Ausgezeichnet mit dem Prix Goncourt 2014
Eine alte Frau, die am Fenster ihrer kleinen Wohnung sitzt, hat das Gedächtnis verloren und erzählt ihrer Tochter immer wieder von der einzigen Periode ihres Lebens, die in ihrem Geist lebendig geblieben ist: Montse wächst als Bauerstochter in einem kleinen katalanischen Dorf auf, in einer Welt, die so langsam wie der Schritt der Maulesel ist. Sie soll Dienstmädchen bei dem reichsten Großgrundbesitzer der Gegend werden. Stattdessen folgt sie im Sommer 1936 ihrem älteren Bruder José, der von anarchistischen Ideen beseelt ist, nach Barcelona. Dort entdeckt sie eine Freiheit, die sie schwindeln macht, und erlebt eine leidenschaftliche Liebe. Obwohl ihr Geliebter im Untergrund verschwindet, bleibt dieser kurze Sommer der Anarchie in ihrer Erinnerung für immer als Verzauberung haften. Schwanger kehrt sie in ihr Heimatdorf zurück und lässt sich von ihrer Mutter ausgerechnet mit dem politischen Widersacher ihres Bruders José verheiraten. Bald erschüttern erste Gewalttätigkeiten die Gemeinde, und Montses Familie ist gezwungen, neue Wege zu beschreiten.
Eine alte Frau, die am Fenster ihrer kleinen Wohnung sitzt, hat das Gedächtnis verloren und erzählt ihrer Tochter immer wieder von der einzigen Periode ihres Lebens, die in ihrem Geist lebendig geblieben ist: Montse wächst als Bauerstochter in einem kleinen katalanischen Dorf auf, in einer Welt, die so langsam wie der Schritt der Maulesel ist. Sie soll Dienstmädchen bei dem reichsten Großgrundbesitzer der Gegend werden. Stattdessen folgt sie im Sommer 1936 ihrem älteren Bruder José, der von anarchistischen Ideen beseelt ist, nach Barcelona. Dort entdeckt sie eine Freiheit, die sie schwindeln macht, und erlebt eine leidenschaftliche Liebe. Obwohl ihr Geliebter im Untergrund verschwindet, bleibt dieser kurze Sommer der Anarchie in ihrer Erinnerung für immer als Verzauberung haften. Schwanger kehrt sie in ihr Heimatdorf zurück und lässt sich von ihrer Mutter ausgerechnet mit dem politischen Widersacher ihres Bruders José verheiraten. Bald erschüttern erste Gewalttätigkeiten die Gemeinde, und Montses Familie ist gezwungen, neue Wege zu beschreiten.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 02.03.2016Die Zunge, das Dorf und die Freiheit
In ihrem mit dem Prix Goncourt ausgezeichneten Roman „Weine nicht“ lässt die französische
Autorin Lydie Salvayre ihre Mutter die Zeit des spanischen Bürgerkriegs noch einmal erleben
VON JOSEPH HANIMANN
Im Feuer historischer Ereignisse brennt Privatglück oder Privatleid sich tiefer in die Erinnerung ein. Die neunzigjährige Frau, die in diesem Buch ihrer Tochter ihr Leben erzählt, hat alles vergessen außer den Monaten, in denen sie 1936 während des spanischen Bürgerkriegs vom Mädchen zur jungen Frau wurde. Durch einen Akt der Auflehnung hatte sie sich dem ihr bevorstehenden Kleinbauernschicksal auf dem Dorf entrissen und in Barcelona den Geschmack der Freiheit gekostet. Zwei Jahre Erfüllung und Enttäuschung, von einer Greisin im „Fragnol“ geschildert, jenem Französisch, das auch nach Jahrzehnten des Lebens in Frankreich noch den Klang, den Geschmack, die seltsamen Wortschöpfungen und etwas vierschrötige Ausdrucksweise des spanischen Dorfs in sich trägt.
Die französische Autorin Lydie Salvayre hat in diesem vor zwei Jahren mit dem Goncourt-Preis gekrönten Roman ihrer Mutter ein schönes Denkmal gesetzt. „Ich will nicht als Mädchen für alles zu den Burgos, lieber werde ich Hure in der Stadt!“ – hatte diese als Fünfzehnjährige protestiert, als ihre Mutter sie bei den Großgrundbesitzern im katalanischen Dorf als Magd verdingen wollte. Die revolutionären Flausen ihres älteren Bruders José gegen alle etablierte Ordnung hatten plötzlich auch bei der jungen Montse gezündet. Sie folgte dem Bruder in die Hauptstadt, um auf Seiten der Anarchisten gegen die Nationalisten Francos zu kämpfen, erlebte dort ein paar Wochen rauschhaften Erwachens, entdeckte die Liebe mit einem ausländischen Freiheitskämpfer, der so schnell wieder verschwand, wie er gekommen war. Schwanger kehrte die junge Frau in ihr Dorf zurück und verließ vor dem Sieg der Falangisten noch rechtzeitig das Land, um in Südfrankreich ein siebzig Jahre dauerndes Nachleben anzutreten.
Für die Nacherzählung dieses kurzen Auf- und Verglühens auf der Kippe zwischen spanischer Republik und Diktatur nimmt die französische Schriftstellerin sich alle erdenkliche Freiheit, die der Roman zu bieten vermag. Das reicht von den freien persönlichen Gedankenassoziationen der Zuhörerin über das Hineinmontieren dokumentarischen Materials bis hin zum Spiel mit den Französischfehlern der erzählenden Mutter. Ein kontrapunktisches Gegenecho dazu bilden die Aufzeichnungen „Die großen Friedhöfe unter dem Mond“, die der Schriftsteller Georges Bernanos in jenem Jahr 1936 auf Mallorca über den spanischen Bürgerkrieg verfasste. Der bekennende Katholik und anfängliche Sympathisant Francos beobachtete mit wachsendem Entsetzen die Gewaltexzesse der Falangisten sowie das Absegnen dieser Gräuel durch seine Kirche. Und er nahm es auf sich, öffentlich dagegen zu protestieren.
Im Doppelschein zwischen dem strahlenden Sommer der jungen Montse und den finsteren Betrachtungen des Schriftstellers strickt die Autorin Historisches, Biografisches und Fiktives geschickt ineinander. Anders als heute oft üblich ist dies nicht ein als Roman verkleideter Bericht oder Essay. Die Figuren des ländlich-katholischen Bürgermilieus, des Kleinbauerntums, der jungen anarchistischen Freiheitskämpfer haben Tiefenprofil und Entwicklungsfähigkeit. Die wechselnde Schärfeneinstellung des Erzählfokus zwischen redender Mutter und zuhörender Tochter schafft Komplexität. Situationsschilderungen sind nicht einfach Selbstzweck, die historischen Fakten sind in den Handlungsverlauf verwoben.
So wird die Spannung, die im republikanischen Lager zwischen anarchistischen Draufgängern mit Espadrilles an den Füßen und hartgesottenen kommunistischen Genossen herrscht, in der wachsenden Rivalität zwischen José, dem quirligem Bruder Montses, und ihrem kalt berechnenden späteren Gatten, dem Stalinisten Diego, greifbar. Zu den schönsten Entwicklungen der Romanhandlung gehört, dass ausgerechnet der Großgrundbesitzer Jaime Burgos, der zu Beginn mit einer abschätzigen Bemerkung die Auflehnung der jungen Montse auslöst, sie später als Schwiegertochter ins Haus bekommt und dass zwischen den beiden dann eine heiter-bedrückte Komplizenschaft im Lachen über den traurigen Haushalt und die heraufziehende Diktatur entsteht.
Der Versuchung, zwischen dem mutig gegen sein eigenes Lager anschreibenden Georges Bernanos und Zeitgenossen wie dem überzeugten Franco-Sympathisanten Paul Claudel einen allzu tiefen Graben des politischen Anstands zu ziehen, entgeht die Autorin immer wieder im letzten Moment – nicht zuletzt dank des freien Spiels mit der Romanform und vor allem mit der Sprache.
Dieses schnalzende Fragnol mit seinen lustigen Sinnverzerrungen ins Deutsche zu übersetzen war keine leichte Aufgabe. Abgesehen von einigen Ungeschicklichkeiten in den ersten Kapiteln ist es aber ganz gut gelungen. Die Übersetzung trifft, trotz vereinzelter Ausrutscher („Heu machen“) den richtigen Ton zwischen spontaner Mitteilungsfreude, Witz, Sarkasmus und verhaltener Trauer. Wie durch ein Doppelfernrohr lässt der Roman nun auch im Deutschen in die Tiefe der menschlichen Selbstüberlistungskunst blicken, zwischen historischem Gestern und dem ewig neuen Morgen.
Die Autorin verwebt historische
Fakten in die Romanhandlung
Auf den Straßen von Madrid, 1937: Frauen demonstrieren während der Belagerung der Hauptstadt mit geballter Faust für die Republik.
Foto: SZ Photo
Lydie Salvayre:
Weine nicht. Roman. Aus dem Französischen von
Hanna van Laak. Karl Blessing Verlag, München 2016. 252 Seiten, 19,99 Euro. E-Book 15,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
In ihrem mit dem Prix Goncourt ausgezeichneten Roman „Weine nicht“ lässt die französische
Autorin Lydie Salvayre ihre Mutter die Zeit des spanischen Bürgerkriegs noch einmal erleben
VON JOSEPH HANIMANN
Im Feuer historischer Ereignisse brennt Privatglück oder Privatleid sich tiefer in die Erinnerung ein. Die neunzigjährige Frau, die in diesem Buch ihrer Tochter ihr Leben erzählt, hat alles vergessen außer den Monaten, in denen sie 1936 während des spanischen Bürgerkriegs vom Mädchen zur jungen Frau wurde. Durch einen Akt der Auflehnung hatte sie sich dem ihr bevorstehenden Kleinbauernschicksal auf dem Dorf entrissen und in Barcelona den Geschmack der Freiheit gekostet. Zwei Jahre Erfüllung und Enttäuschung, von einer Greisin im „Fragnol“ geschildert, jenem Französisch, das auch nach Jahrzehnten des Lebens in Frankreich noch den Klang, den Geschmack, die seltsamen Wortschöpfungen und etwas vierschrötige Ausdrucksweise des spanischen Dorfs in sich trägt.
Die französische Autorin Lydie Salvayre hat in diesem vor zwei Jahren mit dem Goncourt-Preis gekrönten Roman ihrer Mutter ein schönes Denkmal gesetzt. „Ich will nicht als Mädchen für alles zu den Burgos, lieber werde ich Hure in der Stadt!“ – hatte diese als Fünfzehnjährige protestiert, als ihre Mutter sie bei den Großgrundbesitzern im katalanischen Dorf als Magd verdingen wollte. Die revolutionären Flausen ihres älteren Bruders José gegen alle etablierte Ordnung hatten plötzlich auch bei der jungen Montse gezündet. Sie folgte dem Bruder in die Hauptstadt, um auf Seiten der Anarchisten gegen die Nationalisten Francos zu kämpfen, erlebte dort ein paar Wochen rauschhaften Erwachens, entdeckte die Liebe mit einem ausländischen Freiheitskämpfer, der so schnell wieder verschwand, wie er gekommen war. Schwanger kehrte die junge Frau in ihr Dorf zurück und verließ vor dem Sieg der Falangisten noch rechtzeitig das Land, um in Südfrankreich ein siebzig Jahre dauerndes Nachleben anzutreten.
Für die Nacherzählung dieses kurzen Auf- und Verglühens auf der Kippe zwischen spanischer Republik und Diktatur nimmt die französische Schriftstellerin sich alle erdenkliche Freiheit, die der Roman zu bieten vermag. Das reicht von den freien persönlichen Gedankenassoziationen der Zuhörerin über das Hineinmontieren dokumentarischen Materials bis hin zum Spiel mit den Französischfehlern der erzählenden Mutter. Ein kontrapunktisches Gegenecho dazu bilden die Aufzeichnungen „Die großen Friedhöfe unter dem Mond“, die der Schriftsteller Georges Bernanos in jenem Jahr 1936 auf Mallorca über den spanischen Bürgerkrieg verfasste. Der bekennende Katholik und anfängliche Sympathisant Francos beobachtete mit wachsendem Entsetzen die Gewaltexzesse der Falangisten sowie das Absegnen dieser Gräuel durch seine Kirche. Und er nahm es auf sich, öffentlich dagegen zu protestieren.
Im Doppelschein zwischen dem strahlenden Sommer der jungen Montse und den finsteren Betrachtungen des Schriftstellers strickt die Autorin Historisches, Biografisches und Fiktives geschickt ineinander. Anders als heute oft üblich ist dies nicht ein als Roman verkleideter Bericht oder Essay. Die Figuren des ländlich-katholischen Bürgermilieus, des Kleinbauerntums, der jungen anarchistischen Freiheitskämpfer haben Tiefenprofil und Entwicklungsfähigkeit. Die wechselnde Schärfeneinstellung des Erzählfokus zwischen redender Mutter und zuhörender Tochter schafft Komplexität. Situationsschilderungen sind nicht einfach Selbstzweck, die historischen Fakten sind in den Handlungsverlauf verwoben.
So wird die Spannung, die im republikanischen Lager zwischen anarchistischen Draufgängern mit Espadrilles an den Füßen und hartgesottenen kommunistischen Genossen herrscht, in der wachsenden Rivalität zwischen José, dem quirligem Bruder Montses, und ihrem kalt berechnenden späteren Gatten, dem Stalinisten Diego, greifbar. Zu den schönsten Entwicklungen der Romanhandlung gehört, dass ausgerechnet der Großgrundbesitzer Jaime Burgos, der zu Beginn mit einer abschätzigen Bemerkung die Auflehnung der jungen Montse auslöst, sie später als Schwiegertochter ins Haus bekommt und dass zwischen den beiden dann eine heiter-bedrückte Komplizenschaft im Lachen über den traurigen Haushalt und die heraufziehende Diktatur entsteht.
Der Versuchung, zwischen dem mutig gegen sein eigenes Lager anschreibenden Georges Bernanos und Zeitgenossen wie dem überzeugten Franco-Sympathisanten Paul Claudel einen allzu tiefen Graben des politischen Anstands zu ziehen, entgeht die Autorin immer wieder im letzten Moment – nicht zuletzt dank des freien Spiels mit der Romanform und vor allem mit der Sprache.
Dieses schnalzende Fragnol mit seinen lustigen Sinnverzerrungen ins Deutsche zu übersetzen war keine leichte Aufgabe. Abgesehen von einigen Ungeschicklichkeiten in den ersten Kapiteln ist es aber ganz gut gelungen. Die Übersetzung trifft, trotz vereinzelter Ausrutscher („Heu machen“) den richtigen Ton zwischen spontaner Mitteilungsfreude, Witz, Sarkasmus und verhaltener Trauer. Wie durch ein Doppelfernrohr lässt der Roman nun auch im Deutschen in die Tiefe der menschlichen Selbstüberlistungskunst blicken, zwischen historischem Gestern und dem ewig neuen Morgen.
Die Autorin verwebt historische
Fakten in die Romanhandlung
Auf den Straßen von Madrid, 1937: Frauen demonstrieren während der Belagerung der Hauptstadt mit geballter Faust für die Republik.
Foto: SZ Photo
Lydie Salvayre:
Weine nicht. Roman. Aus dem Französischen von
Hanna van Laak. Karl Blessing Verlag, München 2016. 252 Seiten, 19,99 Euro. E-Book 15,99 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Das Label "Roman" kann kaum davon ablenken, dass es sich bei "Weine nicht" im Grunde um die Lebensgeschichte der Mutter der Autorin handele, schreibt Rezensent Markus Schwering. Im Mittelpunkt des Buches steht der Ausbruch des spanische Bürgerkriegs 1936, in dem sich Franco-Anhänger, Sozialisten, Kommunisten und Anarchisten gegenüberstehen. Mittendrin: Die 15-jährige Montserrat, genannt "Montse". Schon die Erzählperspektive dieses "atemberaubenden" Romans, die dreifache Brechung der Perspektive, die dadurch entstehe, dass Autorin, Erzählerin und Montserrat allesamt als erzählende Instanzen auftreten, imponiert unserem Rezensenten. Dazu kommt eine "saftige" Sprache und ein ideologiefreier Blick, der dem Leser am Ende verdeutlicht, dass die Republikanischer weniger an Francos Truppen scheiterten als an ihrer eigenen Zerstrittenheit, lobt der Schwering.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Lydie Salvayres Roman ist stark autobiographisch geprägt, die Autorin konstruiert das Leben ihrer eigenen Mutter. Sie erzählt mit Witz, Verve und großer epischer Kraft." Franziska Wolffheim, Brigitte Wir