Die Herrin des Feuers
Anna Nerkagi gehört dem sibirischen Volk der Nenzen an, das auch heute noch größtenteils in der arktischen Tundra nomadisch von Rentierzucht lebt.
Dieser kleine Roman ist ein Juwel unter den Schriften der Minderheiten-Autoren.
Er verbindet gekonnt Einsichten in das
traditionelle Leben dieses kleinen Volkes mit den Einbrüchen der Moderne, Naturverbundenheit und…mehrDie Herrin des Feuers
Anna Nerkagi gehört dem sibirischen Volk der Nenzen an, das auch heute noch größtenteils in der arktischen Tundra nomadisch von Rentierzucht lebt.
Dieser kleine Roman ist ein Juwel unter den Schriften der Minderheiten-Autoren.
Er verbindet gekonnt Einsichten in das traditionelle Leben dieses kleinen Volkes mit den Einbrüchen der Moderne, Naturverbundenheit und schamanistisches Denken. Für mich ist neben den alten Männern Petko, Wanu und Chawassa und dem jungen Aljoschka das Feuer das zentrale Element. Die Frauen, bis auf Petkos verstorbene Ehefrau und seine Tochter Ilne, die irgendwo weit fort in einer Ortschaft lebt, bleiben namenlos. Wie Aljoschkas Mutter und seine ihm frisch angetraute Ehefrau, die Frauen der beiden anderen Alten und die stumme Tochter Chawassas.
Die Frau ist in der nenzischen Welt Dienerin des Mannes, aber auch die Hüterin des Feuers. Sie ist dem Manne untertan, sein Wort ist Gesetz, ihr Platz ist auf den Bodenbrettern, sie näht und flickt die Felle, sie bereitet den Tee und das Fleisch im Kessel zu, aber: sie ist die Hüterin und Bewahrerin der heiligen Flamme.
Die Geschichte beginnt mit Aljoschkas Hochzeit, die ganz ohne die üblichen Gäste (je mehr, desto besser) vollzogen wird. Seine Mutter hatte die Braut ausgesucht, sie wollte entlastet werden, Enkelkinder haben und den Sohn versorgt wissen. Der sich nur widerstrebend ihren Plänen ergeben hat. Sein Herz gehörte noch immer seiner Jugendliebe Ilne, auf deren Rückkehr er seit sieben Jahren wartete. Aber sie war nicht einmal zur Beerdigung der Mutter erschienen.
Aljoschkas romantischen Liebe: die es in der nenzischen Welt mit seinen harten Lebensbedingungen nicht gab. Erst die sehr späte Einsicht, dass sein Warten vergebens war, dass Ilne nicht zurückkommen würde, ihn vergessen hatte, ließ ihn sein Schicksal akzeptieren. Wie seine Mutter ihm gepredigt hatte: ja, Du kannst die Braut zu ihrer Familie unberührt zurückbringen, aber wer wird für Feuer, Wasser, Tee und Fleisch sorgen? Wer deine Kinder zur Welt bringen, wer wird dann im Alter einsam wie ein Hund sein? Für das Leben braucht man keine Liebe.
Aljoschka sah sich metaphorisch als Grashüpfer, die für die Nenzen das Symbol für ein para- sitäres Leben sind: leben auf Kosten anderer, sie aber lieben die Spinnen, die eifrig webenden, die von ihrer Arbeit leben.
Als Mann in der Blüte seiner Jahre betrat er, wie seinerzeit sein Vater dreimal hüstelnd, den Tschum. Fast demütig sein Schicksal annehmend. Man strauchelt oder kriecht, aber man muss vorwärts kommen, dem „Schlitten der Zeit“ folgen.
Das Alltagsleben, das schamanistische Denken aber auch die Brüche durch die neue Zeit, die moderne Welt werden in klaren Worten lebendig, ganz wunderbar und poetisch auch in den Naturbeschreibungen. Anna Nergaki tariert glasklar den Gegensatz von Gemeinschaft und individuellem Glück aus. Ein Leben, ein Überleben in einer so menschenfeindlichen Natur kann nur in der Gemeinschaft Erfüllung bringen.
In diesen Woken-Zeiten mag dieser Roman feministische Empörung hervorrufen. Denn die Nenzen-Frau ist nicht gleichberechtigt, sieht den Mann als Gebieter und ist doch mächtig, denn ohne sie wäre der Mann nichts. Sie sehen sich nicht als Opfer, sondern als die andere Hälfte, vielleicht die bessere? des Mannes. Denn sie huldigen durch das Feuer dem Altar des Lebens.
Egal, zu welcher Ideologie die Leserin oder der Leser tendieren: es ist ergreifend, in diese fremde Welt einzutauchen mit seiner zarten und doch realistischen Poetik. Ein Geschenk aus einer fremden, fernen, eiskalten und doch „feurigen“ Welt.
Hilf- und lehrreich der Anhang mit den spezifisch nenzischen Begriffen.