Ist es ein neuer Anfang, wenn man alles hinter sich lässt? Der neue große Roman von Peter Stamm.
Ein Mann steht auf und geht. Einen Augenblick zögert Thomas, dann verlässt er das Haus, seine Frau und seine Kinder. Mit einem erstaunten Lächeln geht er einfach weiter und verschwindet. Astrid, seine Frau, fragt sich zunächst, wohin er gegangen ist, dann, wann er wiederkommt, schließlich, ob er noch lebt.
Jeder kennt ihn: den Wunsch zu fliehen, den Gedanken, das alte Leben abzulegen, ein anderer sein zu können, vielleicht man selbst. Peter Stamm ist ein Meister im Erzählen jener Träume, die zugleich locken und erschrecken, die zugleich die schönste Möglichkeit und den furchtbarsten Verlust bedeuten. 'Weit über das Land' ist ein Roman, der die alltäglichste aller Fragen stellt: die nach dem eigenen Leben.
Ein Mann steht auf und geht. Einen Augenblick zögert Thomas, dann verlässt er das Haus, seine Frau und seine Kinder. Mit einem erstaunten Lächeln geht er einfach weiter und verschwindet. Astrid, seine Frau, fragt sich zunächst, wohin er gegangen ist, dann, wann er wiederkommt, schließlich, ob er noch lebt.
Jeder kennt ihn: den Wunsch zu fliehen, den Gedanken, das alte Leben abzulegen, ein anderer sein zu können, vielleicht man selbst. Peter Stamm ist ein Meister im Erzählen jener Träume, die zugleich locken und erschrecken, die zugleich die schönste Möglichkeit und den furchtbarsten Verlust bedeuten. 'Weit über das Land' ist ein Roman, der die alltäglichste aller Fragen stellt: die nach dem eigenen Leben.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensentin Rose-Maria Gropp lobt das versierte Erzählen Peter Stamms. Präzise Perspektivwechsel, lakonische Sätze und eine Pointe, die in der langen Schwebe liegt, haben Gropp überzeugt von diesem kleinen Roman über einen verschüttgehenden Familienvater. Oder über dessen zurückbleibende Frau, da ist sich Gropp nicht so sicher. Sicher aber scheint ihr, dass der Autor hier einen unerwarteten Möglichkeitsraum eröffnet, in dem ein braver Sachbearbeiter einfach verschwindet und eine eigentlich patente Frau sich damit arrangiert. Das ist seltsam, meint Gropp, aber auch spannend.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 19.04.2016Langsame Heimkehr
Fernab jeder Aussteiger-Romantik: Peter Stamm schickt in seinem neuen Roman
„Weit über das Land“ einen Mann auf die Flucht vor der vergehenden Zeit
VON CHRISTOPH SCHRÖDER
Nathaniel Hawthornes kurze Erzählung „Wakefield“ handelt von einem Mann, der aus einem plötzlichen Entschluss heraus seine Familie verlässt und sich nicht weit entfernt von seinem Haus eine Wohnung mietet, in der er 20 Jahre lang im Verborgenen lebt, ohne dass es jemandem auffällt. Hawthorne hat dem Fall innerhalb der Erzählung eine vermeintlich realistische Basis verliehen, indem er behauptet, davon in der Zeitung gelesen zu haben.
Auch in Peter Stamms neuem Roman sind die Wirklichkeitsebenen weitaus komplexer, als es auf den ersten Blick erscheint. Und auch hier ist es ein Mann, der geht. Einfach so. Thomas heißt er und ist Mitte 40. Soeben ist er mit seiner Frau Astrid und den beiden Kindern aus dem Sommerurlaub nach Hause gekommen. Es gab keinen Streit und kein Zerwürfnis, „es waren zwei ungewöhnlich harmonische Wochen gewesen.“ Man sieht die Post durch, bringt die Kinder zu Bett, sitzt zusammen auf der Terrasse des gemeinsamen Hauses und trinkt noch ein Glas Wein. Astrid geht nach drinnen, um ihren Koffer auszupacken; Thomas steht auf und läuft los, ohne Marschgepäck, nur mit dem, was er in den Taschen hat.
Peter Stamm ist ein Meister der indirekten Psychologie. Das Innenleben seiner Figuren zeigt sich bei ihm allenfalls in kargen Motivspiegelungen. Thomas bleibt uns also ein Rätsel, wie er sich selbst ein Rätsel bleibt. Was Stamm eindeutig nicht schreiben wollte, ist die klassische Geschichte vom frustrierten Aussteiger. „Weit über das Land“ ist das Gegenteil einer literarischen „Ich war noch niemals in New York“-Romantik. So klar und stringent sich „Weit über das Land“ an der Oberfläche lesen lässt, so komplex und kunstvoll ist das Netz von Möglichkeiten darunter geknüpft. Technisch betrachtet, ist „Weit über das Land“ wahrscheinlich das komplizierteste Buch, das Peter Stamm bislang geschrieben hat. Denn während er Thomas von einer Station zur nächsten streifen lässt (sein Portemonnaie steckte glücklicherweise in der Hosentasche; Geld ist also kein Problem), immer weiter, vom Thurgau aus in Richtung Süden, in Richtung Hochgebirge, erfahren wir parallel dazu, wie Astrid das Leben ohne Thomas gestaltet: erschreckenderweise zunächst so, als sei fast gar nichts geschehen.
Diese Kenntnis allerdings wird nicht von einem allwissenden Erzähler vermittelt; vielmehr sind imaginierte und reale Geschehnisse im Roman von einem frühen Zeitpunkt an nicht mehr zu unterscheiden. Unmerklich gleitet Stamm in der Beschreibung von Astrids Tagesablauf vom Konjunktiv in den Indikativ über; ebenso unauffällig ist jenem Augenblick, der Thomas’ Weggang einleitet, der Halbsatz „Thomas stellte sich vor“ vorangestellt. „Neben all den Gedanken“, so heißt es einmal, „die Astrid in den folgenden Tagen beschäftigten, ließ einer sie nie los: dass das alles nicht wirklich, dass es nur eine von vielen Möglichkeiten war. Manchmal kam es ihr vor, als liege es in ihrer Macht, sich für die eine oder andere dieser Möglichkeiten zu entscheiden.“
Man verkennt Peter Stamm ob seines nüchternen, minimierten Tonfalls oft als Dokumentaristen einer sprachlos-banalen Wirklichkeit, in der seine Figuren sich eingerichtet haben. „Weit über das Land“ ist dagegen in seiner Struktur streng als ein Traumbild komponiert, in dem die Plausibilitätsebenen sich so dezent verschoben haben, dass sie ein nur schwer verbalisierbares Unbehagen hervorrufen. Wer sich hier wen vorstellt; wer hier das Leben des einen ohne den anderen fortspinnt, ist nicht so eindeutig zu bestimmen, wie es die Leserführung zunächst glauben machen will.
Auch darum lässt keiner der Charaktere sich nach moralischen Maßstäben beurteilen. Moral als literarische Kategorie interessiert Stamm nicht. Stattdessen lässt er die Zeit verrinnen, erst allmählich, in langen, gedehnten Tagen, dann immer schneller. Und im Vergehen der Zeit verzweigen sich die Daseinsoptionen der beiden Hauptfiguren immer weiter.
Stamm hat seinem Roman einen Satz von Markus Werner vorangestellt: „Wenn wir uns trennen, bleiben wir uns“, heißt es da. Möglicherweise ist in diesem Zitat ein Hinweis darauf angelegt, was Thomas zum Gehen bewogen hat – nicht weniger als der Versuch, die Zeit zum Stehen zu bringen. Es ist kein Freiheitsdrang, der ihn antreibt, sondern der Wunsch nach tiefer Anwesenheit in der Abwesenheit. Als Astrid einige Zeit nach Thomas’ Verschwinden die Urlaubsfotos durchsieht, erkennt sie ihren Mann allenfalls in der Rückenansicht oder in verwackelten, halb abgeschnittenen Profilaufnahmen. Die Auflösung der Gewissheiten hat bereits viel früher begonnen.
Hawthornes „Wakefield“ kehrt nach exakt 20 Jahren zurück zu seiner Familie, an einem beliebigen Tag; es hätte auch jeder andere sein können. Hawthorne endet mit der Feststellung, dass ein Mensch, der auch nur für einen Augenblick aus dem eingespielten Gefüge ineinander greifender Systeme heraustritt, „sich der fürchterlichen Gefahr aussetzt, seinen Platz für immer zu verlieren“. Und Jorge Luis Borges wiederum schrieb in einem Essay über „Wakefield“: „Seine Heimkehr ist nicht weniger erbärmlich und nicht weniger grässlich als seine lange Abwesenheit.“ In der Ernüchterungszelle der Jetztzeit, in die Peter Stamm, ein Virtuose des doppelbödigen Alltags, seine Figuren einsperrt, wächst die erschreckende Erkenntnis, dass schon der Entwurf der Vorstellung von einem Ausbruch aus dem System von Raum, Zeit und Konvention verheerende Konsequenzen haben kann. Oder, noch schlimmer: gar keine.
Peter Stamm: Weit über das Land. Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2016. 224 Seiten, 19,99 Euro, E-Book 18,99 Euro
Welche Folgen hat der Ausstieg
aus Raum, Zeit und Konvention?
Oder hat er gar keine?
Der Wunsch nach Abwesenheit treibt Thomas ins Gebirge, aber wohin er gegangen ist, können die Zurückgebliebenen nur vermuten. Vielleicht ist er über den Pragelpass nach Muotathal gewandert. Peter Stamm erzählt in „Weit über das Land“ vom so verlockenden wie erschreckenden Traum des Weggehens.
Foto: imago
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Fernab jeder Aussteiger-Romantik: Peter Stamm schickt in seinem neuen Roman
„Weit über das Land“ einen Mann auf die Flucht vor der vergehenden Zeit
VON CHRISTOPH SCHRÖDER
Nathaniel Hawthornes kurze Erzählung „Wakefield“ handelt von einem Mann, der aus einem plötzlichen Entschluss heraus seine Familie verlässt und sich nicht weit entfernt von seinem Haus eine Wohnung mietet, in der er 20 Jahre lang im Verborgenen lebt, ohne dass es jemandem auffällt. Hawthorne hat dem Fall innerhalb der Erzählung eine vermeintlich realistische Basis verliehen, indem er behauptet, davon in der Zeitung gelesen zu haben.
Auch in Peter Stamms neuem Roman sind die Wirklichkeitsebenen weitaus komplexer, als es auf den ersten Blick erscheint. Und auch hier ist es ein Mann, der geht. Einfach so. Thomas heißt er und ist Mitte 40. Soeben ist er mit seiner Frau Astrid und den beiden Kindern aus dem Sommerurlaub nach Hause gekommen. Es gab keinen Streit und kein Zerwürfnis, „es waren zwei ungewöhnlich harmonische Wochen gewesen.“ Man sieht die Post durch, bringt die Kinder zu Bett, sitzt zusammen auf der Terrasse des gemeinsamen Hauses und trinkt noch ein Glas Wein. Astrid geht nach drinnen, um ihren Koffer auszupacken; Thomas steht auf und läuft los, ohne Marschgepäck, nur mit dem, was er in den Taschen hat.
Peter Stamm ist ein Meister der indirekten Psychologie. Das Innenleben seiner Figuren zeigt sich bei ihm allenfalls in kargen Motivspiegelungen. Thomas bleibt uns also ein Rätsel, wie er sich selbst ein Rätsel bleibt. Was Stamm eindeutig nicht schreiben wollte, ist die klassische Geschichte vom frustrierten Aussteiger. „Weit über das Land“ ist das Gegenteil einer literarischen „Ich war noch niemals in New York“-Romantik. So klar und stringent sich „Weit über das Land“ an der Oberfläche lesen lässt, so komplex und kunstvoll ist das Netz von Möglichkeiten darunter geknüpft. Technisch betrachtet, ist „Weit über das Land“ wahrscheinlich das komplizierteste Buch, das Peter Stamm bislang geschrieben hat. Denn während er Thomas von einer Station zur nächsten streifen lässt (sein Portemonnaie steckte glücklicherweise in der Hosentasche; Geld ist also kein Problem), immer weiter, vom Thurgau aus in Richtung Süden, in Richtung Hochgebirge, erfahren wir parallel dazu, wie Astrid das Leben ohne Thomas gestaltet: erschreckenderweise zunächst so, als sei fast gar nichts geschehen.
Diese Kenntnis allerdings wird nicht von einem allwissenden Erzähler vermittelt; vielmehr sind imaginierte und reale Geschehnisse im Roman von einem frühen Zeitpunkt an nicht mehr zu unterscheiden. Unmerklich gleitet Stamm in der Beschreibung von Astrids Tagesablauf vom Konjunktiv in den Indikativ über; ebenso unauffällig ist jenem Augenblick, der Thomas’ Weggang einleitet, der Halbsatz „Thomas stellte sich vor“ vorangestellt. „Neben all den Gedanken“, so heißt es einmal, „die Astrid in den folgenden Tagen beschäftigten, ließ einer sie nie los: dass das alles nicht wirklich, dass es nur eine von vielen Möglichkeiten war. Manchmal kam es ihr vor, als liege es in ihrer Macht, sich für die eine oder andere dieser Möglichkeiten zu entscheiden.“
Man verkennt Peter Stamm ob seines nüchternen, minimierten Tonfalls oft als Dokumentaristen einer sprachlos-banalen Wirklichkeit, in der seine Figuren sich eingerichtet haben. „Weit über das Land“ ist dagegen in seiner Struktur streng als ein Traumbild komponiert, in dem die Plausibilitätsebenen sich so dezent verschoben haben, dass sie ein nur schwer verbalisierbares Unbehagen hervorrufen. Wer sich hier wen vorstellt; wer hier das Leben des einen ohne den anderen fortspinnt, ist nicht so eindeutig zu bestimmen, wie es die Leserführung zunächst glauben machen will.
Auch darum lässt keiner der Charaktere sich nach moralischen Maßstäben beurteilen. Moral als literarische Kategorie interessiert Stamm nicht. Stattdessen lässt er die Zeit verrinnen, erst allmählich, in langen, gedehnten Tagen, dann immer schneller. Und im Vergehen der Zeit verzweigen sich die Daseinsoptionen der beiden Hauptfiguren immer weiter.
Stamm hat seinem Roman einen Satz von Markus Werner vorangestellt: „Wenn wir uns trennen, bleiben wir uns“, heißt es da. Möglicherweise ist in diesem Zitat ein Hinweis darauf angelegt, was Thomas zum Gehen bewogen hat – nicht weniger als der Versuch, die Zeit zum Stehen zu bringen. Es ist kein Freiheitsdrang, der ihn antreibt, sondern der Wunsch nach tiefer Anwesenheit in der Abwesenheit. Als Astrid einige Zeit nach Thomas’ Verschwinden die Urlaubsfotos durchsieht, erkennt sie ihren Mann allenfalls in der Rückenansicht oder in verwackelten, halb abgeschnittenen Profilaufnahmen. Die Auflösung der Gewissheiten hat bereits viel früher begonnen.
Hawthornes „Wakefield“ kehrt nach exakt 20 Jahren zurück zu seiner Familie, an einem beliebigen Tag; es hätte auch jeder andere sein können. Hawthorne endet mit der Feststellung, dass ein Mensch, der auch nur für einen Augenblick aus dem eingespielten Gefüge ineinander greifender Systeme heraustritt, „sich der fürchterlichen Gefahr aussetzt, seinen Platz für immer zu verlieren“. Und Jorge Luis Borges wiederum schrieb in einem Essay über „Wakefield“: „Seine Heimkehr ist nicht weniger erbärmlich und nicht weniger grässlich als seine lange Abwesenheit.“ In der Ernüchterungszelle der Jetztzeit, in die Peter Stamm, ein Virtuose des doppelbödigen Alltags, seine Figuren einsperrt, wächst die erschreckende Erkenntnis, dass schon der Entwurf der Vorstellung von einem Ausbruch aus dem System von Raum, Zeit und Konvention verheerende Konsequenzen haben kann. Oder, noch schlimmer: gar keine.
Peter Stamm: Weit über das Land. Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2016. 224 Seiten, 19,99 Euro, E-Book 18,99 Euro
Welche Folgen hat der Ausstieg
aus Raum, Zeit und Konvention?
Oder hat er gar keine?
Der Wunsch nach Abwesenheit treibt Thomas ins Gebirge, aber wohin er gegangen ist, können die Zurückgebliebenen nur vermuten. Vielleicht ist er über den Pragelpass nach Muotathal gewandert. Peter Stamm erzählt in „Weit über das Land“ vom so verlockenden wie erschreckenden Traum des Weggehens.
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Was dieses Buch so auszeichnet ist seine Lesart der Möglichkeitsformen. Stamm wagt sich etwas, denn er legt sich nicht fest [...]. Die Lektüre lohnt sich allemal. Nicola Steiner Schweizer Radio und Fernsehen, SRF 2 20160225