Marktplatzangebote
14 Angebote ab € 2,20 €
  • Gebundenes Buch

In manchen Erinnerungen mögen wir uns wiegen, andere verfolgen uns unerbittlich. Die einen wie die anderen werden wir vielleicht einmal vergessen, wenn wir in einen neuen Lebensabschnitt treten. Dann werden neue Erinnerungen wichtig, neue Bedeutungen in längst vergessenen Szenen entdeckt, neue Verknüpfungen zwischen ihnen gestiftet. John Kotre hat diese Fähigkeit des autobiographischen Gedächtnisses, den "Text" des Lebens fortdauernd umzuschreiben, über Jahre hinweg eingehend untersucht. Einprägsam und mit einer Fülle von Beispielen führt er in seinem Buch vor Augen, wie wir dem Stoff unseres…mehr

Produktbeschreibung
In manchen Erinnerungen mögen wir uns wiegen, andere verfolgen uns unerbittlich. Die einen wie die anderen werden wir vielleicht einmal vergessen, wenn wir in einen neuen Lebensabschnitt treten. Dann werden neue Erinnerungen wichtig, neue Bedeutungen in längst vergessenen Szenen entdeckt, neue Verknüpfungen zwischen ihnen gestiftet. John Kotre hat diese Fähigkeit des autobiographischen Gedächtnisses, den "Text" des Lebens fortdauernd umzuschreiben, über Jahre hinweg eingehend untersucht. Einprägsam und mit einer Fülle von Beispielen führt er in seinem Buch vor Augen, wie wir dem Stoff unseres Lebens erzählbaren Sinn und Bedeutsamkeit abzugewinnen versuchen. "John Kotres Buch liest sich wie ein Bericht über eine Expedition durch eine kluftenreiche Mentallandschaft." FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.11.1996

New York liegt nicht bei Venedig
John Kotre über die Außenbezirke der Erinnerung / Von Alexandre Métraux

Erkenntnisse über das Gedächtnis zu sammeln ist - gesellschaftspolitisch betrachtet - keine fliegengewichtige Angelegenheit. Da das Erinnerungsvermögen der vor Gericht vernommenen Augenzeugen über den Ausgang von Verfahren entscheiden kann, ist die Frage nicht ganz unterheblich, wie glaubwürdig Erinnerungen eigentlich sind. Da die Gesellschaften nicht vollständig in der Summe der in ihnen gerade lebenden Individuen aufgehen, stellt sich die wiederum nicht belanglose Frage, wie das Geschichtsbewußtsein Traditionen bewahrt und wer diese traditionalen Gehalte für wen verwaltet. Somit hängt die Verwirklichung einer Gesellschaftsordnung, in der sich Konflikte nicht gleich in blutigen Fehden oder gar in Bürgerkriegen entladen sollten, ein bißchen auch vom Erinnerungsvermögen und der Lernfähigkeit ihrer Mitglieder ab.

Da das menschliche Gedächtnis sich in einem ziemlich vertrackten Ensemble von Erscheinungen manifestiert, dem ein noch komplexeres Ensemble neuraler Verrichtungen zugrunde liegt, tut man gut daran, es nicht ganzheitlich zu erforschen. Besser ist es, die abstrahierenden und zergliedernden Verfahren, deren Anwendung zum Beispiel in der Magnetismusforschung die Erkenntnisgewinnung stark befördert hat, zur methodischen Richtlinie in der Gedächtnisforschung zu machen. Jedenfalls ist das Argument, daß sich das Gedächtnis eigentlich gegen das Experimentieren sperre, weil es dem einmalig Menschlichen näher sei als die Gravitationskraft oder die Elektrizität, soviel wert wie ein hohler Weinschlauch.

Dem klugen Gebrauch der Experimentalmethode verdankt sich immerhin die Erkenntnis, daß das Kurzzeitgedächtnis von seinem großen Bruder, dem Langzeitgedächtnis, unterschieden werden muß. Dank dieser Methode wissen wir auch, daß das sogenannte semantische Gedächtnis (zuständig für die Speicherung und den Abruf von Wissensbeständen beispielsweise für das Wissen, daß dreizehn eine Primzahl ist) mit dem Gedächtnis für erworbene motorische Fertigkeiten (wie man zum Beispiel bei geschlossenen Augen eine Gabel zum Mund führt) keineswegs identisch ist. Darauf deuten die verschiedenen Formen pathologischen Gedächtnisverlustes hin: Selbst wenn man in hohem Alter vergessen haben mag, daß New York kein Stadtteil von Venedig ist, geht der Zusammenbruch des semantischen Gedächtnisses zumeist nicht mit einer Amnesie für motorische Fertigkeiten einher.

Beim autobiographischen Gedächtnis stehen die Dinge, wie John Kotre mit viel Schwung an Einzelfallstudien und gedächtnispsychologischen Untersuchungen zeigt, wiederum etwas anders. Diese mnestische Funktion, die dem lebenden Körper des Menschen gleichsam mehrere, aus beweglichen Zeitschlaufen zusammengesetzte Erzählungen einschreibt und ihn auf diese Weise gesellschaftlich unverwechselbar macht, ist auf das Miterzählen anderer Individuen angewiesen. Das lebensgeschichtliche Gedächtnis beginnt um das fünfte Lebensjahr herum, nun wird an autobiographischen Zusammenhängen gebastelt. Das hängt vermutlich damit zusammen, daß der Hippocampus, ein seepferdchenförmiger, für das Riechen ebenso wie für das autobiographische Erinnern essentieller Bereich des Gehirns, erst auf dieser Entwicklungsstufe ungehemmt seinen Verrichtungen nachzugehen vermag. Jedenfalls hat man beobachtet, daß Personen mit einer Schädigung des Hippocampus auf einer Zeitinsel leben, die nur noch den Zeitraum vor der Hirnverletzung füllt: Was sich danach ereignet, hinterläßt so gut wie keine Spuren.

Ohne Krücken und ohne Vergessen kommt das autobiographische Gedächtnis allerdings nicht aus. Die ersten Erinnerungen reichen nicht bis zur Geburt zurück; wie wir heißen und wessen Kinder wir sind, das wissen wir und merken es uns, weil andere bei der variantenreichen Story unserer Lebensgeschichte mitreden. Und damit die überschaubar bleibt, darf das Gedächtnisorgan nicht überfüllt werden. Paradoxerweise ist also das Vergessen eine der Grundbedingungen des Erinnerns.

Das autobiographische Gedächtnis arbeitet übrigens nach gewissen Mustern, die in der Psychologie mit verschiedenen Namen belegt werden. Die lauten "Skripts" oder "Schemata" oder MOPs (für "Memory Organization Packets") oder TOPs (für "Thematic Organization Points"). Wie der Name "Skript" besagt, handelt es sich bei diesen Mustern um drehbuchartige Organisationsprinzipien, die anzeigen, welche Ereignisse im autobiographischen Gedächtnis eher behalten werden sollen als andere. Die Drehbücher legen aber nicht den Wortlaut der Selbstdarstellung fest. Deshalb berichten wir mal so, mal anders über unser Leben, übernehmen von anderen ergänzende Informationen oder dichten unwissentlich etwas hinzu. Das autobiographische Gedächtnis reagiert also ziemlich selbstherrlich, zumeist aber nicht lügnerisch, auf die Umstände und die Personen, die es zu Offenbarungen reizen.

John Kotres Buch liest sich, auch ohne Vorkenntnis gedächtnispsychologischer Theorien, wie ein Bericht über eine Expedition durch eine kluftenreiche Mentallandschaft. Gelegentlich ist die Reise etwas langatmig beschrieben, gelegentlich erlaubt sich der Autor, über Probleme hinwegzuhuschen. So wird an keiner Stelle der Versuch unternommen, die Konstruktion einer autobiographischen Episode durch zwei oder mehrere Personen nachzuzeichnen, obwohl ein solcher Versuch unter relativ einfachen Beobachtungsbedingungen durchgeführt werden könnte. So werden die anderen Menschen als autobiographische Mitautoren, die sie in der Tat sind und die bei der Suche der lebensgeschichtlichen Identität mitwirken, nicht als Mittäter, sondern bloß als mehr oder weniger förderliche Faktoren behandelt.

Wer nicht einsehen kann, daß eine Kindheitserinnerung nicht ganz realitätskonform ist, wenn sie in einem mit den Augen eines Erwachsenen gesehenen Szenario vor dem inneren Auge zur Erscheinung kommt, sollte lieber zu Kotres Buch greifen, bevor er sich entschließt, eine Autobiographie zu schreiben, die den Anspruch der Glaubwürdigkeit hat.

John Kotre: "Weiße Handschuhe". Wie das Gedächtnis Lebensgeschichten schreibt. Aus dem Amerikanischen von Hartmut Schickert. Carl Hanser Verlag, München 1996. 320 S., geb., 39,80 DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr
"John Kotres Buch liest sich wie ein Bericht über eine Expedition durch eine kluftenreiche Mentallandschaft." (Frankfurter Allgemeine Zeitung)