut er sich. Nur die Übersetzung von Alexander Nitzberg gefällt ihm nicht immer. Zwar finde dieser oft staunenswerte Entsprechungen für Brodskys Originale, doch manchmal auch nur "allzu angestrengte, unnötig manieriert wirkende Nachahmungen". Doch "aller Kritik im Detail: Über weite Strecken ist Nitzberg die Verdeutschung von Brodskys anspruchsvollen Gedichten sehr gelungen", findet Ingold.
© Perlentaucher Medien GmbH"
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