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David Wagner wandert durch die Stadt, allein, manchmal in Begleitung. Was ist die Stadt? Wie lässt sie sich beschreiben? Immer wieder stößt er auf die Trümmer der deutschen Geschichte. Wagner erzählt, wie sehr sich die Stadt in den letzten zehn Jahren verändert hat. Er macht ein Praktikum als Türsteher in der "Flittchen Bar", trifft die Füchse auf der Pfaueninsel und einen müden Bürgermeister neben einem Bärenkostüm. Er spaziert durch die Randgebiete und durch den alten Westen. Er geht die Baustellen ab und erinnert sich an Baulücken. David Wagner läuft seit zwanzig Jahren kreuz und quer durch…mehr

Produktbeschreibung
David Wagner wandert durch die Stadt, allein, manchmal in Begleitung. Was ist die Stadt? Wie lässt sie sich beschreiben? Immer wieder stößt er auf die Trümmer der deutschen Geschichte. Wagner erzählt, wie sehr sich die Stadt in den letzten zehn Jahren verändert hat. Er macht ein Praktikum als Türsteher in der "Flittchen Bar", trifft die Füchse auf der Pfaueninsel und einen müden Bürgermeister neben einem Bärenkostüm. Er spaziert durch die Randgebiete und durch den alten Westen. Er geht die Baustellen ab und erinnert sich an Baulücken. David Wagner läuft seit zwanzig Jahren kreuz und quer durch Berlin. Er ist ein Stadtwanderer, "in Halbtrance, gepaart mit dem Willen zur illusionslosen Genauigkeit", wie die Wochenzeitung Die Zeit meinte. "Welche Farbe hat Berlin?" versammelt größtenteils unveröffentlichte Texte, die in den letzten Jahren entstanden sind.
Autorenporträt
David Wagner, geboren 1971, wurde mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet, darunter mit dem Walter-Serner-Preis, dem Dedalus-Preis für Neue Literatur und dem Georg-K.-Glaser-Preis. Er lebt in Berlin. Im Jahr 2000 veröffentlichte er seinen Debütroman 'Meine nachtblaue Hose'. Sein jüngster Roman, 'Vier Äpfel', stand auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis 2009.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Welche Farbe hat Berlin - ja, welche? Fein und still und genau geht der Autor laut Rezensent Gustav Seibt in seinen die Farbe der Stadt erkundenden, über einen Zeitraum von zehn Jahren entstandenen Glossen vor. Gesellschaftsbildung anhand von Straßenbildern verfolgen, so beschreibt Seibt den Kniff und das Vorgehen des Autors David Wagner. Dass dieser Katalog des Verschwindens auch den Blick nach vorn nicht scheut, gefällt dem Rezensenten besonders: Werden all die Hostels irgendwann in Altersheime umfunktioniert?

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.03.2012

Wie ein gestrandeter Wal im Berliner Niemandsland

Auf der Suche nach der verlorenen Normalität: David Wagner erkundet in vierzig Miniaturen Berlin. Dabei hat er Georg Simmel im Sinn und antwortet Franz Hessel.

Nein, David Wagners Buch ist kein Liebesroman. Und doch erzählt dieser Band, der unter dem Titel "Welche Farbe hat Berlin?" vierzig Prosaminiaturen versammelt, eine Liebesgeschichte. Denn Wagner blickt auf Berlin, als vertiefe er sich in den Anblick einer Geliebten. Er versucht, hinter den steinernen Fassaden der Stadt deren Charakter zu ergründen. Er fordert ihre Nähe, um umgekehrt von ihr die Inspiration und das Material für seine Erzählungen zu erhalten. Dieses spezielle Liebesverhältnis zwischen dem vierzigjährigen Schriftsteller und seiner Stadt zeichnet dieses Berlin-Buch aus. Auf dieses Charakteristikum weist der Titel selbst hin. Denn die Frage "Welche Farbe hat Berlin?" zielt auf die Perspektive ab, aus der Berlin hier geschildert wird. Da der Leser die Stadt mit David Wagners Augen sieht, sind für ihn alle Bilder von dessen Sichtweise gefärbt. Das Berlin dieses Buches trägt tatsächlich nur eine Farbe. Geprägt von Wagners Stil, erscheint es "wagnerfarben".

Was diese Färbung auszeichnet, macht wunderbar beiläufig der Moment des Aufbruchs klar, mit dem das Buch einsetzt: "Ich will bloß den Müll hinuntertragen in den Hof, unten aber, ich habe die zugeknotete Abfalltüte noch in der Hand, gefällt mir die Nacht so gut, es riecht nach Frühling, dass ich hinaus auf die Straße gehe. Ich gehe um zwei Ecken und stehe schon vor dem Café Haliflor - entscheide mich aber, die Luft ist so süß, weiterzugehen." Wagner dreht eine Runde durch seinen Kiez, kehrt auf ein Bier ins Haliflor ein und geht nach Hause zurück. Mehr passiert nicht. Oder besser gesagt: Alles, was passiert, liegt im Detail. Wie sorgsam man in Wagners Berlin mit Kleinigkeiten umzugehen hat, spielt die Aufbruchserzählung anhand des Müllbeutels durch. Anstatt ihn rasch wegzuwerfen, trägt der Erzähler ihn bis zuletzt bei sich, nur um ihn dem Container im Hof zu übergeben. Wer so unprätentiös durch Berlin spaziert, wer selbst dem Abfall Aufmerksamkeit schenkt, betrachtet Berlins Inszenierung aus kritischer Distanz. Der teilt auch das Faible für Geschwindigkeit und Innovation nur bedingt. Beobachten ja, aber bitte keine Teilhabe oder gar Begeisterung. Was Wagner an Berlin fasziniert, sind die stillen Seiten, die Mythen des Alltags, denen er in seinen Streifzügen vom Prenzlauer Berg über Mitte und Kreuzberg bis Neukölln nachspürt. Seine Texte machen sich auf die Suche nach der verlorenen Normalität.

Aus dieser Stilistik der Annäherung erwächst neue Farbigkeit. Ihr Nuancenreichtum zeigt sich Wagner, wenn er in den Himmel über Berlin blickt. Dort offenbart sich ein Farbenspiel aus "Hell-Elfenbein? Sanssouci-Gelb? Lindgrün? Blau? Ist der berlinblaue Himmel, wenn er denn mal zu sehen ist, nicht die größte gleißende Farbfläche über der Stadt? Oder ist die Himmeltönung nicht doch eher wolkengrau, gedeckt-verwaschen? Waschbetongrau? Plattenbaubunt?" Wagners feines Sensorium für Berlins stille Vielfalt schließt jede Festlegung auf eine Farbe aus. Sie fächert die Frage nach der einen Farbe in eine Palette weiterer Fragen auf. Diesem Berlin gelten Wagners Liebe und Sprachkunst. Einige Erzählungen machen ihren Leser zum Flaneur, der "mit diesem Büchlein in der Hand auch sehr bequem auf dem Sofa liegend durch Berlin spazieren gehen kann". Andere rücken den Leser in die Position des Betrachters, an dem einzelne Szenen wie im Film vorbeiziehen.

So lässt sich dieses Buch zum einen einfach als alternativer Berlin-Führer lesen, der an Orte führt, die jenseits der touristischen Wege liegen. Zugleich fordern die Erzählungen eine kulturtheoretische Lesart heraus. Diese Betrachtungen der Großstadt loten das Verhältnis zwischen der expandierten Kultur der Dinge und dem einzelnen Menschen aus. Diese Beziehung zu gestalten, erkannte bereits der Soziologe Georg Simmel zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts als die entscheidende Herausforderung der Moderne. Zumal sich erst in dieser Relation der Lebensstil einer bestimmten Zeit zeige, der dem Leben, so Simmel, seine "Färbung" verleihe. Simmels Vokabular und Denkmodell schwingen also bereits in Wagners titelgebender Farbenfrage mit.

Wie konsequent Wagner sich der Aufgabe, mit seinem Schreiben einem neuen Lebensstil nachzuspüren, stellt, zeigte schon sein Romanexperiment "Vier Äpfel" (2009), in dem er den Erzähler der bunten Warenwelt eines Supermarkts gegenüberstellt. Wagner nimmt den alltäglichen Gang durch den Supermarkt einerseits zum Anlass, unsere Konsumgesellschaft zu kritisieren, stellt ihn andererseits aber als Moment dar, der persönliche Erinnerungen an seine Zeit mit L. weckt. Aus dem Verhältnis zwischen massengefertigter Warenwelt und Subjekt entwickelte er eine melancholische Liebesgeschichte, wie sie gegenwärtiger kaum sein könnte. Wagners Berlin-Buch, in dem auch L. auftritt, setzt fort, was er in "Vier Äpfel" angelegt hat. Nur hat sich der Kosmos auf den Makrokosmos Berlin geweitet.

In der Weise, wie Wagner dort die Großstadt und ihr Geistesleben neu vermisst, beschleicht einen zunächst ein Biedermeierverdacht. Es scheint, als rede Wagner dem Rückzug ins Private das Wort. Aber man sollte seinen zurückgenommenen Ton nicht mit Harmlosigkeit verwechseln. Wie subtil seine Prosa ihre politische Brisanz entfaltet, zeigt exemplarisch seine Beschreibung der O2-Arena: "Die neue, größte Halle Berlins liegt wie ein riesiger gestrandeter Wal im Niemandsland zwischen Ostbahnhof und Warschauer Straße. Veranstaltungen mit bis zu 17 000 Zuschauern sollen hier bald alle paar Tage stattfinden. Die Eisbären werden hier spielen." Politisch ist diese Beschreibung, weil sie den Dialog sucht mit Franz Hessels berühmter Beschreibung des Sportpalasts aus seinem "Spazieren in Berlin" von 1929. Durch den Brückenschlag erst erscheint die Arena als Nachfolger des Sportpalasts. Nicht nur wegen des Sechstagerennens, das Hessel damals beschrieb, sondern auch wegen Goebbels "Sportpalastrede", in der er zum "Totalen Krieg" aufrief. Hessel konnte 1929 von dieser Rede nichts ahnen. Wenn Wagner beiläufig fragt, ob auch die O2-Arena einmal Schauplatz eines Parteitages werden könnte, dann zeigt der Autor, dass er sich der politischen Dimension sehr wohl bewusst ist. Wagners Neuvermessung Berlins ist liebevoll und scharfsichtig zugleich. Stets aber durchweht das schöne neue Berlin ein latentes Unbehagen.

CHRISTIAN METZ

David Wagner: "Welche Farbe hat Berlin?" Verbrecher Verlag, Berlin 2011. 224 S., br., 14,- [Euro].

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