Die Briefe, die Samuel Beckett zwischen 1929 und 1940 in Irland, England, Frankreich und Deutschland geschrieben hat, vermitteln ein lebendiges und persönliches Bild jener Jahre und ermöglichen es, die allmähliche, tastende Herausbildung des ganz besonderen »Sensoriums« und der einzigartigen literarischen Stimme Becketts - gegen sein eigenes Zaudern, gegen Indifferenz und Ablehnung, die er erfuhr - zu verfolgen. Die auf vier Bände angelegte Ausgabe bietet zum ersten Mal eine umfassende Auswahl der Briefe einer der größten literarischen Figuren des 20. Jahrhunderts. Die Schreiben stammen aus den 60 Jahren, in denen Samuel Beckett als Autor aktiv war (1929-1989). Ausgewählt aus mehr als 15.000 erfaßten Briefen wurden Schreiben an Freunde, Maler und Musiker ebenso wie an Studenten, Verleger, Übersetzer und Kollegen in der literarischen und der Welt des Theaters. Sie werden begleitet von detaillierten Einführungen, Stellenkommentaren, Zeittafeln und Kurzporträts der wichtigsten Briefpartner. Die Briefe dokumentieren Samuel Becketts Entwicklung und sein vielfältiges Schaffen. Darüber hinaus lernen wir - lange nach der Veröffentlichung seiner Werke und viele Jahre nach James Knowlsons Biographie, die bereits aus Briefen zitiert - mit der ersten großen Briefausgabe den Jahrhundertautor noch einmal von einer neuen Seite und mit einem anderen Ton kennen: ebenso spannende wie aufschlußreiche Lektüre; eine Erfahrung sui generis.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Der erste der auf vier Bände angelegten Edition von Briefen Samuel Becketts ist unter dem Titel "Weitermachen ist mehr, als ich tun kann" erschienen, und Rezensent Lothar Müller ist begeistert: Denn trotz zahlreicher Texte von Biografen und Philologen hat der Kritiker während der Lektüre erstmalig das Gefühl, endlich auch den Briefeschreiber Beckett kennenzulernen. Und so erfährt Müller nicht nur, wie der diskrete und im sozialen Umgang wortkarge Beckett in den Briefen eine ihm gemäße Form der Kommunikation entwickelt, sondern er entdeckt auch immer wieder Passagen voller Sarkasmen, Wortspielen und Anspielungen auf Literatur, Kunst und Musik, die zum Verständnis von Becketts literarischem Werks beitragen. Vor allem erscheint Beckett dem Rezensenten in diesen Briefen aus den Jahren 1929 bis 1940 als Verwandter Belacquas, der noch nicht weiß, dass er dem Fegefeuer entgehen wird: Der noch erfolglose Autor rechne hier sarkastisch mit sich selbst ab und berichte dramatisch von körperlichen Beschwerden und nächtlichen Panikattacken, so Müller. Neben Ausführungen über seine Psychoanalyse bei Wilfred Rupert Brion und den Niederschriften seiner Deutschland-Reise liest der Kritiker auch zahlreiche Spitzen gegen bedeutende Maler, Komponisten und Schriftsteller. Sein Urteil: Ein aufschlussreiches Selbstporträt des Künstlers als junger Mann, in dem man lernt wie Beckett zu Beckett wurde.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.05.2013O, wie tief ist doch die Erde
Er wütet gegen sich selbst, hat kein Geld, saugt Bücher, Bilder und Musik in sich auf und hadert mit Verlegern: Im ersten
Band der Auswahl aus seinen Briefen ist Samuel Beckett in den Jahren von 1929 bis 1940 auf dem Weg zu sich selbst
VON LOTHAR MÜLLER
Am 6. Januar 1938 wurde Samuel Beckett in Paris fast erstochen. Ihm war in Begleitung von Freunden auf der Avenue d’Orléans von einem Unbekannten, der die Gruppe angerempelt hatte, bei dem anschließenden Handgemenge mit dem Messer eine Verletzung beigebracht worden, deren Schwere Beckett erst erkannte, als er beim Betreten der Wohnung seiner Freunde den Mantel öffnete.
Beckett wurde ins Hôpital Broussais gebracht, wo er etwa zwei Wochen lang bleiben musste. In dem Krankenhaus war der Dichter Paul Verlaine mehrfach gewesen und hatte darüber in „Mes Hôpitaux“ (1891, Meine Spitäler) und anderen Büchern geschrieben. „Das hier war Verlaines Krankenhaus, oder?“, schreibt Beckett am 21. Januar 1938 an seinen Freund Thomas McGreevy nach London. Gerade hat er mit der Lektüre des Romans „Oblomow“ von Iwan Gontscharow begonnen, der Apotheose des untätigen Menschen. Der lateinische Fluch, den ihm das entlockt, lässt aufhorchen: „Pereant qui ante nos nostra dixunt!“, Tod denen, die das Unsere vor uns sagten!
Der Absolvent des Trinity College in Dublin flucht so gelehrt, weil er gerade an den Fahnenkorrekturen seines Romans „Murphy“ sitzt. Murphy ist ein schachspielendes Monstrum der Untätigkeit, das sich selbst an einen Schaukelstuhl gefesselt hat. Nun schreibt er, nachdem ihm Gontscharows Roman einen Stich versetzt hat: „Am Ende ödet er mich ziemlich an, Murphy O’Blomov.“
Nichts an den Umständen, von denen diese Episode gerahmt wird, ist unbekannt. In James Knowlsons großer Samuel Beckett-Biografie und unzähligen Spezialstudien ist die Messer-Attacke enthalten, ebenso die langwierige Publikationsgeschichte von „Murphy“. Und dennoch öffnet sich mit diesem ersten der auf vier Bände angelegten großen Auswahl aus den Briefen Becketts eine neue Dimension. Sie sind nun nicht mehr nur Quellenmaterial der Biografen und Philologen, sondern es tritt hier eine Figur vor das Publikum, die bisher im Schatten des Dramatikers, Romanciers und Essayisten Beckett stand: der Briefschreiber.
Briefe, so legt es eine alte, aus der Antike stammende Lesart nahe, sind halbierte Dialoge, sie ersetzen das Gespräch mit dem abwesenden Adressaten. Das ist aber selbst nur die halbe Wahrheit. Denn aus der Abwesenheit des Adressaten folgt: Jeder Brief ist, auch dort, wo er das Gespräch mit dem Gegenüber sucht, ein Monolog. Der Schreibende ist mit sich allein und kann von seinem Gegenüber nicht unterbrochen werden. In ihnen hat der Schreiber immer das letzte Wort.
Samuel Beckett, zumal der späte Beckett, ist berühmt für seine Diskretion im sozialen Umgang, als lakonisch-wortkarger Künstler, der alle Kommunikation in melancholischen Slapsticks über dem Abgrund des Schweigens balancieren ließ, geistert er durch die Nachwelt. Er hat aber über 15 000 Briefe geschrieben, so viele sind bisher aufgefunden worden. Viele sind Kinder der Höflichkeit, die ihn, auch als er längst berühmt war, die immer zahlreicher werdenden Zuschriften meist rasch beantworten ließ. Aber das kann nicht alles sein. Beckett muss im Brief eine ihm gemäße Form des Schreibens, der Kommunikation aus der Abwesenheit heraus gefunden und kultiviert haben.
Im Jahr 1985 hatte Beckett einer Veröffentlichung seiner Briefe unter der Voraussetzung zugestimmt, dass dies erst nach seinem Tod geschehen würde. Er starb im Dezember 1989, und warum es zwanzig Jahre dauerte, bis 2009 die Originalausgabe dieses ersten Bandes erscheinen konnte, legen die Herausgeber in ihrer Einführung ausführlich dar. Verlags- und Herausgeberwechsel spielten dabei eine Rolle, entscheidend aber war die Bedingung, mit der Beckett seine Zustimmung zur Publikation in einem Brief an die Herausgeberin Martha Dow Rosenfeld im März 1985 eingeschränkt hatte.
Er verlangte die „Reduktion auf solche Passagen, die für mein Schaffen von Belang sind“. Darin lag Konfliktstoff, in doppelter Hinsicht. Zum einen: Wo war die Grenze zu ziehen? Was hat in den Augen einer Nachwelt, die bei einem bedeutenden Autor nichts für unbedeutend hält, keinen Bezug zu seinem Schaffen, was ist nicht in irgendeiner Hinsicht aufschlussreich? Kaum etwas. Die moderne Editionsphilologie ist gefräßig, sie will sich nichts entgehen lassen. Und zum zweiten: Die Briefe, die Beckett hinterlassen hat, enthalten so viele glänzende Passagen voller Sarkasmen, Wortspiel, Invektiven, Anspielungen auf Literatur, Kunst und Musik, dass sie auf Schritt und Tritt ihrem Autor widersprechen. Sie sind nicht nur als Verständnishilfe „für sein Schaffen von Belang“, sie lassen sich als Teil des Werks selbst lesen. Gerade dort, wo ihr Stoff das Scheitern, das Versiegen des Schreibens ist, laufen sie zu literarischer Hochform auf.
Jérôme Lindon, Verleger des Verlags Les Éditions de Minuit in Paris und Nachlassverwalter Becketts, wollte nur Briefe publizieren, die explizit auf einzelne Werke oder das Gesamtschaffen Becketts eingingen. Erst nach seinem Tod setzten sich die Herausgeber dieser Edition mit ihrem umfassenderen Anspruch durch. Eine Auswahl ist dies dennoch. Nur 2500 Briefe der insgesamt 15 000 wird diese vierbändige Edition am Ende erhalten, 5000 weitere werden in den Anmerkungen zitiert, die mit ihrer verlässlichen Identifizierung von Orten, Personen und Ereignissen eine notwendige Voraussetzung der Lektüre sind, ohne die man viele Pointen nicht verstünde.
Über die Krankenschwestern im Hôpital Broussais schreibt Beckett: „Eine besonders ist eine geborene Komödiantin – Bückt sich umständlich, um etwas aufzunehmen & sagt: ,Ah, que la terre est basse‘. Ein spontaner Halbvers.“ Man kann diesen Satz über die Krankenschwester und ihren Halbvers („O wie tief ist doch die Erde!“) kaum lesen, ohne dass einem Becketts spätere Bühnenfiguren in den Sinn kommen.
Aber Beckett ist hier noch nicht berühmt. Zwischen 1929 und 1940 ist er weitgehend erfolglos, hat ständig Geldnöte, ist abhängig von seinem Bruder und seiner Mutter, das Ausmaß seiner Lektüre überschreitet den Umfang seiner Produktion um ein Vielfaches. Er schreibt einige Rezensionen, bringt Gedichte unter, sein Essay über Marcel Proust wird im März 1931 veröffentlicht, ebenso der Erzählungsband „More Pricks than Kicks“ (1934) („Mehr Prügel als Flügel“), aber ein Durchbruch ist das alles nicht.
Aus Dantes „Purgatorio“ hat er sich für „More Pricks than Kicks“ die Figur des Belacqua ausgeliehen, dem viele Untätige und hoffnungslos Wartende folgen werden. Der Briefeschreiber dieses Jahrzehnts zwischen 1929 und 1940 ist ein Verwandter Belacquas, der nicht weiß, dass er selbst dem Purgatorio entkommen wird. Rückblickend entsteht hier das Bild einer Inkubationszeit vor den Nachkriegsjahren, in denen Beckett unerhört produktiv war und berühmt wurde. Wenn man liest, wie er sarkastisch mit sich selbst abrechnet, Ablehnungen mit der Verballhornung von Verlagsnamen beantwortet, nächtliche Panikattacken und körperliche Beschwerden notiert, ahnt man den Dramatiker (und Lobredner) des Scheiterns. Eine paradoxe Formel Robert Musils könnte über diesen Jahren stehen: „aktive Passivität“, definiert als „das Warten des Gefangenen auf die Gelegenheit zum Ausbruch“. Eine dieser Warteschleifen dreht er in den Jahren 1934/35 in London, er absolviert dort eine Psychoanalyse bei Wilfred Rupert Brion, mit dem er im Oktober 1935 eine Gastvorlesung von C. G. Jung hört: „Er beharrt so vehement darauf, daß er kein Mystiker ist, dass er zur allernebulösesten Sorte gehören muss“.
Bei dem Dozenten Thomas Rudmose-Brown („Ruddy“) hat der junge Beckett französische Sprache und Literatur studiert, der Lehrer hätte ihm gerne eine akademische Karriere eröffnet. Wenn die Resignation des Briefschreibers groß ist, erwägt er diese Option, zum Beispiel, als er sich im Sommer 1937 für eine Dozentur in Kapstadt bewirbt – erfolglos. Einen Ausbruchsversuch, der ins stalinistische Moskau ein Jahr vor dem großen Terrorjahr 1937 geführt hätte, hält ein Brief vom März 1936 an Sergej Eisenstein fest, den er, ohne eine Antwort zu erhalten, in überaus selbstbewusster Diktion um Aufnahme in die Staatliche Moskauer Schule für Kinematographie bittet.
Einen großen Raum nimmt in diesem ersten Band Becketts Deutschland-Reise von Ende September 1936 bis Anfang April 1937 ein. Es war vor allem eine Reise in die Museen, Teil der Selbstausbildung zum Kunstkenner, der den Autor ebenso flankierte wie der Musikkritiker. Zu politischem Räsonnement neigt Beckett in seinen Briefen nicht, aber die Verachtung des Antisemitismus und der Säuberung der Museen von avantgardistischer Kunst formuliert er drastisch, manchmal unterschreibt er ironisch mit „Heil, Sieg, fette Beute“. Die Aufenthalte in Hamburg, Berlin, München und anderen Städten sind gut dokumentiert, aber auch hier tragen die Briefe eine Fülle neuer Details bei.
Es entsteht das Selbstporträt des Künstlers als junger Mann von beträchtlicher Schärfe und Schroffheit im ästhetischen Urteil. Seine luziden Beobachtungen im Proust-Essay erwachsen aus einem großen Unbehagen: „Er ist so absolut Meister seiner Form, dass er genauso oft zu ihrem Sklaven wird.“ Und in Prousts „Redeschwall“ hört er „das weinerliche, mit klapperndem Gebiss herausgekollerte Glucksen eines verdorbenen Magens“.
Eine ganze Anthologie von Sottisen über bedeutende Maler, Komponisten, Schriftsteller könnte man aus diesen Briefen herausziehen, und Goethe, dessen „Tasso“, „Faust“ und „Dichtung und Wahrheit“ Beckett im Original liest, spielt dabei mit einem Satz aus den „Wahlverwandtschaften“ nicht zufällig eine Schlüsselrolle: „lieber nichts zu schreiben, als nicht zu schreiben“. Goethe ist für Beckett das Urbild ungehemmter Produktivität, der Autor, der nicht streichen kann. Er selbst ist der Märtyrer des Weglassens, aber seine Formel der „luziferischen Konzentration“ findet er bei der Goethe-Lektüre. Auf alle Verlegerwünsche, „Murphy“ zu kürzen, reagiert er konsequent unwirsch. Sein Roman ist doch aus der Kürzung hervorgegangen!
Er kann aber nicht nur giften. Er kann auch überaus sanft sein. „Ich kann nicht über ihn schreiben, ich kann nur durch die Felder laufen und durch die Gräben klettern, ihm nach.“ So endet der Brief, in dem Beckett Anfang Juli 1933 seinem Freund Thomas McGreevy vom Tod seines Vaters berichtet. Und immer wieder gelingen ihm en passant-Sätze, so beim Streik der Dubliner Verkehrsbetriebe: „Dublin ohne Busse & Straßenbahnen ist wunderschön, Berge & Meer scheinen näher heranzukriechen.“ Die „kleinen, schäbigen, biederen alten Männer“, die im März 1935 in London am Round Pound in Kensington die Drachen steigen lassen, werden in den Schluss von „Murphy“ eingehen: „Mein nächster alter Mann oder junger alter Mann nicht aus der großen, sondern aus der kleinen Welt, muss Drachen steigen lassen.“
Auch dieser Brief geht an Thomas McGreevy (1893-1967), den älteren Freund und späteren Direktor der National Gallery of Ireland, er ist der Hauptadressat der Briefe in diesem ersten Band. Auf seine Anregung verfasste Beckett den Proust-Essay, der Maler Jack B. Yeats, über den McGreevy 1945 ein Buch publizierte, war eine der Verbindungsfiguren. Er spielt eine Hauptrolle in diesem Band. James Joyce hat hier nur eine kleine Rolle, aber Beckett gehörte leicht widerstrebend zu seiner Entourage in Paris, auch als Übersetzer von „Finnegans Wake“ ins Französische. Die abgründigste Geschichte des Scheiterns, die sich durch diesen ersten Band zieht, handelt von der Arbeit an einem Stück über die dunklen Seiten des großen Kritikers Samuel Johnson. Sie zeigt, wovon diese Briefe handeln: davon, wie Beckett zu Beckett wurde.
Beckett gab nur solche Briefe zur
Publikation frei, „die für mein
Schaffen von Belang sind“
Bei Sergej Eisenstein bewarb sich
Beckett 1936 um einen Platz in der
Moskauer Staatlichen Filmschule
Samuel Beckett und Thomas McGreevy, der Hauptadressat seiner Briefe 1929-1940.
FOTOS: PRIVATSAMMLUNG NUALA COSTELLO/SUHRKAMP VERLAG, MARGARET FARRINGTON AND ROBERT RYAN/SUHRKAMP VERLAG
Samuel Beckett: Weitermachen ist mehr, als ich tun kann – Briefe 1929-1940. Hrsg. von George Craig, Martha Dow Fehsenfeld, Dan Gunn und Lois More Overbeck. Aus dem Engl. und Franz. von Chris Hirte.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2013, 856 Seiten, 39,95 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Er wütet gegen sich selbst, hat kein Geld, saugt Bücher, Bilder und Musik in sich auf und hadert mit Verlegern: Im ersten
Band der Auswahl aus seinen Briefen ist Samuel Beckett in den Jahren von 1929 bis 1940 auf dem Weg zu sich selbst
VON LOTHAR MÜLLER
Am 6. Januar 1938 wurde Samuel Beckett in Paris fast erstochen. Ihm war in Begleitung von Freunden auf der Avenue d’Orléans von einem Unbekannten, der die Gruppe angerempelt hatte, bei dem anschließenden Handgemenge mit dem Messer eine Verletzung beigebracht worden, deren Schwere Beckett erst erkannte, als er beim Betreten der Wohnung seiner Freunde den Mantel öffnete.
Beckett wurde ins Hôpital Broussais gebracht, wo er etwa zwei Wochen lang bleiben musste. In dem Krankenhaus war der Dichter Paul Verlaine mehrfach gewesen und hatte darüber in „Mes Hôpitaux“ (1891, Meine Spitäler) und anderen Büchern geschrieben. „Das hier war Verlaines Krankenhaus, oder?“, schreibt Beckett am 21. Januar 1938 an seinen Freund Thomas McGreevy nach London. Gerade hat er mit der Lektüre des Romans „Oblomow“ von Iwan Gontscharow begonnen, der Apotheose des untätigen Menschen. Der lateinische Fluch, den ihm das entlockt, lässt aufhorchen: „Pereant qui ante nos nostra dixunt!“, Tod denen, die das Unsere vor uns sagten!
Der Absolvent des Trinity College in Dublin flucht so gelehrt, weil er gerade an den Fahnenkorrekturen seines Romans „Murphy“ sitzt. Murphy ist ein schachspielendes Monstrum der Untätigkeit, das sich selbst an einen Schaukelstuhl gefesselt hat. Nun schreibt er, nachdem ihm Gontscharows Roman einen Stich versetzt hat: „Am Ende ödet er mich ziemlich an, Murphy O’Blomov.“
Nichts an den Umständen, von denen diese Episode gerahmt wird, ist unbekannt. In James Knowlsons großer Samuel Beckett-Biografie und unzähligen Spezialstudien ist die Messer-Attacke enthalten, ebenso die langwierige Publikationsgeschichte von „Murphy“. Und dennoch öffnet sich mit diesem ersten der auf vier Bände angelegten großen Auswahl aus den Briefen Becketts eine neue Dimension. Sie sind nun nicht mehr nur Quellenmaterial der Biografen und Philologen, sondern es tritt hier eine Figur vor das Publikum, die bisher im Schatten des Dramatikers, Romanciers und Essayisten Beckett stand: der Briefschreiber.
Briefe, so legt es eine alte, aus der Antike stammende Lesart nahe, sind halbierte Dialoge, sie ersetzen das Gespräch mit dem abwesenden Adressaten. Das ist aber selbst nur die halbe Wahrheit. Denn aus der Abwesenheit des Adressaten folgt: Jeder Brief ist, auch dort, wo er das Gespräch mit dem Gegenüber sucht, ein Monolog. Der Schreibende ist mit sich allein und kann von seinem Gegenüber nicht unterbrochen werden. In ihnen hat der Schreiber immer das letzte Wort.
Samuel Beckett, zumal der späte Beckett, ist berühmt für seine Diskretion im sozialen Umgang, als lakonisch-wortkarger Künstler, der alle Kommunikation in melancholischen Slapsticks über dem Abgrund des Schweigens balancieren ließ, geistert er durch die Nachwelt. Er hat aber über 15 000 Briefe geschrieben, so viele sind bisher aufgefunden worden. Viele sind Kinder der Höflichkeit, die ihn, auch als er längst berühmt war, die immer zahlreicher werdenden Zuschriften meist rasch beantworten ließ. Aber das kann nicht alles sein. Beckett muss im Brief eine ihm gemäße Form des Schreibens, der Kommunikation aus der Abwesenheit heraus gefunden und kultiviert haben.
Im Jahr 1985 hatte Beckett einer Veröffentlichung seiner Briefe unter der Voraussetzung zugestimmt, dass dies erst nach seinem Tod geschehen würde. Er starb im Dezember 1989, und warum es zwanzig Jahre dauerte, bis 2009 die Originalausgabe dieses ersten Bandes erscheinen konnte, legen die Herausgeber in ihrer Einführung ausführlich dar. Verlags- und Herausgeberwechsel spielten dabei eine Rolle, entscheidend aber war die Bedingung, mit der Beckett seine Zustimmung zur Publikation in einem Brief an die Herausgeberin Martha Dow Rosenfeld im März 1985 eingeschränkt hatte.
Er verlangte die „Reduktion auf solche Passagen, die für mein Schaffen von Belang sind“. Darin lag Konfliktstoff, in doppelter Hinsicht. Zum einen: Wo war die Grenze zu ziehen? Was hat in den Augen einer Nachwelt, die bei einem bedeutenden Autor nichts für unbedeutend hält, keinen Bezug zu seinem Schaffen, was ist nicht in irgendeiner Hinsicht aufschlussreich? Kaum etwas. Die moderne Editionsphilologie ist gefräßig, sie will sich nichts entgehen lassen. Und zum zweiten: Die Briefe, die Beckett hinterlassen hat, enthalten so viele glänzende Passagen voller Sarkasmen, Wortspiel, Invektiven, Anspielungen auf Literatur, Kunst und Musik, dass sie auf Schritt und Tritt ihrem Autor widersprechen. Sie sind nicht nur als Verständnishilfe „für sein Schaffen von Belang“, sie lassen sich als Teil des Werks selbst lesen. Gerade dort, wo ihr Stoff das Scheitern, das Versiegen des Schreibens ist, laufen sie zu literarischer Hochform auf.
Jérôme Lindon, Verleger des Verlags Les Éditions de Minuit in Paris und Nachlassverwalter Becketts, wollte nur Briefe publizieren, die explizit auf einzelne Werke oder das Gesamtschaffen Becketts eingingen. Erst nach seinem Tod setzten sich die Herausgeber dieser Edition mit ihrem umfassenderen Anspruch durch. Eine Auswahl ist dies dennoch. Nur 2500 Briefe der insgesamt 15 000 wird diese vierbändige Edition am Ende erhalten, 5000 weitere werden in den Anmerkungen zitiert, die mit ihrer verlässlichen Identifizierung von Orten, Personen und Ereignissen eine notwendige Voraussetzung der Lektüre sind, ohne die man viele Pointen nicht verstünde.
Über die Krankenschwestern im Hôpital Broussais schreibt Beckett: „Eine besonders ist eine geborene Komödiantin – Bückt sich umständlich, um etwas aufzunehmen & sagt: ,Ah, que la terre est basse‘. Ein spontaner Halbvers.“ Man kann diesen Satz über die Krankenschwester und ihren Halbvers („O wie tief ist doch die Erde!“) kaum lesen, ohne dass einem Becketts spätere Bühnenfiguren in den Sinn kommen.
Aber Beckett ist hier noch nicht berühmt. Zwischen 1929 und 1940 ist er weitgehend erfolglos, hat ständig Geldnöte, ist abhängig von seinem Bruder und seiner Mutter, das Ausmaß seiner Lektüre überschreitet den Umfang seiner Produktion um ein Vielfaches. Er schreibt einige Rezensionen, bringt Gedichte unter, sein Essay über Marcel Proust wird im März 1931 veröffentlicht, ebenso der Erzählungsband „More Pricks than Kicks“ (1934) („Mehr Prügel als Flügel“), aber ein Durchbruch ist das alles nicht.
Aus Dantes „Purgatorio“ hat er sich für „More Pricks than Kicks“ die Figur des Belacqua ausgeliehen, dem viele Untätige und hoffnungslos Wartende folgen werden. Der Briefeschreiber dieses Jahrzehnts zwischen 1929 und 1940 ist ein Verwandter Belacquas, der nicht weiß, dass er selbst dem Purgatorio entkommen wird. Rückblickend entsteht hier das Bild einer Inkubationszeit vor den Nachkriegsjahren, in denen Beckett unerhört produktiv war und berühmt wurde. Wenn man liest, wie er sarkastisch mit sich selbst abrechnet, Ablehnungen mit der Verballhornung von Verlagsnamen beantwortet, nächtliche Panikattacken und körperliche Beschwerden notiert, ahnt man den Dramatiker (und Lobredner) des Scheiterns. Eine paradoxe Formel Robert Musils könnte über diesen Jahren stehen: „aktive Passivität“, definiert als „das Warten des Gefangenen auf die Gelegenheit zum Ausbruch“. Eine dieser Warteschleifen dreht er in den Jahren 1934/35 in London, er absolviert dort eine Psychoanalyse bei Wilfred Rupert Brion, mit dem er im Oktober 1935 eine Gastvorlesung von C. G. Jung hört: „Er beharrt so vehement darauf, daß er kein Mystiker ist, dass er zur allernebulösesten Sorte gehören muss“.
Bei dem Dozenten Thomas Rudmose-Brown („Ruddy“) hat der junge Beckett französische Sprache und Literatur studiert, der Lehrer hätte ihm gerne eine akademische Karriere eröffnet. Wenn die Resignation des Briefschreibers groß ist, erwägt er diese Option, zum Beispiel, als er sich im Sommer 1937 für eine Dozentur in Kapstadt bewirbt – erfolglos. Einen Ausbruchsversuch, der ins stalinistische Moskau ein Jahr vor dem großen Terrorjahr 1937 geführt hätte, hält ein Brief vom März 1936 an Sergej Eisenstein fest, den er, ohne eine Antwort zu erhalten, in überaus selbstbewusster Diktion um Aufnahme in die Staatliche Moskauer Schule für Kinematographie bittet.
Einen großen Raum nimmt in diesem ersten Band Becketts Deutschland-Reise von Ende September 1936 bis Anfang April 1937 ein. Es war vor allem eine Reise in die Museen, Teil der Selbstausbildung zum Kunstkenner, der den Autor ebenso flankierte wie der Musikkritiker. Zu politischem Räsonnement neigt Beckett in seinen Briefen nicht, aber die Verachtung des Antisemitismus und der Säuberung der Museen von avantgardistischer Kunst formuliert er drastisch, manchmal unterschreibt er ironisch mit „Heil, Sieg, fette Beute“. Die Aufenthalte in Hamburg, Berlin, München und anderen Städten sind gut dokumentiert, aber auch hier tragen die Briefe eine Fülle neuer Details bei.
Es entsteht das Selbstporträt des Künstlers als junger Mann von beträchtlicher Schärfe und Schroffheit im ästhetischen Urteil. Seine luziden Beobachtungen im Proust-Essay erwachsen aus einem großen Unbehagen: „Er ist so absolut Meister seiner Form, dass er genauso oft zu ihrem Sklaven wird.“ Und in Prousts „Redeschwall“ hört er „das weinerliche, mit klapperndem Gebiss herausgekollerte Glucksen eines verdorbenen Magens“.
Eine ganze Anthologie von Sottisen über bedeutende Maler, Komponisten, Schriftsteller könnte man aus diesen Briefen herausziehen, und Goethe, dessen „Tasso“, „Faust“ und „Dichtung und Wahrheit“ Beckett im Original liest, spielt dabei mit einem Satz aus den „Wahlverwandtschaften“ nicht zufällig eine Schlüsselrolle: „lieber nichts zu schreiben, als nicht zu schreiben“. Goethe ist für Beckett das Urbild ungehemmter Produktivität, der Autor, der nicht streichen kann. Er selbst ist der Märtyrer des Weglassens, aber seine Formel der „luziferischen Konzentration“ findet er bei der Goethe-Lektüre. Auf alle Verlegerwünsche, „Murphy“ zu kürzen, reagiert er konsequent unwirsch. Sein Roman ist doch aus der Kürzung hervorgegangen!
Er kann aber nicht nur giften. Er kann auch überaus sanft sein. „Ich kann nicht über ihn schreiben, ich kann nur durch die Felder laufen und durch die Gräben klettern, ihm nach.“ So endet der Brief, in dem Beckett Anfang Juli 1933 seinem Freund Thomas McGreevy vom Tod seines Vaters berichtet. Und immer wieder gelingen ihm en passant-Sätze, so beim Streik der Dubliner Verkehrsbetriebe: „Dublin ohne Busse & Straßenbahnen ist wunderschön, Berge & Meer scheinen näher heranzukriechen.“ Die „kleinen, schäbigen, biederen alten Männer“, die im März 1935 in London am Round Pound in Kensington die Drachen steigen lassen, werden in den Schluss von „Murphy“ eingehen: „Mein nächster alter Mann oder junger alter Mann nicht aus der großen, sondern aus der kleinen Welt, muss Drachen steigen lassen.“
Auch dieser Brief geht an Thomas McGreevy (1893-1967), den älteren Freund und späteren Direktor der National Gallery of Ireland, er ist der Hauptadressat der Briefe in diesem ersten Band. Auf seine Anregung verfasste Beckett den Proust-Essay, der Maler Jack B. Yeats, über den McGreevy 1945 ein Buch publizierte, war eine der Verbindungsfiguren. Er spielt eine Hauptrolle in diesem Band. James Joyce hat hier nur eine kleine Rolle, aber Beckett gehörte leicht widerstrebend zu seiner Entourage in Paris, auch als Übersetzer von „Finnegans Wake“ ins Französische. Die abgründigste Geschichte des Scheiterns, die sich durch diesen ersten Band zieht, handelt von der Arbeit an einem Stück über die dunklen Seiten des großen Kritikers Samuel Johnson. Sie zeigt, wovon diese Briefe handeln: davon, wie Beckett zu Beckett wurde.
Beckett gab nur solche Briefe zur
Publikation frei, „die für mein
Schaffen von Belang sind“
Bei Sergej Eisenstein bewarb sich
Beckett 1936 um einen Platz in der
Moskauer Staatlichen Filmschule
Samuel Beckett und Thomas McGreevy, der Hauptadressat seiner Briefe 1929-1940.
FOTOS: PRIVATSAMMLUNG NUALA COSTELLO/SUHRKAMP VERLAG, MARGARET FARRINGTON AND ROBERT RYAN/SUHRKAMP VERLAG
Samuel Beckett: Weitermachen ist mehr, als ich tun kann – Briefe 1929-1940. Hrsg. von George Craig, Martha Dow Fehsenfeld, Dan Gunn und Lois More Overbeck. Aus dem Engl. und Franz. von Chris Hirte.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2013, 856 Seiten, 39,95 Euro.
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