Franz Reichelt steht 1912, in seinen selbstgebauten Fallschirm gewandet, auf dem Eiffelturm und zögert, sein Atem wölkt sich in der Kälte, in den alten Schwarzweißaufnahmen »pulsieren Chemie und Kratzspuren wie dichter Schneefall«.
Robika, der ein Siebtklässler wäre, wenn er eine Vorstellung von der Zeit hätte und in die Schule ginge, hat eine Obsession: Jede Woche sucht er sich im Laden von Mama Roza sieben weiße Seifen aus. Als der Laden einmal geschlossen ist, fährt Robikas Mutter mit ihrem untröstlichen Kind auf dem Fahrrad in die Stadt. Auf dem Rückweg haben sie einen Unfall, Robika muss geröntgt werden, eine Seife fest in jeder Hand. Aber alles ist gut, und er darf: Weiter atmen!
Ob sie von einer syrischen Flüchtlingsfamilie erzählt, die an der ungarischen Grenze strandet, von Rimbaud und denen, die ihn erforschen, von Liebenden, Kranken und Kindern, von Paris, Rio de Janeiro oder Ungarn - Zsófia Bán erschafft mit wenigen Sätzen, Filmschnitten Figuren, Bilder, innere Landschaften von ungekannter Tiefenschärfe.
Neue Erzählungen von Zsófia Bán - klug und empathisch, subtil und provokant, von assoziativer Phantasie und lakonischer Kühnheit.
Robika, der ein Siebtklässler wäre, wenn er eine Vorstellung von der Zeit hätte und in die Schule ginge, hat eine Obsession: Jede Woche sucht er sich im Laden von Mama Roza sieben weiße Seifen aus. Als der Laden einmal geschlossen ist, fährt Robikas Mutter mit ihrem untröstlichen Kind auf dem Fahrrad in die Stadt. Auf dem Rückweg haben sie einen Unfall, Robika muss geröntgt werden, eine Seife fest in jeder Hand. Aber alles ist gut, und er darf: Weiter atmen!
Ob sie von einer syrischen Flüchtlingsfamilie erzählt, die an der ungarischen Grenze strandet, von Rimbaud und denen, die ihn erforschen, von Liebenden, Kranken und Kindern, von Paris, Rio de Janeiro oder Ungarn - Zsófia Bán erschafft mit wenigen Sätzen, Filmschnitten Figuren, Bilder, innere Landschaften von ungekannter Tiefenschärfe.
Neue Erzählungen von Zsófia Bán - klug und empathisch, subtil und provokant, von assoziativer Phantasie und lakonischer Kühnheit.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Franz Reichelt ist der Erfinder eines Fallschirm-Prototyps, der 1912 dabei gefilmt wurde, wie er sich mit seiner fehlerhaften Erfindung vom Eiffelturm in den Tod stürzte, erinnert Rezensent Tilman Spreckelsen. Es ist kein Zufall, dass dieser Erzählband sowohl ein Foto des Mannes enthält, als auch in einer Geschichte von ihm erzählt, so der Kritiker: Autorin Zsófia Bán zeigt die Figuren in Kippmomenten, die in dem auf der Brüstung zögernd schwankenden Reichelt ideal symbolisiert sind, lobt er. Da auch ihre Sprache unzuverlässig schillert, lässt sie auch den Leser im besten Sinne kippeln, lobt Spreckelsen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.11.2020Wer Seife hat, der fällt nicht aus der Zeit
Auf der Kippe zu stehen ist hier Normalzustand: Zsófia Báns neuer Erzählungsband "Weiter atmen"
Den 4. Februar 1912 sollte Franz Reichelt nicht überleben. Der Schneider aus Paris, der seit zwei Jahren mit der Erfindung eines Fallschirms beschäftigt war, hatte endlich von den Behörden die Erlaubnis erwirkt, sein Werk mit einer lebensgroßen Puppe zu testen, die er von einer Plattform des Eiffelturms werfen wollte. Doch als er, begleitet von Freunden, dort in den Morgenstunden ankommt, befestigt er seinen Fallschirm am eigenen Körper. Er nimmt einen Stuhl zu Hilfe, um auf die Brüstung der Plattform zu kommen. Dann springt er 57 Meter in die Tiefe. Der Fallschirm versagt.
Dass wir uns vom Sprung und seiner unmittelbaren Vorgeschichte ein vergleichsweise klares Bild machen können, liegt an der Anwesenheit gleich mehrerer Kameraleute. Einer von ihnen filmte auf der Plattform selbst. Sieht man sich die Aufnahmen heute an, dann ist am entsetzlichsten nicht der Sprung selbst oder der Moment, in dem der zerschmetterte Körper des Erfinders abtransportiert wird. Nein, es sind jene quälend langen 37 Sekunden, in denen Reichelt auf der schmalen Brüstung steht, bevor er sich hinunterstürzt. Er wiegt den Körper vor und zurück, als wollte er Schwung holen, dann wieder verharrt er, kippelt erneut, und wir, die wir das Ende ja kennen, kommen in dieser halben Minute nicht um die Frage herum: Und wenn er sich nun doch noch anders entscheidet?
Zweimal widmet sich die Autorin Zsófia Bán, Jahrgang 1957, in ihrem Erzählungsband "Weiter atmen", der jetzt zwei Jahre nach dem ungarischen Original auf Deutsch erschienen ist, dem erfinderischen Schneider. Zunächst ist da ein verschwommenes Foto, das Reichelt mit zwei Freunden auf der Plattform zeigt, kurz bevor er von dem Stuhl, auf dem er steht, mit einem Schritt hinüber zur Brüstung gehen wird. Es steht ganz ohne Kommentar zwischen dem ersten und dem zweiten Text von Báns neunzehn Stücke umfassender Sammlung.
Gut hundert Seiten später folgt dann die Erzählung "Fast gut", die noch einmal Reichelts Sprung beschreibt. Dessen filmische Dokumentation von 1912 wurde auf Youtube bereits mehr als fünf Millionen Mal angesehen, und so wie Bán auf ihre Schilderung des Sprungs unmittelbar eine Szene aus dem Budapest unserer Zeit folgen lässt, meint man, einer dieser Filmsichtungen beizuwohnen: Da ist erst vom "in der Kälte zögernde Gesicht von Franz Reichelt" die Rede, "an das wir uns immer erinnern werden", danach heißt es: "Sie hält die auf dem Handy abgespielte Aufnahme an und schaut sich über den Dächern um." Doch was die Angestellte, die nun auf dem Dach eines Budapester Bahnhofs steht, mit dem Handy rezipierte, war kein Film, sondern die Sprachnachricht ihres Freundes, der auf diese Weise mit ihr Schluss gemacht hat. Wieder und wieder hat die Verlassene, die zudem kurz zuvor auch noch von ihrem Chef entlassen worden ist, die Nachricht abgehört, und so wie die Autorin beides über den Anschein der Verbindung beider Sphären, Paris damals und Budapest heute, montiert, meint man auch hier bei der nun Arbeits- und Freundlosen ein Kippeln am Rand des Daches wahrzunehmen.
Das Interesse an genau solchen Momenten, die jäh umschlagen können, ist den Texten dieser Sammlung eingeschrieben, den eher konventionell erzählten ebenso wie den experimentelleren. Denn wo viele Erzählungsbände sehr ähnliche Texte aneinanderreihen, setzt "Weiter atmen" jedes Mal ganz neu an: begonnen mit dem finsteren "Hautatmung" und seiner Analogie zwischen durch Fettauftrag zu verstopfende Froschhaut und dem historischen Bewusstsein des Menschen, das ebenfalls bis zum Absterben behindert werden kann, fortgeführt mit der spielerischen und plötzlich sehr ernsten literarischen Fuge nach einem Thema von Péter Esterházy und beschlossen durch eine Spiegelung der Fluchtwünsche einer ungarischen Philologin im Lebenslauf ihres Forschungsobjekts Arthur Rimbaud.
Besonders diese letzte und mit 33 Seiten auch umfangreichste Geschichte des schmalen Bandes spielt mit den Kippfiguren der Biographien ebenso wie mit der Sehnsucht einzelner Protagonisten nach gesicherten Verhältnissen: Denn die Philologin ist Ende 2010 nach Paris gereist, um mit anderen Forschern die Echtheit eines (auch in der Realität) im April des Jahres entdeckten Fotos zu diskutieren, das angeblich Rimbaud 1880 in Aden zeigt, während sie sich mit dem Flehen ihres sechsjährigen Sohnes auseinandersetzen muss, nicht aus der Familie auszubrechen - drei Jahre zuvor hatte sie sich am Balaton-Strand in eine andere Frau verliebt.
Vor allem aber wird dieser Kippmoment an einzelnen Worten durchgespielt, deren Sinn für einige Protagonisten schillert oder gar nicht mehr zum üblichen Gebrauch passen will. Mit der manchmal geradezu didaktisch ausgestellten Sprachskepsis anderer Autoren haben Báns Erzählungen glücklicherweise nichts zu tun. Stattdessen lässt sie ihre Figuren Umwege zum Verständnis mit anderen finden wie in "Die Voyager-Goldplatte", wo eine verstummte Frau wieder zum Sprechen kommt, in "Torte", wo die Zurückweisung eines Geschenks zum Anlass für Überlegungen zur Kommunikation wird, oder in "Weiter atmen", einer Geschichte um einen Jungen, dem Seifenstücke, jeden Tag eines, zur Orientierung unabdingbar sind und dessen Mutter mit Gleichmut und großer Energie dafür sorgt, dass ihr Kind nicht aus der Zeit fällt.
Man liest sich fest in diesen Geschichten, man kommt an kein Ende auf diesen nicht einmal zweihundert Seiten, und dass die Autorin dem Leser die Hand reicht, um sie ihm souverän wieder zu entziehen, macht die Klasse dieser Sammlung aus. Warum sollte auch ausgerechnet der Leser nicht kippeln dürfen?
TILMAN SPRECKELSEN
Zsófia Bán: "Weiter atmen". Erzählungen.
Aus dem Ungarischen von Terézia Mora. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 173 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Auf der Kippe zu stehen ist hier Normalzustand: Zsófia Báns neuer Erzählungsband "Weiter atmen"
Den 4. Februar 1912 sollte Franz Reichelt nicht überleben. Der Schneider aus Paris, der seit zwei Jahren mit der Erfindung eines Fallschirms beschäftigt war, hatte endlich von den Behörden die Erlaubnis erwirkt, sein Werk mit einer lebensgroßen Puppe zu testen, die er von einer Plattform des Eiffelturms werfen wollte. Doch als er, begleitet von Freunden, dort in den Morgenstunden ankommt, befestigt er seinen Fallschirm am eigenen Körper. Er nimmt einen Stuhl zu Hilfe, um auf die Brüstung der Plattform zu kommen. Dann springt er 57 Meter in die Tiefe. Der Fallschirm versagt.
Dass wir uns vom Sprung und seiner unmittelbaren Vorgeschichte ein vergleichsweise klares Bild machen können, liegt an der Anwesenheit gleich mehrerer Kameraleute. Einer von ihnen filmte auf der Plattform selbst. Sieht man sich die Aufnahmen heute an, dann ist am entsetzlichsten nicht der Sprung selbst oder der Moment, in dem der zerschmetterte Körper des Erfinders abtransportiert wird. Nein, es sind jene quälend langen 37 Sekunden, in denen Reichelt auf der schmalen Brüstung steht, bevor er sich hinunterstürzt. Er wiegt den Körper vor und zurück, als wollte er Schwung holen, dann wieder verharrt er, kippelt erneut, und wir, die wir das Ende ja kennen, kommen in dieser halben Minute nicht um die Frage herum: Und wenn er sich nun doch noch anders entscheidet?
Zweimal widmet sich die Autorin Zsófia Bán, Jahrgang 1957, in ihrem Erzählungsband "Weiter atmen", der jetzt zwei Jahre nach dem ungarischen Original auf Deutsch erschienen ist, dem erfinderischen Schneider. Zunächst ist da ein verschwommenes Foto, das Reichelt mit zwei Freunden auf der Plattform zeigt, kurz bevor er von dem Stuhl, auf dem er steht, mit einem Schritt hinüber zur Brüstung gehen wird. Es steht ganz ohne Kommentar zwischen dem ersten und dem zweiten Text von Báns neunzehn Stücke umfassender Sammlung.
Gut hundert Seiten später folgt dann die Erzählung "Fast gut", die noch einmal Reichelts Sprung beschreibt. Dessen filmische Dokumentation von 1912 wurde auf Youtube bereits mehr als fünf Millionen Mal angesehen, und so wie Bán auf ihre Schilderung des Sprungs unmittelbar eine Szene aus dem Budapest unserer Zeit folgen lässt, meint man, einer dieser Filmsichtungen beizuwohnen: Da ist erst vom "in der Kälte zögernde Gesicht von Franz Reichelt" die Rede, "an das wir uns immer erinnern werden", danach heißt es: "Sie hält die auf dem Handy abgespielte Aufnahme an und schaut sich über den Dächern um." Doch was die Angestellte, die nun auf dem Dach eines Budapester Bahnhofs steht, mit dem Handy rezipierte, war kein Film, sondern die Sprachnachricht ihres Freundes, der auf diese Weise mit ihr Schluss gemacht hat. Wieder und wieder hat die Verlassene, die zudem kurz zuvor auch noch von ihrem Chef entlassen worden ist, die Nachricht abgehört, und so wie die Autorin beides über den Anschein der Verbindung beider Sphären, Paris damals und Budapest heute, montiert, meint man auch hier bei der nun Arbeits- und Freundlosen ein Kippeln am Rand des Daches wahrzunehmen.
Das Interesse an genau solchen Momenten, die jäh umschlagen können, ist den Texten dieser Sammlung eingeschrieben, den eher konventionell erzählten ebenso wie den experimentelleren. Denn wo viele Erzählungsbände sehr ähnliche Texte aneinanderreihen, setzt "Weiter atmen" jedes Mal ganz neu an: begonnen mit dem finsteren "Hautatmung" und seiner Analogie zwischen durch Fettauftrag zu verstopfende Froschhaut und dem historischen Bewusstsein des Menschen, das ebenfalls bis zum Absterben behindert werden kann, fortgeführt mit der spielerischen und plötzlich sehr ernsten literarischen Fuge nach einem Thema von Péter Esterházy und beschlossen durch eine Spiegelung der Fluchtwünsche einer ungarischen Philologin im Lebenslauf ihres Forschungsobjekts Arthur Rimbaud.
Besonders diese letzte und mit 33 Seiten auch umfangreichste Geschichte des schmalen Bandes spielt mit den Kippfiguren der Biographien ebenso wie mit der Sehnsucht einzelner Protagonisten nach gesicherten Verhältnissen: Denn die Philologin ist Ende 2010 nach Paris gereist, um mit anderen Forschern die Echtheit eines (auch in der Realität) im April des Jahres entdeckten Fotos zu diskutieren, das angeblich Rimbaud 1880 in Aden zeigt, während sie sich mit dem Flehen ihres sechsjährigen Sohnes auseinandersetzen muss, nicht aus der Familie auszubrechen - drei Jahre zuvor hatte sie sich am Balaton-Strand in eine andere Frau verliebt.
Vor allem aber wird dieser Kippmoment an einzelnen Worten durchgespielt, deren Sinn für einige Protagonisten schillert oder gar nicht mehr zum üblichen Gebrauch passen will. Mit der manchmal geradezu didaktisch ausgestellten Sprachskepsis anderer Autoren haben Báns Erzählungen glücklicherweise nichts zu tun. Stattdessen lässt sie ihre Figuren Umwege zum Verständnis mit anderen finden wie in "Die Voyager-Goldplatte", wo eine verstummte Frau wieder zum Sprechen kommt, in "Torte", wo die Zurückweisung eines Geschenks zum Anlass für Überlegungen zur Kommunikation wird, oder in "Weiter atmen", einer Geschichte um einen Jungen, dem Seifenstücke, jeden Tag eines, zur Orientierung unabdingbar sind und dessen Mutter mit Gleichmut und großer Energie dafür sorgt, dass ihr Kind nicht aus der Zeit fällt.
Man liest sich fest in diesen Geschichten, man kommt an kein Ende auf diesen nicht einmal zweihundert Seiten, und dass die Autorin dem Leser die Hand reicht, um sie ihm souverän wieder zu entziehen, macht die Klasse dieser Sammlung aus. Warum sollte auch ausgerechnet der Leser nicht kippeln dürfen?
TILMAN SPRECKELSEN
Zsófia Bán: "Weiter atmen". Erzählungen.
Aus dem Ungarischen von Terézia Mora. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 173 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Man liest sich fest in diesen Geschichten, man kommt an kein Ende auf diesen nicht einmal zweihundert Seiten, und dass die Autorin dem Leser die Hand reicht, um sie ihm souverän wieder zu entziehen, macht die Klasse dieser Sammlung aus.« Tilman Spreckelsen Frankfurter Allgemeine Zeitung 20201107