Nicola Barker erzählt die Geschichte von zwei Männern, die sich - scheinbar zufällig - in London begegnen und die, seltsamerweise, beide Ronny heißen. Der eine Ronny, mit eigenartigen Ritualen beschäftigt, wird von dem anderen, der als Unkrautvernichter bei der Stadt arbeitet, mit in sein Haus an der Küste genommen. Dort treffen sie auf weitere schräge Gestalten: auf einen Pornofotografen, auf zwei Wildschweine züchtende Frauen, und auf Nathan, den Bruder des anderen Ronny, der seine Tage im Fundbüro der Londoner U-Bahn verbringt. Diese höchst kuriosen Außenseiter, die an Figuren von Beckett erinnern, haben alle eines gemeinsam: ein kompliziertes Innenleben.
"Weit offen" ist ein Roman über die Einsamkeit und zugleich ein Roman über die Hoffnung, die Tücken des Lebens zu überwinden, um am Ende bei sich anzukommen.
"Weit offen" ist ein Roman über die Einsamkeit und zugleich ein Roman über die Hoffnung, die Tücken des Lebens zu überwinden, um am Ende bei sich anzukommen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.08.1999Schuld, Sühne und Hasen
Nicola Barker öffnet weit den Sack drastischer Erfindungen
Who the hell is Ronny? Nicola Barkers neuer Ronny heißt eigentlich Jim und isst seine Ravioli nur mit der linken Hand. Er sortiert Muscheln nach Farben und hält in seinen vernarbten Händen sterbende Wespen. Seine Schuhe sind weiß und zwei Nummern zu groß.
Jim heißt eigentlich Ronny, hat keine Haare und salatgrüne Augen. In einem Schutzanzug stapft er durch London und vernichtet Unkraut. Seine Schuhe sind weiß und zwei Nummern zu groß. Irgendwann winkt der eine dem anderen auf der Themsebrücke zu, und die Geschichte der zwei Ronnies geht ihren Gang.
Es ist die Geschichte von Ronny und Nathan, Ronnys und Connie, Ronny und Lily, Ronny und Sara. Ronny ist überall und bei allen. Seine Konturen sind verwaschen, denn er verströmt und verliert sich in einer harschen Strandwelt, wo die Ferienhäuser feucht sind und die Frauen Wildschweine züchten. Mit Küchenmessern schneidet sich Ronny ins Handgelenk, um sich zurückzuholen aus der Leere. Um ihn herum, in einem Fertighaus an der Themsemündung, sammelt sich ein merkwürdiges Grüppchen von Jüngern und Gegnern, eine Schar von Verwundeten und Suchenden, die sich ständig neu ordnet und auflöst. Denn Ronny zeigt keine Wege und lehrt keine Weisheiten. Er ist nur da, hilflos und offen.
In einer Zeit, in der Offensein zu einem Leitbegriff im Tugendkanon der Selbsterfahrung geworden ist, hat Nicola Barker ohne Psychojargon einen beklemmenden, komischen Roman über die Gefährdung der Offenheit und die Sehnsüchte der Verschlossenen geschrieben. In ihren vorhergehenden literarischen Versuchen - einem Roman, einer Erzählung, zwei Sammlungen mit Kurzgeschichten - hat Barker mit ihrem Hang zu burschikoser Phantastik gekämpft: Eine Schwangere entdeckt, dass sie ihren Bauch öffnen kann, und nutzt ihren neuen Trick zum Klauen im Kaufhaus. Oder: Nach dreißig Ehejahren verlässt ein Mann seine Frau, weil sich herausstellt, dass die Spritzigkeit, die er an ihr geschätzt hat, nur die Spätwirkung einer Lebensmittelvergiftung ist. Das klingt munter, aber nachdenkliches Erzählen kommt im Feuerwerk solcher Einfälle nicht zustande.
Auch Barkers neuer Roman "Weit offen" bewegt sich zwischen Groteske und Phantastik, aber es gelingt ihr ein heikles Gleichgewicht zwischen bizarrer Überzeichnung, phantastischer Handlung und einer Ernsthaftigkeit ihren beschädigten, exzentrischen Figuren gegenüber, hinter der ein eindringlicher Erzählwille steht. Dort wo das Geschehen ins Phantastische gleitet, behalten die Orte ihre Namen, die Personen ihre Biographien und ihre alltägliche Redeweise. So kann man ihnen auf den Fersen bleiben, auch wenn die pubertierende Lily auf dem Moorweg ein giftiges Tierchen trifft oder der Fotograf Luke ein pornographisches Malen nach Zahlen entwirft.
Streckenweise drückt "Weit offen" wie ein Albtraum. Eigenartige Geschöpfe bevölkern den Landstrich um die Themsemündung: schwarze Kaninchen, tobende Wildschweine und die schleimige Missgeburt mit den sanften Augen, die Lily den "Kopf" nennt und als Gottheit verehrt. In einem mysteriösen Karton, der von Hand zu Hand geht und schließlich geöffnet wird, haust ein merkwürdiges, hasenartiges Wesen. In einer der anrührendsten Szenen des Buches verirrt es sich in Lilys Küche, schlägt mit verrenktem Köpfchen gegen die Tischbeine und lässt sich willenlos von Lilys Verwandter Connie über die Türschwelle in den Regen fegen.
Auch die Menschen haben tierhafte Züge; sie schwitzen und verdämmern, jagen, kotzen und sinken in Winterschlaf. In ihrer hilflosen Absurdität wirken sie wie lüsterne Versuchskaninchen, an denen sinnlose Testreihen durchgeführt werden. Sie sind schuldunfähig und doch schuldig geworden, ihre Hände sind besudelt.
Ronny hat gemordet und ist aus dem Gefängnis geflohen; er und sein Bruder Nathan, der im Fundbüro Schirme zählt und ihm nicht verzeihen kann, sind als Kinder vom Vater missbraucht worden. Lily lügt und klaut, ihr Vater ist verschwunden. Die ramponierten Lebensgeschicht enwerden jedoch nur angedeutet und nicht für lückenlose Erklärungen ausgeschlachtet. Auch wenn Gründe vorhanden sind, geht nichts völlig auf. Das gilt auch für die Verstehensversuche beim Lesen: Motive lassen sich benennen, Themen wie Schuld, Suche oder Verwundbarkeit einkreisen, aber bis ins Letzte geht die Gleichung nicht auf.
Auch das Verwechslungsspiel zwischen den beiden Ronnys stiftet nicht nur innerhalb des Romans Verwirrung. Bizarrer Mehrwert und die Unschärfe mancher Figuren führen aber nicht zur Ermüdung beim Lesen, sondern zu einer bangen, leicht angewiderten Spannung, weil sie um eine Mitte hin angelegt sind, die Trost verspricht. Die Mitte heißt Ronny. Oder vielleicht Jim. Das Versprechen des Trostes kann er nicht halten, aber er kann vorausgehen ins weit Offene. Ronny stirbt an einem Stückchen gefrorener Butter.
ANNETTE PEHNT
Nicola Barker: "Weit offen". Roman. Aus dem Englischenvon Brigitte Heinrich. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1999. 324 S., geb., 44,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Nicola Barker öffnet weit den Sack drastischer Erfindungen
Who the hell is Ronny? Nicola Barkers neuer Ronny heißt eigentlich Jim und isst seine Ravioli nur mit der linken Hand. Er sortiert Muscheln nach Farben und hält in seinen vernarbten Händen sterbende Wespen. Seine Schuhe sind weiß und zwei Nummern zu groß.
Jim heißt eigentlich Ronny, hat keine Haare und salatgrüne Augen. In einem Schutzanzug stapft er durch London und vernichtet Unkraut. Seine Schuhe sind weiß und zwei Nummern zu groß. Irgendwann winkt der eine dem anderen auf der Themsebrücke zu, und die Geschichte der zwei Ronnies geht ihren Gang.
Es ist die Geschichte von Ronny und Nathan, Ronnys und Connie, Ronny und Lily, Ronny und Sara. Ronny ist überall und bei allen. Seine Konturen sind verwaschen, denn er verströmt und verliert sich in einer harschen Strandwelt, wo die Ferienhäuser feucht sind und die Frauen Wildschweine züchten. Mit Küchenmessern schneidet sich Ronny ins Handgelenk, um sich zurückzuholen aus der Leere. Um ihn herum, in einem Fertighaus an der Themsemündung, sammelt sich ein merkwürdiges Grüppchen von Jüngern und Gegnern, eine Schar von Verwundeten und Suchenden, die sich ständig neu ordnet und auflöst. Denn Ronny zeigt keine Wege und lehrt keine Weisheiten. Er ist nur da, hilflos und offen.
In einer Zeit, in der Offensein zu einem Leitbegriff im Tugendkanon der Selbsterfahrung geworden ist, hat Nicola Barker ohne Psychojargon einen beklemmenden, komischen Roman über die Gefährdung der Offenheit und die Sehnsüchte der Verschlossenen geschrieben. In ihren vorhergehenden literarischen Versuchen - einem Roman, einer Erzählung, zwei Sammlungen mit Kurzgeschichten - hat Barker mit ihrem Hang zu burschikoser Phantastik gekämpft: Eine Schwangere entdeckt, dass sie ihren Bauch öffnen kann, und nutzt ihren neuen Trick zum Klauen im Kaufhaus. Oder: Nach dreißig Ehejahren verlässt ein Mann seine Frau, weil sich herausstellt, dass die Spritzigkeit, die er an ihr geschätzt hat, nur die Spätwirkung einer Lebensmittelvergiftung ist. Das klingt munter, aber nachdenkliches Erzählen kommt im Feuerwerk solcher Einfälle nicht zustande.
Auch Barkers neuer Roman "Weit offen" bewegt sich zwischen Groteske und Phantastik, aber es gelingt ihr ein heikles Gleichgewicht zwischen bizarrer Überzeichnung, phantastischer Handlung und einer Ernsthaftigkeit ihren beschädigten, exzentrischen Figuren gegenüber, hinter der ein eindringlicher Erzählwille steht. Dort wo das Geschehen ins Phantastische gleitet, behalten die Orte ihre Namen, die Personen ihre Biographien und ihre alltägliche Redeweise. So kann man ihnen auf den Fersen bleiben, auch wenn die pubertierende Lily auf dem Moorweg ein giftiges Tierchen trifft oder der Fotograf Luke ein pornographisches Malen nach Zahlen entwirft.
Streckenweise drückt "Weit offen" wie ein Albtraum. Eigenartige Geschöpfe bevölkern den Landstrich um die Themsemündung: schwarze Kaninchen, tobende Wildschweine und die schleimige Missgeburt mit den sanften Augen, die Lily den "Kopf" nennt und als Gottheit verehrt. In einem mysteriösen Karton, der von Hand zu Hand geht und schließlich geöffnet wird, haust ein merkwürdiges, hasenartiges Wesen. In einer der anrührendsten Szenen des Buches verirrt es sich in Lilys Küche, schlägt mit verrenktem Köpfchen gegen die Tischbeine und lässt sich willenlos von Lilys Verwandter Connie über die Türschwelle in den Regen fegen.
Auch die Menschen haben tierhafte Züge; sie schwitzen und verdämmern, jagen, kotzen und sinken in Winterschlaf. In ihrer hilflosen Absurdität wirken sie wie lüsterne Versuchskaninchen, an denen sinnlose Testreihen durchgeführt werden. Sie sind schuldunfähig und doch schuldig geworden, ihre Hände sind besudelt.
Ronny hat gemordet und ist aus dem Gefängnis geflohen; er und sein Bruder Nathan, der im Fundbüro Schirme zählt und ihm nicht verzeihen kann, sind als Kinder vom Vater missbraucht worden. Lily lügt und klaut, ihr Vater ist verschwunden. Die ramponierten Lebensgeschicht enwerden jedoch nur angedeutet und nicht für lückenlose Erklärungen ausgeschlachtet. Auch wenn Gründe vorhanden sind, geht nichts völlig auf. Das gilt auch für die Verstehensversuche beim Lesen: Motive lassen sich benennen, Themen wie Schuld, Suche oder Verwundbarkeit einkreisen, aber bis ins Letzte geht die Gleichung nicht auf.
Auch das Verwechslungsspiel zwischen den beiden Ronnys stiftet nicht nur innerhalb des Romans Verwirrung. Bizarrer Mehrwert und die Unschärfe mancher Figuren führen aber nicht zur Ermüdung beim Lesen, sondern zu einer bangen, leicht angewiderten Spannung, weil sie um eine Mitte hin angelegt sind, die Trost verspricht. Die Mitte heißt Ronny. Oder vielleicht Jim. Das Versprechen des Trostes kann er nicht halten, aber er kann vorausgehen ins weit Offene. Ronny stirbt an einem Stückchen gefrorener Butter.
ANNETTE PEHNT
Nicola Barker: "Weit offen". Roman. Aus dem Englischenvon Brigitte Heinrich. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1999. 324 S., geb., 44,- DM.
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