Kirchengast betrachtet in seinem Buch drei Projekte mit modellhaftem Charakter: Max Dudler, Franz Riepl und Jonathan Sergison demonstrieren auf den Maßstabsebenen Dorf, Siedlung und Stadt ein analoges Weiterbauen. Mit ihrer elementaren "Gebautheit", guten Proportionen und dem eleganten Zusammenspiel der Volumina im städtischen Raum verkörpern sie eine Dauerhaftigkeit ohne Allüren und modische Zutaten, die zum sinnfälligen wie selbstverständlichen Hintergrund des alltäglichen Lebens wird. Sie geben dabei nicht nur auf die drängende Frage der Ökologie unseres Zusammenlebens Antwort, sondern liefern einen Ankerpunkt in unserer heterogenen Gestaltungskultur.
Fotos von Hélène Binet, David Schreyer und Stefan Müller sowie historische Illustrationen begleiten das Plädoyer für die gekonnte Architektur der Mitte.
Fotos von Hélène Binet, David Schreyer und Stefan Müller sowie historische Illustrationen begleiten das Plädoyer für die gekonnte Architektur der Mitte.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Hannes Hintermeier scheint Albert Kirchengasts Ansatz nicht verkehrt zu finden, anhand von drei Beispielen für ein überlegtes Weiterbauen statt ständigem Abreißen und Neubauen zu plädieren. Je ein architektonisches Beispiel aus Dorf, Siedlung und Stadt führt der Architekturtheoretiker an: ein vom englischen Architekt Jonathan Sergison für familiäre Zwecke aufgepäppeltes altes Haus im Valle di Muggio, ein vom Österreicher Franz Riepl modernisiertes Wohnquartier aus den 40er Jahren in Linz und ein vom Schweizer Max Dudler konzipiertes Quartier aus Geschäften, Büros und Wohnungen, dass auf gründerzeitliche Bauten in der Umgebung der Kleinstadt Gallneukirchen Bezug nehme, fasst Hintermeier zusammen. Einen gewissen Widerspruch scheint der Kritiker darin festzustellen, dass Kirchengast zwar die "Konkretheit" als Wesen der Architektur beschwöre, dann aber doch vom theoretischen "Hochsitz" her arbeite - mit Namen, die vermutlich nur Kennern etwas sagen. Für Hintermeier am Ende eher ein Plädoyer für eine "phänomenologische Perspektive", schließt er.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.07.2023Gegen den Kreislauf von Abriss und Neubau
Beschäftigung mit grundsätzlichen architektonischen Fragen: Albert Kirchengast plädiert für das Weiterbauen an ausgewähltem Bestand
Verschandelt ist leicht was, sensibles Weiterbauen ist die Ausnahme. Wer durch Österreich fährt, wird dies noch schmerzhafter zur Kenntnis nehmen als im benachbarten Bayern. Und dabei ist im vorliegenden Band noch nicht einmal vom geschmacksbefreiten Einfamilienhaus die Rede, das sich mit Gabionen, Drahtmattenzaun, Kiesbeeten und Edelstahlbalkongeländer in die Schafsherde vermeintlich individueller Bauherren einreiht. Dabei wäre es so wichtig, mit der vorhandenen Substanz sensibel umzugehen, um den von der Bauwirtschaft propagierten Kreislauf von Abriss und Neubau zu durchbrechen.
Der an der brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg lehrende österreichische Architekturtheoretiker Albert Kirchengast will anhand von drei Beispielen zeigen, dass es auch anders geht - im Dorf, in der Siedlung, in der Stadt. Voraussetzung wäre, sich auf den Wesenskern des Bestandes einlassen zu können. Doch Kirchengast weiß: "Fassaden, Geschäfte, Straßenzüge sind kommerziell und spurenlos. Bauten haben eine Halbwertzeit, die jener von Kleidern gleicht."
Der englische Architekt Jonathan Sergison, Jahrgang 1964, ist Teilhaber des Büros Sergison Bates mit Sitz in London und Zürich. Im Tessin hat er für seine Familie ein altes Haus im Valle di Muggio ertüchtigt und in die Gegenwart fortgeschrieben. Sergisons Ausgangsüberlegung ist die Mauer, der hortus conclusus. Mit dieser Urform spielt er souverän in dem Bergdorf in der Nachbarschaft von Mendrisio. Er vermeidet den Gestus, ein Architektenhaus wie ein Ausrufezeichen zu inszenieren. Und obwohl er die Fassade verputzt, womit sich das Haus von den Natursteinmauern der Nachbarn abhebt, fügt es sich ein ins Dorf. Im Inneren orientiert sich Sergison am heimischen Baustil, ohne traditionalistisch zu sein.
Der neunzigjährige Österreicher Franz Riepl hat in Linz ein Wohnquartier aus den Vierzigerjahren auf zeitgenössischen Stand gebracht. Riepl hat seine Wurzeln im ländlichen Bauen (F.A.Z. vom 7. Dezember 2018). Der Wohnhof am Bindermichl im Süden von Linz stammt aus der Zeit des Nationalsozialismus. Herbert Rimpl, Baudirektor der Reichswerke Hermann Göring, errichtete in der "Führerstadt" von 1940 an Industrie- und Wohnanlagen - monumentalen Geschosswohnbau mit siebentausend Wohnungen für dreißigtausend Bewohner, im Zentrum der Bindermichl mit Innenhöfen von hundert mal zweihundert Meter. Nicht mehr fertiggestellt, wurde die Anlage in den Nachkriegsjahren vom "roten" Linz zu Ende gebaut.
Die Wohnanlage, seinerzeit gestaffelt nach Einkommen und Status der Bewohner, sollte nachverdichtet, mit Liften ausgestattet und mit Balkonen aufgewertet werden. Riepl hob das Satteldach an und gewann ein zusätzliches Dachgeschoss, anstelle von Balkonen baute er Loggien und drehte die Ausrichtung um: Die straßenseitige Fassade wendet sich nun der Stadt zu, gelebt wird in Richtung der ruhigen, grünen Innenhöfe.
Der Schweizer Max Dudler, Jahrgang 1949, ist wohl das, was man einen Stararchitekten nennt. Ihm fiel die Aufgabe zu, in der nordöstlich von Linz gelegenen Gemeinde Gallneukirchen ein städtisches Quartier zu planen. Das "One" umfasst im Drittelmix Geschäfte, Büros und Wohnen. Es sollte die Kleinstadt bereichern - und nicht als Fremdkörper verzwergen. Restlos geglückt ist das womöglich nicht, aber Kirchengast wertet Dudlers "korpulentes" Quartier als gelungen, weil es Bezug nehme auf gründerzeitliche Bauten in unmittelbarer Nachbarschaft wie dem Diakonissinnenheim aus Jahr 1909. Fazit: Die Neubauten höben den kleinstädtischen Alltag, seien zurückhaltend und urban.
Die drei Beispiel sollen zeigen, was möglich ist, ohne sich wichtig zu nehmen: Für Kirchengast ist der Gedanke, "dass die Konkretheit Wesen und Ausgangspunkt des Architektonischen" ist, zentral. Er analysiert die mit Bildern und Grundrissen vorgestellten Projekte vom Hochsitz des Architekturtheoretikers aus. Zitiert wird eine ganze Palette von Philosophen, Architekten und Denkmalpflegern, die zum Teil nur Eingeweihten bekannt sein dürften: Hartmut Rosa, Juhani Pallasmaa, Nikolaus Pevsner, Matthew B. Crawford, Soetsu Yanagi, Kenneth Frampton, Emanuele Coccia, Alois Riegl, Martin Boesch, Dagobert Frey. Der sorgsam gestaltete Band verhandelt weniger praktische Fragen denn grundlegende, die jeder Planung vorausgehen sollten. Er wirbt für eine phänomenologische Perspektive, für einen Dialog mit dem, was wir vorfinden. HANNES HINTERMEIER
Albert Kirchengast: "Weiterbauen an Dorf, Siedlung, Stadt". Ein Plädoyer.
Birkhäuser Verlag, Basel 2023. 128 S., Abb., geb., 42,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Beschäftigung mit grundsätzlichen architektonischen Fragen: Albert Kirchengast plädiert für das Weiterbauen an ausgewähltem Bestand
Verschandelt ist leicht was, sensibles Weiterbauen ist die Ausnahme. Wer durch Österreich fährt, wird dies noch schmerzhafter zur Kenntnis nehmen als im benachbarten Bayern. Und dabei ist im vorliegenden Band noch nicht einmal vom geschmacksbefreiten Einfamilienhaus die Rede, das sich mit Gabionen, Drahtmattenzaun, Kiesbeeten und Edelstahlbalkongeländer in die Schafsherde vermeintlich individueller Bauherren einreiht. Dabei wäre es so wichtig, mit der vorhandenen Substanz sensibel umzugehen, um den von der Bauwirtschaft propagierten Kreislauf von Abriss und Neubau zu durchbrechen.
Der an der brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg lehrende österreichische Architekturtheoretiker Albert Kirchengast will anhand von drei Beispielen zeigen, dass es auch anders geht - im Dorf, in der Siedlung, in der Stadt. Voraussetzung wäre, sich auf den Wesenskern des Bestandes einlassen zu können. Doch Kirchengast weiß: "Fassaden, Geschäfte, Straßenzüge sind kommerziell und spurenlos. Bauten haben eine Halbwertzeit, die jener von Kleidern gleicht."
Der englische Architekt Jonathan Sergison, Jahrgang 1964, ist Teilhaber des Büros Sergison Bates mit Sitz in London und Zürich. Im Tessin hat er für seine Familie ein altes Haus im Valle di Muggio ertüchtigt und in die Gegenwart fortgeschrieben. Sergisons Ausgangsüberlegung ist die Mauer, der hortus conclusus. Mit dieser Urform spielt er souverän in dem Bergdorf in der Nachbarschaft von Mendrisio. Er vermeidet den Gestus, ein Architektenhaus wie ein Ausrufezeichen zu inszenieren. Und obwohl er die Fassade verputzt, womit sich das Haus von den Natursteinmauern der Nachbarn abhebt, fügt es sich ein ins Dorf. Im Inneren orientiert sich Sergison am heimischen Baustil, ohne traditionalistisch zu sein.
Der neunzigjährige Österreicher Franz Riepl hat in Linz ein Wohnquartier aus den Vierzigerjahren auf zeitgenössischen Stand gebracht. Riepl hat seine Wurzeln im ländlichen Bauen (F.A.Z. vom 7. Dezember 2018). Der Wohnhof am Bindermichl im Süden von Linz stammt aus der Zeit des Nationalsozialismus. Herbert Rimpl, Baudirektor der Reichswerke Hermann Göring, errichtete in der "Führerstadt" von 1940 an Industrie- und Wohnanlagen - monumentalen Geschosswohnbau mit siebentausend Wohnungen für dreißigtausend Bewohner, im Zentrum der Bindermichl mit Innenhöfen von hundert mal zweihundert Meter. Nicht mehr fertiggestellt, wurde die Anlage in den Nachkriegsjahren vom "roten" Linz zu Ende gebaut.
Die Wohnanlage, seinerzeit gestaffelt nach Einkommen und Status der Bewohner, sollte nachverdichtet, mit Liften ausgestattet und mit Balkonen aufgewertet werden. Riepl hob das Satteldach an und gewann ein zusätzliches Dachgeschoss, anstelle von Balkonen baute er Loggien und drehte die Ausrichtung um: Die straßenseitige Fassade wendet sich nun der Stadt zu, gelebt wird in Richtung der ruhigen, grünen Innenhöfe.
Der Schweizer Max Dudler, Jahrgang 1949, ist wohl das, was man einen Stararchitekten nennt. Ihm fiel die Aufgabe zu, in der nordöstlich von Linz gelegenen Gemeinde Gallneukirchen ein städtisches Quartier zu planen. Das "One" umfasst im Drittelmix Geschäfte, Büros und Wohnen. Es sollte die Kleinstadt bereichern - und nicht als Fremdkörper verzwergen. Restlos geglückt ist das womöglich nicht, aber Kirchengast wertet Dudlers "korpulentes" Quartier als gelungen, weil es Bezug nehme auf gründerzeitliche Bauten in unmittelbarer Nachbarschaft wie dem Diakonissinnenheim aus Jahr 1909. Fazit: Die Neubauten höben den kleinstädtischen Alltag, seien zurückhaltend und urban.
Die drei Beispiel sollen zeigen, was möglich ist, ohne sich wichtig zu nehmen: Für Kirchengast ist der Gedanke, "dass die Konkretheit Wesen und Ausgangspunkt des Architektonischen" ist, zentral. Er analysiert die mit Bildern und Grundrissen vorgestellten Projekte vom Hochsitz des Architekturtheoretikers aus. Zitiert wird eine ganze Palette von Philosophen, Architekten und Denkmalpflegern, die zum Teil nur Eingeweihten bekannt sein dürften: Hartmut Rosa, Juhani Pallasmaa, Nikolaus Pevsner, Matthew B. Crawford, Soetsu Yanagi, Kenneth Frampton, Emanuele Coccia, Alois Riegl, Martin Boesch, Dagobert Frey. Der sorgsam gestaltete Band verhandelt weniger praktische Fragen denn grundlegende, die jeder Planung vorausgehen sollten. Er wirbt für eine phänomenologische Perspektive, für einen Dialog mit dem, was wir vorfinden. HANNES HINTERMEIER
Albert Kirchengast: "Weiterbauen an Dorf, Siedlung, Stadt". Ein Plädoyer.
Birkhäuser Verlag, Basel 2023. 128 S., Abb., geb., 42,- Euro.
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