Die 28-jährige Ayami ist Assistentin im einzigen Hörtheater von Seoul, nun wird es für immer geschlossen. Ohne eine Vorstellung davon zu haben, wie ihr Leben künftig aussehen soll, streift sie bis spät in die Nacht mit dem Theaterdirektor durch die Straßen der Stadt, sie suchen nach einer gemeinsamen verschollenen Freundin und sprechen über Lyrik, Teilzeitjobs und die Vergeblichkeit von Liebe. Am nächsten Tag verdingt sie sich als Dolmetscherin eines gerade angereisten Krimiautors, sie sprechen über Literatur, Fotografie und die Vergeblichkeit, in den Norden zu reisen. Und während die Sommerhitze Seoul in einen Tempel betäubender Mattigkeit verwandelt, hält allmählich die Vergangenheit Einzug und lässt die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Traum zerfließen.
Weiße Nacht ist ein flirrender Fiebertraum, in dem wir eine Welt eintauchen, die unter dem Sichtbaren liegt. Eine Welt, in der mehrere Versionen unserer selbst gleichzeitig existieren und die von Schönheit und Güte und Abgründigem bewohnt ist.
Weiße Nacht ist ein flirrender Fiebertraum, in dem wir eine Welt eintauchen, die unter dem Sichtbaren liegt. Eine Welt, in der mehrere Versionen unserer selbst gleichzeitig existieren und die von Schönheit und Güte und Abgründigem bewohnt ist.
Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Rezensent Roman Lach sieht Kafkas Stern leuchten über den Romanen der südkoreanischen Autorin und Übersetzerin Bae Suah. Als Einstieg ins Baes Werk hätte sich der Kritiker zwar ein etwas "zugänglicheres" Werk gewünscht, aber solange nimmt er auch mit diesem Roman, der ihn in die mysteriösen Abgründe Seouls führt, gern Vorlieb. Erzählt wird die Geschichte von Ayami, Angestellte in einem Hörtheater für Blinde, das am letzten Spieltag vor der endgültigen Schließung "Die blinde Eule" des iranischen Schriftstellers Sadek Hedayat gibt. Zugleich begegnet Ayami einem Unbekannten namens Buha, der sie zu bedrohen scheint und den sie immer wieder zu erkennen meint. Wie die Autorin Traum und Realität verschmelzen lässt, findet der Kritiker grandios. Und so kann Lach jedem Leser nur empfehlen, sich auf Baes "surreales" Spiel mit Bildern und Worten einzulassen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.11.2021Erklär uns die jungen Kollegen
Zwischen Lebenden und Toten: In ihrem Roman "Weiße Nacht" schickt die südkoreanische Autorin Bae Suah eine Studentin durch die kafkaeske Stadt Seoul.
Ein weißer Bus rast auf einer Hochstraße durch die Nacht. In einer endlosen Schleife rauscht er durch die Stadt. Im hell erleuchteten Inneren sitzen einige ältere Frauen um einen Tisch herum und lesen eine illustrierte Ausgabe des Kamasutra. Auf der Rückbank sitzt ein Mann in Mönchskutte. Leuchtraketen zeichnen rote Punkte in den schwarzen Himmel. Eine junge Frau beobachtet ihn auf seiner Fahrt. Dann überrollt er vor ihren Augen einen Passanten. Vor Schreck legt sie eine Hand auf ihren Mund. Doch ihr entweicht kein Schrei. Der Bus kommt lautlos zum Stehen. So durchlebt die Protagonistin die Szene im Roman "Weiße Nacht" der südkoreanischen Autorin Bae Suah mehrfach. Mal sitzt auf dem Bus eine weiße Krähe, mal ein kopfloser Hahn. Ob sie träumt, erinnert oder der Unfall sich wirklich so ereignet, erfährt der Leser nicht.
"Weiße Nacht" ist Baes erster auf Deutsch veröffentlichter Roman. Dabei lebte die 1965 in Seoul geborene Autorin bereits in Berlin und Zürich und spricht fließend Deutsch. Koreanischen Lesern ist sie auch bekannt, weil sie Franz Kafka und Christian Kracht ins Koreanische übersetzt. Und als kafkaesk kann man auch "Weiße Nacht" bezeichnen.
Die Geschichte folgt der 28 Jahre alten Ayami bei ihrem letzten Arbeitstag in einem Hörtheater. Es wird am nächsten Tag geschlossen. Sie ist ausgebildete Schauspielerin, kann bislang jedoch nur eine Rolle in einem Kurzfilm eines Studenten vorweisen. Schon am Morgen staut sich in den engen Gassen Seouls die Hitze. Der Wetterbericht meldet 30 Grad und Luftspiegelungen. Die Kerze auf Ayamis Fensterbank schmilzt. Am Theater ist die letzte Vorstellung schlecht besucht, alles scheint so wie immer. Bis Ayami Stimmen aus den Lautsprechern hört. Als sie am Schichtende bereits abgeschlossen hat, taucht ein Mann am Eingang auf. Er stützt sich mit beiden Händen an der Glastür ab. Auf der anderen Seite tut es ihm Ayami gleich, sodass ihre Handflächen auf dem Glas übereinanderliegen. Aus der Nähe beobachtet sie die roten Adern in seinen Augen. Sie hört seine Gedanken. Ayami verliert den Verstand.
Bae hat ihren Roman mit Anspielungen an den Surrealismus gespickt. Mit ihrer Deutschlehrerin liest Ayami den Kurzroman "Die blinde Eule" des iranischen Autors Sadegh Hedayat, der eine opiuminduzierte Traumwelt zeichnet. Der Theaterdirektor sagt über sich selbst, er sei so gewöhnlich, dass er niemals in einem Bild von Max Ernst vorkommen würde. In einem Interview mit der koreanischen Tageszeitung Hanguk Ilbo wurde Bae einmal danach gefragt, wie sie ihre Geschichten verfasse. Die Autorin sagte, dass sie keine Technik habe. Sie arbeite intuitiv und entscheide spontan, wohin sich eine Erzählung entwickle. Manchmal greife sie Sätze auf, die ihr im Traum begegneten.
"Weiße Nacht" ist als Produkt ihres impulshaften Schreibens zu erkennen. Der Roman mutet wie ein verschriftlichtes Gemälde Salvador Dalís an. Am Anfang ist der Leser noch versucht, sich an bestimmten Orten und Protagonisten festzuhalten. Doch immer dann, wenn man denkt, endlich wieder in der linearen Erzählung angekommen zu sein, zerschlägt Bae die Grenze zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Realität und Gedankenwelt. Die Zeit verschmilzt, Personen verschwimmen ineinander. Ayami wandelt zwischen den Lebenden und den Toten. Der Leser verliert mit ihr den Boden unter den Füßen. Orientierungslos treibt man schließlich mit der Protagonistin durch die Nacht. Oder wird es schon wieder hell? Ayami lässt die Reise durch Raum und Zeit teilnahmslos über sich ergehen.
Bae schafft es dennoch, dass der Leser Ayami nahekommt. Er erfährt, was sie lähmt: die Suche nach ihrer Herkunft, die an ein Verbrechen gekoppelt ist. Ayamis Jugend scheint vom Verlust ihrer Familie, von Missbrauch und Gewalt geprägt gewesen zu sein. Flashbacks zu traumatischen Erlebnissen begleiten sie in ihrem Alltag. Die junge Frau ist außerdem von den Anforderungen der spätkapitalistischen Gesellschaft überfordert. Ihr Chef ermutigt sie, sich schnell einen neuen Job zu suchen. Doch Ayami macht keine Anstalten, sich um eine neue Stelle zu bemühen. Sie lebt in den Tag hinein. Die Frage nach einem festen Partner lässt sie unbeantwortet. Sie wacht zwar neben Männern auf, eine emotionale Verbindung baut sie zu ihnen jedoch nicht auf.
Was will Ayami mit ihrem Leben anfangen? Sie weiß es nicht. Lethargisch ergibt sie sich ihrem Schicksal. Ayamis Gemütszustand entspricht dem vieler junger Koreaner. Anders als ihre Eltern, die den wirtschaftlichen Aufstieg des Landes in den Achtzigern mitgestaltet haben, geht es ihnen um mehr als Wohlstand. Sie suchen einen tieferen Sinn - den ihnen die knallharte koreanische Leistungsgesellschaft verweigert.
Vor wenigen Jahren wurde der Ratgeber "Die Generation der Neunziger kommt" in Korea zum Bestseller. Präsident Moon Jae-in verteilte das Buch gar an seine Mitarbeiter. Es erklärt den Älteren, wie sie mit ihren die Arbeitswelt erobernden jüngeren Kollegen umgehen sollen. Der Millennial - das große Mysterium. Dass sie sich nicht mehr nur über ihre beruflichen Erfolge definieren, sorgt in der koreanischen Arbeitswelt für Generationskonflikte. Auf sinnlose Überstunden für einen seelenlosen Großkonzern haben sie keine Lust. Ohnehin sind die horrenden Mieten der Hauptstadt mit einem normalen Einkommen kaum noch zu bestreiten. Auch Ayami lebt in einer Wohnung ohne richtiges Badezimmer. Ihre Ausbildung hat zu keinem nennenswerten Wohlstand, geschweige denn einer Festanstellung, geführt. Ayami verkörpert die Sinnkrise ihrer Generation.
Dem Übersetzer Sebastian Bring ist es gelungen, Baes bildhafte Sprache ins Deutsche zu übertragen. Aus Röcken strömt "der Geruch von reifen Früchten, Zigarettenrauch, feuchter Wärme und Fischeinschlagpapier". In der Hitze Seouls zieht der Schlaf Körper "in einen kochenden Kratersee, randvoll mit klebrigen Ascheflocken und Stücken löchrigen Bimssteins". Als Ayami nachts ein Taxi nimmt, ziehen die Lichter der Stadt "wie in die Länge gezogene Farbbänder vorbei, als seien sie mit offener Blende gefilmt worden". Auch Brings Übersetzung ist es zu verdanken, dass man Ayami auf ihrer surrealen Sinnsuche gerne einen Tag und eine Nacht lang durch das schwüle Seoul begleitet. ANNA SCHILLER
Bae Suah: "Weiße Nacht". Roman.
Aus dem Koreanischen von Sebastian Bring. Suhrkamp Verlag, Berlin 2021. 159 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Zwischen Lebenden und Toten: In ihrem Roman "Weiße Nacht" schickt die südkoreanische Autorin Bae Suah eine Studentin durch die kafkaeske Stadt Seoul.
Ein weißer Bus rast auf einer Hochstraße durch die Nacht. In einer endlosen Schleife rauscht er durch die Stadt. Im hell erleuchteten Inneren sitzen einige ältere Frauen um einen Tisch herum und lesen eine illustrierte Ausgabe des Kamasutra. Auf der Rückbank sitzt ein Mann in Mönchskutte. Leuchtraketen zeichnen rote Punkte in den schwarzen Himmel. Eine junge Frau beobachtet ihn auf seiner Fahrt. Dann überrollt er vor ihren Augen einen Passanten. Vor Schreck legt sie eine Hand auf ihren Mund. Doch ihr entweicht kein Schrei. Der Bus kommt lautlos zum Stehen. So durchlebt die Protagonistin die Szene im Roman "Weiße Nacht" der südkoreanischen Autorin Bae Suah mehrfach. Mal sitzt auf dem Bus eine weiße Krähe, mal ein kopfloser Hahn. Ob sie träumt, erinnert oder der Unfall sich wirklich so ereignet, erfährt der Leser nicht.
"Weiße Nacht" ist Baes erster auf Deutsch veröffentlichter Roman. Dabei lebte die 1965 in Seoul geborene Autorin bereits in Berlin und Zürich und spricht fließend Deutsch. Koreanischen Lesern ist sie auch bekannt, weil sie Franz Kafka und Christian Kracht ins Koreanische übersetzt. Und als kafkaesk kann man auch "Weiße Nacht" bezeichnen.
Die Geschichte folgt der 28 Jahre alten Ayami bei ihrem letzten Arbeitstag in einem Hörtheater. Es wird am nächsten Tag geschlossen. Sie ist ausgebildete Schauspielerin, kann bislang jedoch nur eine Rolle in einem Kurzfilm eines Studenten vorweisen. Schon am Morgen staut sich in den engen Gassen Seouls die Hitze. Der Wetterbericht meldet 30 Grad und Luftspiegelungen. Die Kerze auf Ayamis Fensterbank schmilzt. Am Theater ist die letzte Vorstellung schlecht besucht, alles scheint so wie immer. Bis Ayami Stimmen aus den Lautsprechern hört. Als sie am Schichtende bereits abgeschlossen hat, taucht ein Mann am Eingang auf. Er stützt sich mit beiden Händen an der Glastür ab. Auf der anderen Seite tut es ihm Ayami gleich, sodass ihre Handflächen auf dem Glas übereinanderliegen. Aus der Nähe beobachtet sie die roten Adern in seinen Augen. Sie hört seine Gedanken. Ayami verliert den Verstand.
Bae hat ihren Roman mit Anspielungen an den Surrealismus gespickt. Mit ihrer Deutschlehrerin liest Ayami den Kurzroman "Die blinde Eule" des iranischen Autors Sadegh Hedayat, der eine opiuminduzierte Traumwelt zeichnet. Der Theaterdirektor sagt über sich selbst, er sei so gewöhnlich, dass er niemals in einem Bild von Max Ernst vorkommen würde. In einem Interview mit der koreanischen Tageszeitung Hanguk Ilbo wurde Bae einmal danach gefragt, wie sie ihre Geschichten verfasse. Die Autorin sagte, dass sie keine Technik habe. Sie arbeite intuitiv und entscheide spontan, wohin sich eine Erzählung entwickle. Manchmal greife sie Sätze auf, die ihr im Traum begegneten.
"Weiße Nacht" ist als Produkt ihres impulshaften Schreibens zu erkennen. Der Roman mutet wie ein verschriftlichtes Gemälde Salvador Dalís an. Am Anfang ist der Leser noch versucht, sich an bestimmten Orten und Protagonisten festzuhalten. Doch immer dann, wenn man denkt, endlich wieder in der linearen Erzählung angekommen zu sein, zerschlägt Bae die Grenze zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Realität und Gedankenwelt. Die Zeit verschmilzt, Personen verschwimmen ineinander. Ayami wandelt zwischen den Lebenden und den Toten. Der Leser verliert mit ihr den Boden unter den Füßen. Orientierungslos treibt man schließlich mit der Protagonistin durch die Nacht. Oder wird es schon wieder hell? Ayami lässt die Reise durch Raum und Zeit teilnahmslos über sich ergehen.
Bae schafft es dennoch, dass der Leser Ayami nahekommt. Er erfährt, was sie lähmt: die Suche nach ihrer Herkunft, die an ein Verbrechen gekoppelt ist. Ayamis Jugend scheint vom Verlust ihrer Familie, von Missbrauch und Gewalt geprägt gewesen zu sein. Flashbacks zu traumatischen Erlebnissen begleiten sie in ihrem Alltag. Die junge Frau ist außerdem von den Anforderungen der spätkapitalistischen Gesellschaft überfordert. Ihr Chef ermutigt sie, sich schnell einen neuen Job zu suchen. Doch Ayami macht keine Anstalten, sich um eine neue Stelle zu bemühen. Sie lebt in den Tag hinein. Die Frage nach einem festen Partner lässt sie unbeantwortet. Sie wacht zwar neben Männern auf, eine emotionale Verbindung baut sie zu ihnen jedoch nicht auf.
Was will Ayami mit ihrem Leben anfangen? Sie weiß es nicht. Lethargisch ergibt sie sich ihrem Schicksal. Ayamis Gemütszustand entspricht dem vieler junger Koreaner. Anders als ihre Eltern, die den wirtschaftlichen Aufstieg des Landes in den Achtzigern mitgestaltet haben, geht es ihnen um mehr als Wohlstand. Sie suchen einen tieferen Sinn - den ihnen die knallharte koreanische Leistungsgesellschaft verweigert.
Vor wenigen Jahren wurde der Ratgeber "Die Generation der Neunziger kommt" in Korea zum Bestseller. Präsident Moon Jae-in verteilte das Buch gar an seine Mitarbeiter. Es erklärt den Älteren, wie sie mit ihren die Arbeitswelt erobernden jüngeren Kollegen umgehen sollen. Der Millennial - das große Mysterium. Dass sie sich nicht mehr nur über ihre beruflichen Erfolge definieren, sorgt in der koreanischen Arbeitswelt für Generationskonflikte. Auf sinnlose Überstunden für einen seelenlosen Großkonzern haben sie keine Lust. Ohnehin sind die horrenden Mieten der Hauptstadt mit einem normalen Einkommen kaum noch zu bestreiten. Auch Ayami lebt in einer Wohnung ohne richtiges Badezimmer. Ihre Ausbildung hat zu keinem nennenswerten Wohlstand, geschweige denn einer Festanstellung, geführt. Ayami verkörpert die Sinnkrise ihrer Generation.
Dem Übersetzer Sebastian Bring ist es gelungen, Baes bildhafte Sprache ins Deutsche zu übertragen. Aus Röcken strömt "der Geruch von reifen Früchten, Zigarettenrauch, feuchter Wärme und Fischeinschlagpapier". In der Hitze Seouls zieht der Schlaf Körper "in einen kochenden Kratersee, randvoll mit klebrigen Ascheflocken und Stücken löchrigen Bimssteins". Als Ayami nachts ein Taxi nimmt, ziehen die Lichter der Stadt "wie in die Länge gezogene Farbbänder vorbei, als seien sie mit offener Blende gefilmt worden". Auch Brings Übersetzung ist es zu verdanken, dass man Ayami auf ihrer surrealen Sinnsuche gerne einen Tag und eine Nacht lang durch das schwüle Seoul begleitet. ANNA SCHILLER
Bae Suah: "Weiße Nacht". Roman.
Aus dem Koreanischen von Sebastian Bring. Suhrkamp Verlag, Berlin 2021. 159 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Die koreanische Schriftstellerin Bae Suah entführt uns in ein surreales Seoul.« Roman Lach DIE ZEIT 20211222