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Kein anderes Thema hat die europäische Politik in den letzten Jahren so beeinflusst wie die Debatte um Geflüchtete, Asyl und Migration. Dabei wird die Diskussion dominiert von Schlagworten, falschen Tatsachenbehauptungen und Scheinlösungen. Gerald Knaus erklärt in seinem Buch, worum es tatsächlich geht, und zeigt, dass humane Grenzen möglich sind. Der Migrationsexperte, dessen Analysen Regierungen in ganz Europa beeinflusst haben, erläutert, welche Grundsatzprobleme wir dafür lösen müssten und wie aus abstrakten Prinzipien mehrheitsfähige umsetzbare Politik werden kann. Er erklärt außerdem,…mehr

Produktbeschreibung
Kein anderes Thema hat die europäische Politik in den letzten Jahren so beeinflusst wie die Debatte um Geflüchtete, Asyl und Migration. Dabei wird die Diskussion dominiert von Schlagworten, falschen Tatsachenbehauptungen und Scheinlösungen.
Gerald Knaus erklärt in seinem Buch, worum es tatsächlich geht, und zeigt, dass humane Grenzen möglich sind. Der Migrationsexperte, dessen Analysen Regierungen in ganz Europa beeinflusst haben, erläutert, welche Grundsatzprobleme wir dafür lösen müssten und wie aus abstrakten Prinzipien mehrheitsfähige umsetzbare Politik werden kann. Er erklärt außerdem, warum das vielen Gesellschaften schwer fällt und selbst viele Bürger mit widersprüchlichen Emotionen ringen - hier Empathie, da Angst vor Kontrollverlust - und wie eine Politik, die Fakten und Emotionen ernst nimmt, möglich wird.

»Gerald Knaus hätte die Lösung.« Der Tagesspiegel »Kann dieser Mann das EU-Türkei-Migrationsabkommen retten?« Foreign Policy
Autorenporträt
Gerald Knaus ist Gründungsdirektor der Denkfabrik European Stability Initiative (ESI). Er ist ein international bekannter Experte und berät Regierungen und Institutionen in Europa bei den Themen Flucht, Migration und Menschenrechte. Er studierte Philosophie, Politik und Internationale Beziehungen in Oxford, Brüssel und Bologna, ist Gründungsmitglied des European Council on Foreign Relations und war für fünf Jahre Associate Fellow am Carr Center for Human Rights Policy der Harvard Kennedy School ¿ John F. Kennedy School of Governance in den USA. Gerald Knaus lebt in Berlin.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.10.2020

Menschlich
und machbar
Gerald Knaus liefert Lösungen
für die Flüchtlingspolitik
Warum dieses Buch? Gerald Knaus hat unzählige Interviews gegeben, Artikel geschrieben in deutschen und internationalen Medien, Newsletter seiner Denkfabrik „Europäische Stabilitätsinitiative“ veröffentlicht. Wer sich mit Migration beschäftigt, kennt den Österreicher und seine Thesen. Hier aber verbindet er die Ansätze aus seinen Beiträgen zu einem Gesamtkonzept: dem Plädoyer für eine humane und gleichzeitig realistische Flüchtlings- und Asylpolitik, für „menschliche Grenzen“ der Europäischen Union.
Wie lassen sich Knaus’ Medienpräsenz und sein erstaunlicher Einfluss als Politikberater erklären? Nun, der Mann kennt sich aus wie wenige, er kann reden, verzichtet auf Schärfe im Ton und hat, hin- und herschwirrend zwischen Flüchtlingslagern, Ministerbüros und Redaktionen, ein riesiges Netzwerk aufgebaut.
Wichtiger indes ist sein Standpunkt. Es existieren zwei Lager bei diesem Thema, die nicht zusammenfinden. Auf der einen Seite die Entscheider und Verwalter in den EU-Hauptstädten und in Brüssel: Sie denken sich immer neue technokratische Reformen aus, die dann in einen Morast aus politischem Taktieren und vorauseilender Angst vor Wahlerfolgen der Populisten geraten. Oft fehlen den Entscheidern auch die Praxis-Erfahrung und die Empathie.
Über beides verfügen jene, die Migranten retten oder für deren Rechte kämpfen, meist zur Genüge. Was ihnen oft fehlt, ist ein Verständnis für das politisch Mögliche. Dies wiederum hat Knaus. Er liefert pragmatische Lösungen, die sowohl menschlich als auch machbar sind, die also das Recht auf Asyl schützen, auf Abschreckung durch schlechte Behandlung verzichten – aber liberale Regierungen nicht umgehend die Macht kosten.
In diesem Geist ersann Knaus den Deal der EU mit der Türkei, der im März 2016 Realität wurde und dazu beitrug, dass die Zahl der in Griechenland ankommenden Migranten schlagartig um mehr als 90 Prozent sank (und Angela Merkel im Amt blieb). Tausende waren ertrunken, Hunderttausende nach Deutschland oder Schweden weitergezogen. Die Idee war, den Wahnsinn zu beenden, indem Flüchtlinge nach einem schnellen Asylverfahren in die Türkei zurückgeschickt würden, die dafür viel Geld erhielt.
Knaus rekapituliert die Geschichte dieses Abkommens, und es wird klar, was schief lief: Zum einen dauern die Verfahren in Griechenland noch viel zu lang. Zum anderen vergaß die EU ihr Versprechen, im großen Stil Insassen türkischer Lager nach Europa zu fliegen. Deutlich wird auch, wie menschenverachtend jene agierten, die wie Ungarns Premier Orbán das Problem mit Zäunen aus der Welt schaffen wollten. Dass es im Chaos-September 2015 eine echte Option für die Bundesregierung gewesen sei, die Migranten an der Grenze zu Österreich abzuwehren, ist ein Mythos. Knaus zertrümmert ihn – und andere: das angeblich so ungerechte Dublin-Verfahren; die Vorstellung, dass mehr Grenzschützer weniger Asylanträge bedeuten; die Idee, dass Millionen Afrikaner vor Europa stehen.
Doch was ist nun Knaus’ Plan? Es braucht schnelle, bessere Asylverfahren an den Außengrenzen, nach niederländischem Vorbild. Wer nicht bleiben darf, muss gehen. Und weil bisher wenige abgeschoben werden können, müssen Vereinbarungen mit Transit- und Herkunftsländern geschlossen werden. Diese kooperieren, wenn man ihnen etwas bietet: Visa für Studenten oder ähnliches. Hinzu kämen direkte Übernahmen von Schutzbedürftigen, etwa durch private Patenschaften. Europas Städte stünden bereit. Was fehlt, ist der politische Wille.
Ob dieses Buch etwas bewirkt? Es ist viel gewonnen, wenn es alle lesen, die in der Migrationsdebatte mitreden und -denken möchten.
THOMAS KIRCHNER
Gerald Knaus: Welche Grenzen brauchen wir? Zwischen Empathie und Angst – Flucht, Migration und die Zukunft von Asyl. Piper-Verlag, München 2020, 336 Seiten, 18 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.10.2020

Natürlich lassen sich Grenzen schließen

Der Migrationsforscher Gerald Knaus warnt vor Einschränkungen des Asylrechts und macht Vorschläge, einer solchen Entwicklung zuvorzukommen.

Grenzüberwachung und Empathie mit Menschen in Not müssen kein Gegensatz sein - unter diesem Motto wirbt der Migrationsforscher Gerald Knaus, in Deutschland bekannt geworden als "Erfinder" des EU-Türkei-Abkommens, seit Jahren für seine Ideen. Nun hat er ein Buch darüber geschrieben. Knaus verbindet zeitgeschichtliche Streiflichter zur neueren Geschichte des Asyls mit konkreten Vorschlägen dafür, wie sich Europas Grenzen sichern ließen, ohne den Kontinent in eine brutale Festung zu verwandeln. Dabei widerlegt er sowohl "linke" wie "rechte" Mythen der Migrationsdebatte.

Knaus geht dabei aus von der offenkundigen Zerbrechlichkeit des Konstrukts universaler Menschenrechte, und er warnt davor, die asylrechtlichen Errungenschaften im Europa der Nachkriegszeit für irreversibel oder gar alternativlos zu halten. Die Auffassung, dass Migration ohnehin nicht aufzuhalten sei, hält er für ein gefährliches Klischee. Denn natürlich könne man Grenzen schließen: "Nicht technisches Unvermögen oder irgendein Naturgesetz der Migrationsphysik hält Regierungen davon ab, größere Migrationsbewegungen zu stoppen, sondern ihre Werte und die Interessen, die sie verfolgen." Seien Staaten bereit zur Gewalt, könnten sie fast jede Zahl von Migranten abwehren. Die Frage laute deshalb, wie sich verhindern lasse, dass in Gesellschaften Stimmungen entstehen, die eine Politik menschenverachtender Grenzschließungen mehrheitsfähig machen.

Dass es solche Entwicklungen gab, macht Knaus an vielen Beispielen deutlich, etwa dem der Schweiz während des Zweiten Weltkriegs. Dem möglichen Einwand, inzwischen sei ein grundlegender Wandel eingetreten, hält er aktuelle Beispiele entgegen, so aus Australien. Das Land wollte 2011 mit der malaysischen Regierung vereinbaren, dass Malaysia von einem Stichtag an Bootsflüchtlinge aus Australien aufnimmt und ihnen auf eigenem Boden von den Vereinten Nationen betreute Asylverfahren ermöglicht. Als Gegenleistung würde Australien Schutzbedürftige direkt aus Malaysia aufnehmen, so die Idee, die das Prinzip des EU-Türkei-Abkommens vorwegnahm. Doch die damalige Labor-Regierung war im Parlament auf Australiens Grüne angewiesen, und die lehnten das Abkommen ab, da es nicht alle Asylbewerber in Malaysia einschloss.

Die angeblich zynische "Malaysia-Lösung" scheiterte. Australiens Grüne und "Human Rights Watch" jubelten. Die Zahl irregulärer Einreisen nach Australien stieg danach drastisch, und unter dem wachsenden Druck der Wählerschaft öffnete die Labor-Regierung die zuvor als unmenschlich verworfenen Migranten-Gefangenenlager auf den Inseln Nauru und Manus wieder. Die Lösung "Kontrolle und Empathie", obschon nicht perfekt, hatte gegen die Lösung "Kontrolle ohne Empathie" verloren und wird heute von einer überwältigenden Mehrheit der australischen Parlamentarier, von der Bevölkerung sowie von den Gerichten gedeckt. Kritik der australischen Zivilgesellschaft verpufft.

Mit Blick auf solche Beispiele warnt Knaus: "Es genügt nicht, auf unschuldig leidende Menschen zu verweisen, um einen Politikwechsel herbeizuführen, solange der kritisierten Politik keine mehrheitsfähige Alternative entgegengesetzt wird." Offene Grenzen, so Knaus, seien keine realistische Alternative, da sie nirgends mehrheitsfähig sind. Nicht "keine Grenzen" müsse das Motto sein, sondern "keine unmenschlichen Grenzen". Ohne mehrheitsfähige Vorschläge und bei drohendem Kontrollverlust an Grenzen (oder auch nur dem Eindruck davon) setzten sich langfristig stets radikale Abschottungsoptionen durch, wie in Australien. Politische Mehrheiten für die Aufnahme von Fremden, so ließe sich das Fazit von Knaus resümieren, schafft man nicht auf Twitter oder durch Forderungskataloge. Mehrheiten müssen gewonnen werden, und dazu reichen Appelle an das Gewissen oder Hinweise auf die rechtliche Lage nicht aus.

Auch deshalb plädiert Knaus für einen "Abschieberealismus": Abschiebungen funktionierten nämlich nur, wenn die Länder kooperierten, in die abgeschoben werden solle. Das tun sie, wenn sie einen Anreiz dazu haben. Druck allein reicht selten aus. Nötig sei eine "Migrationsdiplomatie" mit den Herkunfts- und Transitländern. Am Fall Gambia erläutert Knaus, was praktikabel sei: Als Teil einer Einigung könne Deutschland etwa die Zahl der jährlichen DAAD-Stipendien erhöhen und Gambiern, die sich in ihrer Heimat, womöglich mit deutscher Unterstützung, als Fachkräfte ausbilden lassen, Möglichkeiten zur legalen Einreise bieten. So hätte das westafrikanische Land etwas gewonnen und folglich etwas zu verlieren, weshalb der gambischen Regierung eine Bedingung gestellt werden könne: Sobald das legale jährliche Einreisekontingent steht, müsse Gambia alle Staatsbürger, die weiterhin irregulär in Deutschland ankommen, umstandslos zurücknehmen, sollten deren Asylbegehren abgelehnt werden.

Würden auch andere betroffene EU-Mitglieder wie Spanien oder Italien solche Abkommen mit afrikanischen Staaten schließen, also im Austausch für strikte Abschiebekooperation legale Einreisequoten festlegen, "würden Anreize für weitere irreguläre und tödliche Migration über Marokko, den Atlantik und Libyen verschwinden", mutmaßt Knaus. Er zeigt auch, wo "Abschieberealismus" seit Jahren praktiziert wird: Nachdem Kubas Staatschef Fidel Castro 1994 angekündigt hatte, seine Polizei werde niemanden mehr aufhalten, der die Insel verlassen wolle, wuchs die Zahl der irregulären kubanischen Migranten in den Vereinigten Staaten stark. Bis Washington schließlich zusagte, mindestens 20 000 Kubanern im Jahr die legale Einwanderung zu ermöglichen, wenn Kuba dafür ab einem Stichtag alle Landsleute zurücknähme, die trotzdem noch irregulär einzureisen versuchten. Die Zahl der Kubaner, die das Meer überquerten, sank danach von fast vierzigtausend im Jahr 1994 auf gut fünfhundert im Jahr darauf. Dazu Knaus: "Abschiebungen Ausreisepflichtiger funktionieren, wenn Partnerstaaten ein Interesse daran haben zu kooperieren und wenn es sich um strategische Abschiebungen nach einem Stichtag handelt."

Natürlich ergeben sich aus solchen Ideen Fragen - etwa danach, ob durch Abkommen dieser Art nicht auch in afrikanischen Staaten, aus denen bisher kaum irreguläre Migration in die EU stattfindet, Begehrlichkeiten geweckt werden. Doch der Status quo, bei dem praktisch alle, die irregulär aus Afrika nach Europa kommen, trotz abgelehnter Asylbegehren bleiben können, ist offenkundig auch keine Lösung.

Abschließend schlägt Knaus vor, die Ressourcen von Europas nationalen Asylbehörden dort einzusetzen, wo sie wirklich gebraucht werden, nämlich an den Außengrenzen. Dort müsse es rasche, aber menschenrechtlich belastbare Asylverfahren geben. Von "europäischen Lösungen" hält er in dieser Frage wenig: "Geht es um Asylsysteme, dann findet man die wichtigsten Erfahrungen bei nationalen Asylbehörden und nicht in europäischen Institutionen." Qualität und Tempo seien am besten unter Federführung des deutschen Bundesamts für Migration und Flüchtlinge und einiger weiterer nationaler Asylbehörden zu erreichen, die im Gegensatz zur EU-Kommission, dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen oder der griechischen Regierung ihre Krisenfestigkeit bewiesen hätten. In Pilotprojekten, etwa auf Lesbos, ließe sich demonstrieren, dass seine Idee realistisch sei, schreibt Knaus.

Wer dieses Buch liest, wundert sich nicht mehr, dass Ministerpräsidenten wie Winfried Kretschmann oder Armin Laschet, CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer und auch die Führung des Bamf die Beratung von Knaus suchen. Knaus nimmt solche Einladungen gerne an, denn es stehe viel auf dem Spiel: "Die Grundlage der moralischen Neugründung Westeuropas nach dem Zweiten Weltkrieg war die Ausrichtung staatlicher Politik an der Menschenwürde jedes Einzelnen", schreibt er. Um diese Grundlage zu sichern, seien Lösungen nötig, "die Mehrheiten überzeugen. Nicht irgendwann, sondern jetzt."

MICHAEL MARTENS

Gerald Knaus: "Welche Grenzen brauchen wir?"

Zwischen Empathie und Angst - Flucht, Migration und die Zukunft von Asyl. Piper Verlag, München 2020. 336 S., geb., 18,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur Dlf Kultur-Rezension

Rezensent Wolfgang Schneider ist froh, dass der Soziologe Gerald Knaus bei seiner Behandlung der Frage einer menschenwürdigen wie pragmatischen Asylpolitik nüchtern und kenntnisreich vorgeht und auf Dramatisierungen verzichtet. Stattdessen bietet er laut Rezensent ungewöhnliche Sichtweisen an, klärt Klischees, erläutert Fehler bei der Grenzpolitik und bietet Lösungen an. Dass sich viele Metaphern nicht zur Beschreibung von Migrationsbewegungen eignen oder wie sich ein "Abschiebungsrealismus" durchsetzen lässt, vermittelt Knaus laut Schneider mit einer guten Portion Optimismus.

© Perlentaucher Medien GmbH
»Wer dieses Buch liest, wundert sich nicht mehr, dass Ministerpräsidenten wie Winfried Kretschmann oder Armin Laschet, CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer und auch die Führung des Bamf die Beratung von Knaus suchen.« Frankfurter Allgemeine Zeitung 20201013
Natürlich lassen sich Grenzen schließen

Der Migrationsforscher Gerald Knaus warnt vor Einschränkungen des Asylrechts und macht Vorschläge, einer solchen Entwicklung zuvorzukommen.

Grenzüberwachung und Empathie mit Menschen in Not müssen kein Gegensatz sein - unter diesem Motto wirbt der Migrationsforscher Gerald Knaus, in Deutschland bekannt geworden als "Erfinder" des EU-Türkei-Abkommens, seit Jahren für seine Ideen. Nun hat er ein Buch darüber geschrieben. Knaus verbindet zeitgeschichtliche Streiflichter zur neueren Geschichte des Asyls mit konkreten Vorschlägen dafür, wie sich Europas Grenzen sichern ließen, ohne den Kontinent in eine brutale Festung zu verwandeln. Dabei widerlegt er sowohl "linke" wie "rechte" Mythen der Migrationsdebatte.

Knaus geht dabei aus von der offenkundigen Zerbrechlichkeit des Konstrukts universaler Menschenrechte, und er warnt davor, die asylrechtlichen Errungenschaften im Europa der Nachkriegszeit für irreversibel oder gar alternativlos zu halten. Die Auffassung, dass Migration ohnehin nicht aufzuhalten sei, hält er für ein gefährliches Klischee. Denn natürlich könne man Grenzen schließen: "Nicht technisches Unvermögen oder irgendein Naturgesetz der Migrationsphysik hält Regierungen davon ab, größere Migrationsbewegungen zu stoppen, sondern ihre Werte und die Interessen, die sie verfolgen." Seien Staaten bereit zur Gewalt, könnten sie fast jede Zahl von Migranten abwehren. Die Frage laute deshalb, wie sich verhindern lasse, dass in Gesellschaften Stimmungen entstehen, die eine Politik menschenverachtender Grenzschließungen mehrheitsfähig machen.

Dass es solche Entwicklungen gab, macht Knaus an vielen Beispielen deutlich, etwa dem der Schweiz während des Zweiten Weltkriegs. Dem möglichen Einwand, inzwischen sei ein grundlegender Wandel eingetreten, hält er aktuelle Beispiele entgegen, so aus Australien. Das Land wollte 2011 mit der malaysischen Regierung vereinbaren, dass Malaysia von einem Stichtag an Bootsflüchtlinge aus Australien aufnimmt und ihnen auf eigenem Boden von den Vereinten Nationen betreute Asylverfahren ermöglicht. Als Gegenleistung würde Australien Schutzbedürftige direkt aus Malaysia aufnehmen, so die Idee, die das Prinzip des EU-Türkei-Abkommens vorwegnahm. Doch die damalige Labor-Regierung war im Parlament auf Australiens Grüne angewiesen, und die lehnten das Abkommen ab, da es nicht alle Asylbewerber in Malaysia einschloss.

Die angeblich zynische "Malaysia-Lösung" scheiterte. Australiens Grüne und "Human Rights Watch" jubelten. Die Zahl irregulärer Einreisen nach Australien stieg danach drastisch, und unter dem wachsenden Druck der Wählerschaft öffnete die Labor-Regierung die zuvor als unmenschlich verworfenen Migranten-Gefangenenlager auf den Inseln Nauru und Manus wieder. Die Lösung "Kontrolle und Empathie", obschon nicht perfekt, hatte gegen die Lösung "Kontrolle ohne Empathie" verloren und wird heute von einer überwältigenden Mehrheit der australischen Parlamentarier, von der Bevölkerung sowie von den Gerichten gedeckt. Kritik der australischen Zivilgesellschaft verpufft.

Mit Blick auf solche Beispiele warnt Knaus: "Es genügt nicht, auf unschuldig leidende Menschen zu verweisen, um einen Politikwechsel herbeizuführen, solange der kritisierten Politik keine mehrheitsfähige Alternative entgegengesetzt wird." Offene Grenzen, so Knaus, seien keine realistische Alternative, da sie nirgends mehrheitsfähig sind. Nicht "keine Grenzen" müsse das Motto sein, sondern "keine unmenschlichen Grenzen". Ohne mehrheitsfähige Vorschläge und bei drohendem Kontrollverlust an Grenzen (oder auch nur dem Eindruck davon) setzten sich langfristig stets radikale Abschottungsoptionen durch, wie in Australien. Politische Mehrheiten für die Aufnahme von Fremden, so ließe sich das Fazit von Knaus resümieren, schafft man nicht auf Twitter oder durch Forderungskataloge. Mehrheiten müssen gewonnen werden, und dazu reichen Appelle an das Gewissen oder Hinweise auf die rechtliche Lage nicht aus.

Auch deshalb plädiert Knaus für einen "Abschieberealismus": Abschiebungen funktionierten nämlich nur, wenn die Länder kooperierten, in die abgeschoben werden solle. Das tun sie, wenn sie einen Anreiz dazu haben. Druck allein reicht selten aus. Nötig sei eine "Migrationsdiplomatie" mit den Herkunfts- und Transitländern. Am Fall Gambia erläutert Knaus, was praktikabel sei: Als Teil einer Einigung könne Deutschland etwa die Zahl der jährlichen DAAD-Stipendien erhöhen und Gambiern, die sich in ihrer Heimat, womöglich mit deutscher Unterstützung, als Fachkräfte ausbilden lassen, Möglichkeiten zur legalen Einreise bieten. So hätte das westafrikanische Land etwas gewonnen und folglich etwas zu verlieren, weshalb der gambischen Regierung eine Bedingung gestellt werden könne: Sobald das legale jährliche Einreisekontingent steht, müsse Gambia alle Staatsbürger, die weiterhin irregulär in Deutschland ankommen, umstandslos zurücknehmen, sollten deren Asylbegehren abgelehnt werden.

Würden auch andere betroffene EU-Mitglieder wie Spanien oder Italien solche Abkommen mit afrikanischen Staaten schließen, also im Austausch für strikte Abschiebekooperation legale Einreisequoten festlegen, "würden Anreize für weitere irreguläre und tödliche Migration über Marokko, den Atlantik und Libyen verschwinden", mutmaßt Knaus. Er zeigt auch, wo "Abschieberealismus" seit Jahren praktiziert wird: Nachdem Kubas Staatschef Fidel Castro 1994 angekündigt hatte, seine Polizei werde niemanden mehr aufhalten, der die Insel verlassen wolle, wuchs die Zahl der irregulären kubanischen Migranten in den Vereinigten Staaten stark. Bis Washington schließlich zusagte, mindestens 20 000 Kubanern im Jahr die legale Einwanderung zu ermöglichen, wenn Kuba dafür ab einem Stichtag alle Landsleute zurücknähme, die trotzdem noch irregulär einzureisen versuchten. Die Zahl der Kubaner, die das Meer überquerten, sank danach von fast vierzigtausend im Jahr 1994 auf gut fünfhundert im Jahr darauf. Dazu Knaus: "Abschiebungen Ausreisepflichtiger funktionieren, wenn Partnerstaaten ein Interesse daran haben zu kooperieren und wenn es sich um strategische Abschiebungen nach einem Stichtag handelt."

Natürlich ergeben sich aus solchen Ideen Fragen - etwa danach, ob durch Abkommen dieser Art nicht auch in afrikanischen Staaten, aus denen bisher kaum irreguläre Migration in die EU stattfindet, Begehrlichkeiten geweckt werden. Doch der Status quo, bei dem praktisch alle, die irregulär aus Afrika nach Europa kommen, trotz abgelehnter Asylbegehren bleiben können, ist offenkundig auch keine Lösung.

Abschließend schlägt Knaus vor, die Ressourcen von Europas nationalen Asylbehörden dort einzusetzen, wo sie wirklich gebraucht werden, nämlich an den Außengrenzen. Dort müsse es rasche, aber menschenrechtlich belastbare Asylverfahren geben. Von "europäischen Lösungen" hält er in dieser Frage wenig: "Geht es um Asylsysteme, dann findet man die wichtigsten Erfahrungen bei nationalen Asylbehörden und nicht in europäischen Institutionen." Qualität und Tempo seien am besten unter Federführung des deutschen Bundesamts für Migration und Flüchtlinge und einiger weiterer nationaler Asylbehörden zu erreichen, die im Gegensatz zur EU-Kommission, dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen oder der griechischen Regierung ihre Krisenfestigkeit bewiesen hätten. In Pilotprojekten, etwa auf Lesbos, ließe sich demonstrieren, dass seine Idee realistisch sei, schreibt Knaus.

Wer dieses Buch liest, wundert sich nicht mehr, dass Ministerpräsidenten wie Winfried Kretschmann oder Armin Laschet, CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer und auch die Führung des Bamf die Beratung von Knaus suchen. Knaus nimmt solche Einladungen gerne an, denn es stehe viel auf dem Spiel: "Die Grundlage der moralischen Neugründung Westeuropas nach dem Zweiten Weltkrieg war die Ausrichtung staatlicher Politik an der Menschenwürde jedes Einzelnen", schreibt er. Um diese Grundlage zu sichern, seien Lösungen nötig, "die Mehrheiten überzeugen. Nicht irgendwann, sondern jetzt."

MICHAEL MARTENS

Gerald Knaus: "Welche Grenzen brauchen wir?"

Zwischen Empathie und Angst - Flucht, Migration und die Zukunft von Asyl. Piper Verlag, München 2020. 336 S., geb., 18,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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