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Als der angesehene Richter Wilhelm Weitling in einem Chiemseesturm mit seinem Segelboot kentert, kommt er gerade so mit dem Leben davon. Doch das Unglück versetzt ihn zurück in die eigene Jugend. Für den verblüfften Weitling wird dieses Abenteuer zur philosophischen Zeitreise - und hat unerwartete Auswirkungen auf seinen scheinbar vorgezeichneten Lebenslauf.

Produktbeschreibung
Als der angesehene Richter Wilhelm Weitling in einem Chiemseesturm mit seinem Segelboot kentert, kommt er gerade so mit dem Leben davon. Doch das Unglück versetzt ihn zurück in die eigene Jugend. Für den verblüfften Weitling wird dieses Abenteuer zur philosophischen Zeitreise - und hat unerwartete Auswirkungen auf seinen scheinbar vorgezeichneten Lebenslauf.
Autorenporträt
Sten Nadolny wurde 1942 in Zehdenick an der Havel geboren. 1983 gelang ihm mit 'Die Entdeckung der Langsamkeit' ein Welterfolg. Daraufhin erschienen die Romane 'Selim oder Die Gabe der Rede', 'Ein Gott der Frechheit', 'Er oder ich', der 'Ullsteinroman', und zuletzt 2009 der gemeinsam mit Jens Sparschuh verfasste Gesprächsband 'Putz- und Flickstunde'. Sten Nadolny lebt in Berlin und am Chiemsee. Sein literarisches Werk ist vielfach preisgekrönt und in zahlreiche Sprachen übersetzt.
Rezensionen
»Ein Buch über die verlorene Identität und eine poetische Zeitreise durch das Leben des Autors als multiple Persönlichkeit.« Radio Bremen, Literaturzeit 20121008

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.05.2012

Im Unfertigen findet das Leben statt

Götter und Künstler: Sten Nadolnys Zeitreisenroman "Weitlings Sommerfrische" ist ein Denkstück über die Identität. Wer bin ich - und wenn ja wie viele?

Für Gott und seinen Adjutanten, den Schriftsteller, ist alles Gegenwart. Im Diesseits dagegen: nichts als schnödes Nacheinander. Darin sind sich sämtliche Philosophen einig, mögen sie die Zeit nun als menschliche Erfindung, als reine Anschauungsform oder als harte empirische Währung betrachten. Aber ist das eigentlich so sicher? Dehnt und krümmt, verknotet und durchbricht sich die Zeit nicht unablässig? In "Zeitlang", dem bayerischen Begriff für "Sehnsucht", kommt das sehr schön zum Ausdruck. Er spielt denn auch eine wichtige Rolle in Sten Nadolnys neuem Roman, der virtuos die objektiv-lineare Zeitvorstellung außer Kraft setzt: "Ein Zeitlang, das keine Sau aushält, Geister auch nicht."

Es handelt sich um ein philosophisches Experiment: Nadolny treibt die "Idee einer Visite in der eigenen Jugend" so weit, dass die Möglichkeit alternativer, ja multipler Existenzen aufscheint, vielleicht eine späte Antwort auf Max Frischs allzu fatalistisches Denkstück "Biografie: Ein Spiel". Handlungsversessenen Lesern mag die Zeit dabei tatsächlich lang werden, denn bevor im letzten Fünftel Umschwünge und Pointen die Geschichte enorm beschleunigen, kann es durchaus scheinen, als habe der Autor Jahrzehnte nach der Langsamkeit auch die - freilich gepflegte - Langeweile entdeckt. In einem derart geruhsamen Stil würde vielleicht ein bürgerlicher Realist des neunzehnten Jahrhunderts Robert Zemeckis' "Zurück in die Zukunft" retro-adaptieren: Anstelle von Marty McFly und seiner flotten Sprüche sehen wir Richter a. D. Wilhelm Weitling, der nach halbwegs erfülltem Juristenleben an einem frömmelnden Alterswerk namens "spes divina" herumdoktert und ansonsten liebevoll sein Segelboot pflegt, welches er hin und wieder auf dem Chiemsee ausführt, nicht weil er Lust dazu hätte, sondern weil "ohne einen Willen zum Abschluss" Verblödung drohe.

Bei einer Ausfahrt gerät der Achtundsechzigjährige in einen Sturm, exakt so, wie er das als Sechzehnjähriger nur knapp überlebt hat - und siehe da, es tut sich ein Wurmloch auf: Der Held wird im Jahre 1958 ausgespuckt, und zwar als rein beobachtender, an sein früheres Ich geketteter Geist. Nur wenn der junge Willy schläft, kann sich sein Alter-Ego frei bewegen. Er erfährt, dass dieser "Jugendarrest in einer neuen Bedeutung des Wortes" verbreitet ist und "Sommerfrische" genannt wird. Mit Alten, Verwirrten und Betrunkenen lässt sich dabei sogar plaudern. Zum Mentor wird dem Rückkehrer sein Künstler-Großvater mit dem sprechenden Namen Fedor von Traumleben, den sie damals für dement hielten.

Viele Monate lang observiert Weitling nun "kühl wie ein Forscher" sich selbst zu einer Zeit, als ihm noch alles offen stand. Und er beobachtet genau: Lektüre- und Schulerlebnisse, Zimmereinrichtungen, Weihnachtsfeiern, Spaziergänge, Musikabende, Schwärmereien, all das wird mit einem Detailinteresse ausgebreitet, das partiell wohl nur autobiographisch zu erklären ist, denn tatsächlich stimmt vieles an Weitling mit Nadolny überein. Im Zentrum steht die Verortung des Jungen innerhalb seiner unaufgeregt intellektuellen Familie. Die Mutter, eine vordemokratische, geistreiche Person, erscheint dem Beobachter resoluter als in der Erinnerung, der Vater, ein Schriftsteller, als schwächer und erfolgloser. Der Autor hat freilich Höheres im Sinn als eine gewitzt kodierte Autobiographie, was sich schon daran ablesen lässt, dass er Weitling das Wort an ihn richten lässt: "Was aber soll das, was mir hier widerfährt? Soll ich etwas lernen?" Selbsterkenntnis scheint jedoch keineswegs das Ziel, auch wenn der alte Weitling einsieht, dass er nicht zuletzt aus krankhafter Schüchternheit eine Vorliebe für Rechtsbrecher entwickelt hat. Eher schon geht es um das Unterlaufen von Selbsterkenntnis, weil das Erkannte im Moment der Einsicht zerstiebt. Immer stärker jedenfalls verdichtet sich eine Ahnung des Helden zur Gewissheit: Die Geschichte ereignet sich nicht zweimal gleich. Sollte Weitling selbst das Ergebnis beeinflussen so wie ein Forscher das Experiment? Und was wird dann aus seiner herbeigesehnten Zukunft?

Tatsächlich muss der schließlich in die Gegenwart Zurückkehrende feststellen, dass ein Anderer aus ihm geworden ist: kein Richter, sondern ein Schriftsteller - mit erkennbarer Nadolny-Kontur und einiger Selbstironie: "Autor Weitling" sei "Spezialist für die Neuformulierung von Binsenweisheiten". Die Biographien der Eltern scheinen vertauscht, die Mutter hat sich diesmal als erfolgreiche Autorin etabliert. Im Falle des Autors waren übrigens Vater wie Mutter als Schriftsteller erfolgreich, schon das ein erster Hinweis, dass vielleicht beide Variationen der Familiengeschichte zugleich gültig sind.

Die Frömmigkeit allerdings, so stellt der Protagonist überrascht fest, blieb auf der Strecke. Gott ist für den Agnostiker nur eine erfundene Adresse für Dankbarkeitsbezeigungen. Und doch lenkt auch hier seine nichtrealisierte, aber erinnerte Identität die tatsächliche ab, und zwar ins Trotzdem-Religiöse: "Wenn überhaupt, dachte er, dann müsste man sich Gott unschlüssig denken. Er probiert herum, macht Fehler, überlegt, hat einen besseren Einfall und korrigiert sich!" Gott als Autor, damit scheint Weitling zum Wesen der "spes divina", der göttlichen Hoffnung, vorgedrungen. Es ist ein Abschied vom Willen zum Abschluss: Im Unfertigen, im Zeitlang findet das Leben statt.

Dieser charmant verspielte Roman ist tiefsinnig, ohne verblasen zu sein, ist tröstlich ohne jeden Anflug von Kitsch, eine hintersinnige Infragestellung der Kohärenz unserer Identität, die möglicherweise nicht mehr darstellt als eine Momentaufnahme innerhalb des nie endenden Spiels der einander gegenseitig unterminierenden Zeitüberwindungskräfte Erinnerung und Phantasie. Durch die Ritzen des Ich leuchten all unsere nicht verwirklichten Varianten in uns hinein. Man kann den Roman nicht zuletzt als schönste Demenz-Huldigung lesen, denn so - das Vergessen als Wurmloch zur Möglichkeitswelt - ließen sich all die Wunderlichkeiten natürlich erklären, ohne den Glauben an die Newton-Welt aufzugeben. Aber wer sollte den nicht gern aufgeben wollen?

OLIVER JUNGEN

Sten Nadolny: "Weitlings Sommerfrische". Roman.

Piper Verlag, München 2012. 121 S., geb., 19,99 [Euro].

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