Produktdetails
- Verlag: Wieser Verlag
- Deutsch, Albanisch
- Abmessung: 19.5cm x 12cm
- Gewicht: 275g
- ISBN-13: 9783851291643
- ISBN-10: 3851291646
- Artikelnr.: 25173689
- Herstellerkennzeichnung Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.09.1999Die Spuren der Ausgewanderten
Stein, Knochen, Meer: Gedichte des Albaners Martin Camaj
Fragt man Albaner, wen sie für den größten ihrer Dichter halten, fällt immer wieder der Name des 1992 in München verstorbenen Martin Camaj. Das Werk dieses poeta doctus, der wie einst Konstantinos Kavafis viele seiner Gedichte im Selbstverlag und nur für eine handverlesene Schar von Kennern veröffentlichte, ist schmal. Das hängt auch mit dem dreifachen Exil zusammen, in das Camaj geriet und das ihn nötigte, mehr als die Hälfte seiner 67 Jahre in einer Umgebung zu leben, in der fast niemand seine Muttersprache verstand und an seiner Dichtung kaum jemand Interesse hatte. "Ich bin weit fort von denen, die reden wie ich", schrieb er in einem Gedicht, "so weit wie der Mond, der von Strahl zu Strahl fällt / und aus Steintrögen Milch trinkt / die draußen steht, Rahm anzusetzen."
Viele Gedichte Camajs muten verschlossen, hermetisch an, und doch spiegelt sich im Werk wie im Leben dieses Autors die albanische Geschichte unseres Jahrhunderts. Camaj wurde 1925 im nordalbanischen Hochland geboren und, da seine Heimat damals an Mussolinis faschistisches Großreich angeschlossen war, im italienischen Jesuitengymnasium von Skhodra ausgebildet. Als sich Albanien im Jahre 1949 gegenüber dem benachbarten Jugoslawien als stalinistische Vormacht auf dem Balkan zu bewähren suchte, floh er in das Kosovo. Zu Zeiten Titos nämlich, das ist gerade heute in Erinnerung zu rufen, fanden die Albaner im Kosovo zweifellos bessere Lebensverhältnisse vor als in Albanien selbst. Insbesondere, was zivilisatorische Rechte wie die Freiheit der Kunst betrifft, war der Vielvölkerstaat Jugoslawien der Volksrepublik Albanien weit voraus.
Diese von hochangesehenen Autoren wie dem Kroaten Miroslav Krleza oder dem Serben Vasko Popa beglaubigte Freiheit hatte Camaj im Sinn, als er zunächst nach Prishtina flüchtete und dann nach Belgrad übersiedelte. Seine ersten beiden Bücher erschienen in einem kosovarischen Verlag, während ihr Verfasser in Belgrad studierte. Freilich, auch in Jugoslawien war die Unabhängigkeit von Kunst und Wissenschaft periodisch bedroht, und als gerade wieder eine halbamtliche Attacke gegen sie geschlagen wurde, machte sich Camaj neuerlich auf, dieses Mal nach Rom, wo er seine sprachwissenschaftlichen Studien abschloss, Schüler Ungarettis und Chefredakteur einer albanischen Literaturzeitschrift wurde. In Süditalien, muss man wissen, lebt seit 500 Jahren eine albanische Minderheit, die sich selbst "Arbereshe" nennt und von albanischen Dichtern sehr geschätzt wird, weil sich bei ihr die albanische Sprache gewissermaßen in einem früheren, poetischen Zustand ihrer Entwicklung erhalten hat. Von seinem ersten Besuch bei den Arbereshe hielt Camaj im Gedicht fest: "Ich erwachte am Tag der Rückkehr mit einem Kranz / von Worten ohne Sinn in der Hand".
Im Jahre 1961 wurde er an die Universität München berufen, wo er dreißig Jahre lang, zuerst als Lektor, dann als Dozent, schließlich als Ordinarius Albanologie lehrte. Seine Dichtung, anspielungsreich und doch zur Lakonie verknappt, an der romanischen und slawischen Moderne orientiert und dennoch aus der albanischen Mythologie, der oralen Tradition der Märchen und Legenden, Rätsel und Sinnsprüche schöpfend, ist auf ein viergeteiltes Albanien bezogen: auf Albanien selbst, wo zu seinen Lebzeiten keine einzige Zeile von ihm erscheinen durfte (während, beispielsweise, Ismail Kadaré millionenfach verbreitet wurde); auf das Kosovo, zu dem die Verbindungen auch nach seine Emigration nicht abreißen; auf die Arbereshe in Süditalien, denen er manches Gedicht widmet und zu denen er immer wieder reist; und auf die albanische Diaspora in aller Welt. Immer wieder hat Camaj die Gestalt des Fremdlings, des Auswanderers beschworen. Von der "Einsamkeit der Südländerin im Norden" schreibt er: "Sie vergaß daß sie die Füße einst / in Salzwasser gesteckt hatte. Die Augen am Fenster / erzählt sie sich Märchen von Neugeborenen / von Wiegen im verdampfenden Schweiß der Erde / in Olivenhainen".
Den unbehausten, über die Welt gejagten Albaner deutet Camaj im Unterschied zu den meisten albanischen Dichtern jedoch nicht als grimmigen Helden, der sich vom Traum nährt, dereinst wiederzukehren und die Heimat mit dem Schwert zu befreien. Zwar ruft auch er die Mythen an, aber er zollt ihnen keinen martialischen Tribut. Darum verklärt er die Emigranten auch nicht zu unbeugsamen Patrioten, die überall in der Welt nur eines im Sinne haben: Albanien, die große Mutter; vielmehr künden sie ihm von dem Verlust, den sie erlitten und zu dem auch gehört, dass sie vergessen werden und ihre Spuren verschwinden. Ein "Den Auswanderern" gewidmetes Gedicht preist das Ausharren, die stolze Selbstpreisgabe in der Fremde: "Ohne Dach überm Kopf / prahlen sie an endlosen Ufern: / Das Erbe ließen wir den Brüdern / erwarten das Ende im Stehen / stehen nicht mehr auf, wo wir fallen. / Knochen und Gebeine schabt uns das Wetter ab / Fischgräten auf dem Sand / und wir beschwören das geblähte Meer sie zu nehmen! // Und es soll niemand kommen, auf sie deuten / und rufen: Sieh, da sind sie!"
Stein, Knochen, Vogel, Sonne, Feuer, Winter, Meer: Die albanische Lyrik baut ihre Welt aus wenigen, symbolisch gewendeten Leitbegriffen; bei Camaj ist das nicht anders. Das einfache Wort "Stein" etwa schafft ein weiteres Assoziationsfeld, in dem der Stein auch für schroffe Landschaft, unwandelbare Sozialverhältnisse, Kargheit der Natur, beharrlichen Widerstand, für Verschwiegenheit, Stolz, Mut stehen kann. Eine beschränkte Anzahl solcher Worte, die einerseits ihre einfache existentielle Bedeutung haben, andererseits eine verblüffende Vieldeutigkeit gewinnen können, werden in immer neuen Variationen aneinandergefügt. Dadurch wirken diese Gedichte archaisch und modernistisch zugleich, einmal glaubt man einen naiven Erzählton wie aus alten Kinderliedern zu vernehmen, dann wieder scheint das Gedicht sich endgültiger Deutung zu entziehen.
Camaj hat jede Übersetzung seiner Gedichte, der nicht der albanische Originaltext beigefügt wird, untersagt. Weder für Buchausgaben noch für Veröffentlichungen in Zeitschriften ist er von dieser Bedingung je abgegangen, und so dauerte es lange, bis sein Ruhm über die Kreise Eingeweihter hinausdrang. 1985 erschien eine große zweisprachige Sammlung in Palermo und begründete seinen Ruhm in Italien, 1990 kam die "Selected Poetry" in New York heraus. Sieht man von einem kleinen Band aus dem Jahre 1991 ab, liegen die Gedichte Camajs, der nirgendwo so lange gelebt hat wie in München, jetzt erstmals auch in einer deutschen Ausgabe vor. Hans-Joachim Lanksch konnte sie noch in enger Zusammenarbeit mit dem Autor vorbereiten. In einem Brief hatte Camaj einmal geschrieben: "Von der Literatur habe ich alles bekommen, selbst den Willen, zu leben." Von diesem Willen, zu leben, sich zu behaupten und Zeugnis abzulegen, kündet aufs schönste wiederum seine Literatur.
KARL-MARKUS GAUSS
Martin Camaj: "Weißgefiedert wie ein Rabe. Me pendlat e korbit te bardhe". Gedichte. Albanisch-Deutsch. Herausgegeben und aus dem Albanischen übertragen von Hans-Joachim Lanksch. Wieser-Verlag, Klagenfurt 1999. 207 S., geb., 38,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Stein, Knochen, Meer: Gedichte des Albaners Martin Camaj
Fragt man Albaner, wen sie für den größten ihrer Dichter halten, fällt immer wieder der Name des 1992 in München verstorbenen Martin Camaj. Das Werk dieses poeta doctus, der wie einst Konstantinos Kavafis viele seiner Gedichte im Selbstverlag und nur für eine handverlesene Schar von Kennern veröffentlichte, ist schmal. Das hängt auch mit dem dreifachen Exil zusammen, in das Camaj geriet und das ihn nötigte, mehr als die Hälfte seiner 67 Jahre in einer Umgebung zu leben, in der fast niemand seine Muttersprache verstand und an seiner Dichtung kaum jemand Interesse hatte. "Ich bin weit fort von denen, die reden wie ich", schrieb er in einem Gedicht, "so weit wie der Mond, der von Strahl zu Strahl fällt / und aus Steintrögen Milch trinkt / die draußen steht, Rahm anzusetzen."
Viele Gedichte Camajs muten verschlossen, hermetisch an, und doch spiegelt sich im Werk wie im Leben dieses Autors die albanische Geschichte unseres Jahrhunderts. Camaj wurde 1925 im nordalbanischen Hochland geboren und, da seine Heimat damals an Mussolinis faschistisches Großreich angeschlossen war, im italienischen Jesuitengymnasium von Skhodra ausgebildet. Als sich Albanien im Jahre 1949 gegenüber dem benachbarten Jugoslawien als stalinistische Vormacht auf dem Balkan zu bewähren suchte, floh er in das Kosovo. Zu Zeiten Titos nämlich, das ist gerade heute in Erinnerung zu rufen, fanden die Albaner im Kosovo zweifellos bessere Lebensverhältnisse vor als in Albanien selbst. Insbesondere, was zivilisatorische Rechte wie die Freiheit der Kunst betrifft, war der Vielvölkerstaat Jugoslawien der Volksrepublik Albanien weit voraus.
Diese von hochangesehenen Autoren wie dem Kroaten Miroslav Krleza oder dem Serben Vasko Popa beglaubigte Freiheit hatte Camaj im Sinn, als er zunächst nach Prishtina flüchtete und dann nach Belgrad übersiedelte. Seine ersten beiden Bücher erschienen in einem kosovarischen Verlag, während ihr Verfasser in Belgrad studierte. Freilich, auch in Jugoslawien war die Unabhängigkeit von Kunst und Wissenschaft periodisch bedroht, und als gerade wieder eine halbamtliche Attacke gegen sie geschlagen wurde, machte sich Camaj neuerlich auf, dieses Mal nach Rom, wo er seine sprachwissenschaftlichen Studien abschloss, Schüler Ungarettis und Chefredakteur einer albanischen Literaturzeitschrift wurde. In Süditalien, muss man wissen, lebt seit 500 Jahren eine albanische Minderheit, die sich selbst "Arbereshe" nennt und von albanischen Dichtern sehr geschätzt wird, weil sich bei ihr die albanische Sprache gewissermaßen in einem früheren, poetischen Zustand ihrer Entwicklung erhalten hat. Von seinem ersten Besuch bei den Arbereshe hielt Camaj im Gedicht fest: "Ich erwachte am Tag der Rückkehr mit einem Kranz / von Worten ohne Sinn in der Hand".
Im Jahre 1961 wurde er an die Universität München berufen, wo er dreißig Jahre lang, zuerst als Lektor, dann als Dozent, schließlich als Ordinarius Albanologie lehrte. Seine Dichtung, anspielungsreich und doch zur Lakonie verknappt, an der romanischen und slawischen Moderne orientiert und dennoch aus der albanischen Mythologie, der oralen Tradition der Märchen und Legenden, Rätsel und Sinnsprüche schöpfend, ist auf ein viergeteiltes Albanien bezogen: auf Albanien selbst, wo zu seinen Lebzeiten keine einzige Zeile von ihm erscheinen durfte (während, beispielsweise, Ismail Kadaré millionenfach verbreitet wurde); auf das Kosovo, zu dem die Verbindungen auch nach seine Emigration nicht abreißen; auf die Arbereshe in Süditalien, denen er manches Gedicht widmet und zu denen er immer wieder reist; und auf die albanische Diaspora in aller Welt. Immer wieder hat Camaj die Gestalt des Fremdlings, des Auswanderers beschworen. Von der "Einsamkeit der Südländerin im Norden" schreibt er: "Sie vergaß daß sie die Füße einst / in Salzwasser gesteckt hatte. Die Augen am Fenster / erzählt sie sich Märchen von Neugeborenen / von Wiegen im verdampfenden Schweiß der Erde / in Olivenhainen".
Den unbehausten, über die Welt gejagten Albaner deutet Camaj im Unterschied zu den meisten albanischen Dichtern jedoch nicht als grimmigen Helden, der sich vom Traum nährt, dereinst wiederzukehren und die Heimat mit dem Schwert zu befreien. Zwar ruft auch er die Mythen an, aber er zollt ihnen keinen martialischen Tribut. Darum verklärt er die Emigranten auch nicht zu unbeugsamen Patrioten, die überall in der Welt nur eines im Sinne haben: Albanien, die große Mutter; vielmehr künden sie ihm von dem Verlust, den sie erlitten und zu dem auch gehört, dass sie vergessen werden und ihre Spuren verschwinden. Ein "Den Auswanderern" gewidmetes Gedicht preist das Ausharren, die stolze Selbstpreisgabe in der Fremde: "Ohne Dach überm Kopf / prahlen sie an endlosen Ufern: / Das Erbe ließen wir den Brüdern / erwarten das Ende im Stehen / stehen nicht mehr auf, wo wir fallen. / Knochen und Gebeine schabt uns das Wetter ab / Fischgräten auf dem Sand / und wir beschwören das geblähte Meer sie zu nehmen! // Und es soll niemand kommen, auf sie deuten / und rufen: Sieh, da sind sie!"
Stein, Knochen, Vogel, Sonne, Feuer, Winter, Meer: Die albanische Lyrik baut ihre Welt aus wenigen, symbolisch gewendeten Leitbegriffen; bei Camaj ist das nicht anders. Das einfache Wort "Stein" etwa schafft ein weiteres Assoziationsfeld, in dem der Stein auch für schroffe Landschaft, unwandelbare Sozialverhältnisse, Kargheit der Natur, beharrlichen Widerstand, für Verschwiegenheit, Stolz, Mut stehen kann. Eine beschränkte Anzahl solcher Worte, die einerseits ihre einfache existentielle Bedeutung haben, andererseits eine verblüffende Vieldeutigkeit gewinnen können, werden in immer neuen Variationen aneinandergefügt. Dadurch wirken diese Gedichte archaisch und modernistisch zugleich, einmal glaubt man einen naiven Erzählton wie aus alten Kinderliedern zu vernehmen, dann wieder scheint das Gedicht sich endgültiger Deutung zu entziehen.
Camaj hat jede Übersetzung seiner Gedichte, der nicht der albanische Originaltext beigefügt wird, untersagt. Weder für Buchausgaben noch für Veröffentlichungen in Zeitschriften ist er von dieser Bedingung je abgegangen, und so dauerte es lange, bis sein Ruhm über die Kreise Eingeweihter hinausdrang. 1985 erschien eine große zweisprachige Sammlung in Palermo und begründete seinen Ruhm in Italien, 1990 kam die "Selected Poetry" in New York heraus. Sieht man von einem kleinen Band aus dem Jahre 1991 ab, liegen die Gedichte Camajs, der nirgendwo so lange gelebt hat wie in München, jetzt erstmals auch in einer deutschen Ausgabe vor. Hans-Joachim Lanksch konnte sie noch in enger Zusammenarbeit mit dem Autor vorbereiten. In einem Brief hatte Camaj einmal geschrieben: "Von der Literatur habe ich alles bekommen, selbst den Willen, zu leben." Von diesem Willen, zu leben, sich zu behaupten und Zeugnis abzulegen, kündet aufs schönste wiederum seine Literatur.
KARL-MARKUS GAUSS
Martin Camaj: "Weißgefiedert wie ein Rabe. Me pendlat e korbit te bardhe". Gedichte. Albanisch-Deutsch. Herausgegeben und aus dem Albanischen übertragen von Hans-Joachim Lanksch. Wieser-Verlag, Klagenfurt 1999. 207 S., geb., 38,- DM.
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