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Unter dem Gesichtspunkt der Frage »Welche Rationalität bekommt der Gesellschaft?« werden vier Kapitel aus der langen Geschichte des Naturrechts aufgeblättert. Beginnend mit den für die europäische Tradition bestimmenden Ansätzen von Platon und Aristoteles über die neuzeitliche Vertragstheorie bis zu dem Vorschlag Hegels. Bubners historische Lektüre forscht den höchst unterschiedlichen Rationalitätskonzepten nach, die sich jeweils auf »Natur« berufen. Dabei tritt das Ordnungsproblem zutage, wie diejenigen Lebenszusammenhänge letztlich zu regeln sind, welche die menschliche Praxis für ihren konkreten Vollzug voraussetzen muß. …mehr

Produktbeschreibung
Unter dem Gesichtspunkt der Frage »Welche Rationalität bekommt der Gesellschaft?« werden vier Kapitel aus der langen Geschichte des Naturrechts aufgeblättert. Beginnend mit den für die europäische Tradition bestimmenden Ansätzen von Platon und Aristoteles über die neuzeitliche Vertragstheorie bis zu dem Vorschlag Hegels. Bubners historische Lektüre forscht den höchst unterschiedlichen Rationalitätskonzepten nach, die sich jeweils auf »Natur« berufen. Dabei tritt das Ordnungsproblem zutage, wie diejenigen Lebenszusammenhänge letztlich zu regeln sind, welche die menschliche Praxis für ihren konkreten Vollzug voraussetzen muß.
Autorenporträt
Bubner, RüdigerGeboren 1941 in Lüdenscheid, Studium der Philosophie und klassischen Philologie in Tübingen, Wien, Heidelberg und Oxford. 1973 o. Professor für Philosophie in Frankfurt am Main, 1979 in Tübingen, ab 1996 in Heidelberg. Rüdiger Bubner starb am 9. Februar 2007.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.11.1996

Topographie des Naturrechts
Rüdiger Bubner mag mit dem Vertrag keinen Staat machen

Die Geschichte der politischen Philosophie gibt keine großen Rätsel mehr auf. Zumal dem nicht, der von Gipfel zu Gipfel eilt und keinen Blick in die Täler und Niederungen wirft. Ihn zu einem weiteren Gang zu den großen Denkergestalten zu bewegen will kaum gelingen. Es sei denn, ihm werden wie in Rüdiger Bubners schmaler Naturrechtsgeschichte durch systematische Verdichtung und unerwartete komparatistische Arrangements verfeinerte Einsichten geboten. Ihre vier Kapitel berichten von Platon, Aristoteles, den Klassikern der Gesellschaftsvertragslehre und von Hegel. Sie reihen souveräne Theorieporträts aneinander, die durch ein dichtes Geflecht gelegentlich aphoristisch zugespitzter Vergleiche und teils zurückschauender, teils vorausschauender Gegenüberstellungen miteinander verwoben sind. So erhellen sich etwa Platons Philosophenkönig und Rousseaus Législateur wechselseitig. Und hinter der gesetzgebenden praktischen Vernunft Kants treten die Umrisse des Bodinschen Souveräns und des Hobbesschen Leviathans hervor, allesamt - wir kennen diesen Gedanken von Carl Schmitt - Verkörperungen Gottes auf Erden.

Wie die Titelfrage des Buches deutlich macht, betrachtet Bubner die Geschichte des Naturrechts in systematischer Absicht. Bubner hat kein normativistisches, sondern ein hermeneutisches Verständnis von den Aufgaben und Funktionen der politischen Philosophie. Politische Philosophie zeichnet keine Blaupausen für eine zeitlos gerechte Gesellschaft, sondern gibt den Grundlagen der gesetzlichen Ordnung und des inneren Zusammenhalts der politischen Welt begrifflichen Ausdruck. In ihr artikuliert sich damit ein Konzept politischer Rationalität, dessen Formen geschichtlichem Wandel unterworfen sind, obwohl es sich selbst stets als letztgültig erachtet.

Bubner stellt die wichtigsten Rationalitätsmuster der abendländischen Naturrechtsgeschichte im Vergleich vor. Die leitende Frage gilt dabei der gesellschaftlichen Bekömmlichkeit des Rationalitätskonzepts. Wann aber ist ein Rationalitätskonzept der Gesellschaft bekömmlich? Wohl wenn es zu ihr paßt und "sie in ihrem eigenen Wesen fördert". Leider ist Bubner hier nicht sehr explizit. Wichtig scheint, daß das Rationalitätskonzept sich nicht als abstraktes Sollen der Wirklichkeit entgegenstellt, sondern sich mit der immer schon in die gegebenen Strukturen eingelassenen Vernünftigkeit zusammenschließt, um die Gesellschaft ihren eigenen Vorstellungen entsprechend voranzubringen. Dieses Rationalitätsverständnis ist offenkundig Hegelianischen Zuschnitts, und in Hegels gleichermaßen gegen Aristoteles und die Vertragstheorie gerichteten Sittlichkeitskonzeption begegnet uns auch der naturrechtliche Rationalitätstyp, der in Bubners Augen unserer modernen Gesellschaft am bekömmlichsten ist.

Vertrag aus dem Nichts

Mit wenigen, aber zielgenauen Strichen skizziert Bubner im Anfangskapitel den Grundriß des politischen Ordnungsproblems. Platon bezeichnet eine Ordnung dann als gerecht, wenn jeder das Seinige tut und alle nach Maßgabe ihrer natürlichen, durch Erziehung verbesserten Eignungen kooperieren. Hier zeichnet sich das Grundproblem der politischen Ordnung ab: gleichzeitig die sich entfaltende Vielheit der kooperativen Lebensvollzüge und die Einheit der Ordnung sicherzustellen. Platon hat die Lösung dieses Problems einem Spezialisten für das Allgemeine übertragen, dem Philosophenkönig; er allein weiß, was jedem zukommt, und kann das umfassende Kooperationsschema der Gerechtigkeit entwerfen. Aristoteles hingegen entwickelt einen praxisphilosophischen Politikbegriff, der die Institutionen als Ermöglichung all der besonderen, in eigener ethischer Kompetenz vollzogenen Lebensentwürfe auslegt und damit das Allgemeine in der teleologischen Verfassung glücksintendierenden Handels verankert.

Mit dem Beginn der Neuzeit beginnt die Herrschaft des Prinzips der Subjektivität. Damit ändern sich die Grundlagen des politikphilosophischen Ordnungsdenkens dramatisch. Während die platonische Gerechtigkeitsordnung und die aristotelische Praxisordnung ontologischen Rang besitzen und in eine unverfügbare Natur eingesenkt sind, werden die Ordnungen der neuzeitlichen Politik als menschliche Erfindungen und nützliche Instrumente begriffen. Die ontologisch bodenlos gewordene Gesellschaft gibt sich einen neuen Grund im Willen der Individuen. Ausdruck dieser ordnungspolitischen creatio ex nihilo ist der Vertrag. Jedoch läßt sich mit dem Vertrag kein Staat machen. Die Ordnungsaufgabe übersteigt die Kraft der Subjektivität.

Der grundlegende Fehler der politischen Philosophie der Neuzeit liegt darin, das Ordnungsproblem im Rahmen einer Konstruktionsgeschichte zu behandeln und den Menschen als Autor einer Ordnung zu verstehen, die immer schon vorausgesetzt werden muß, damit überhaupt sinnvoll von Handlung, Praxis und sich verwirklichender Subjektivität gesprochen werden kann. Ordnung geht stets voran, ist immer schon da: das meint Aristoteles' Diktum, daß die Polis von Natur aus eher sei als der einzelne. Wie aber kann dieses ontologische Erbe in der Moderne beherzigt werden? Indem die Natur durch die Lebenswelt ersetzt wird und die illusionäre Schöpfertat des Subjekts einem "Wiedererkennen der Subjektivität im Gefüge der Institutionen" weicht. Damit ist der Gedankengang bei Hegel angekommen, der in seiner Sittlichkeitskonzeption das neuzeitliche Recht des Individuums auf Freiheit und die Vorrangigkeit der Ordnung verbunden hat.

Sämiger Kommunitarismus

Dieses Wiedererkennen ist ein hermeneutischer Vorgang, der im Horizont des je individuellen Subjekts verbleibt, freilich nur von einem erfahrenen Subjekt vollzogen werden kann, das die harte Arbeit der Bildung schon geleistet hat. Er hat nichts mit der abstrakten Intersubjektivität von Anerkennungsverhältnissen und nichts mit dem sämigen Kollektiv-Wir des Kommunitarismus gemein. Bubners Hegelkapitel, bei weitem das beste des ganzen Buches, macht den großen philosophischen Abstand zwischen der anspruchsvollen Hegelschen Sittlichkeitskonzeption und dem Gefühlsaristotelismus der zeitgenössischen Gemeinschaftsfreunde deutlich.

Worin aber zeigt sich nun der Vernunftgehalt der institutionell gesicherten Lebenswelt? Ein Katalog normativer Prinzipien ist gewiß nicht zur Hand. Der Begreifende ist kein Gerechtigkeitsdesigner, der das kontingent Bestehende mit der Elle ewiggültiger Normen mißt und damit den existierenden Verhältnissen für immer das Los zuteilt, zu spät zu kommen und ungenügend zu sein. Aber ganz ohne Kriterien geht es nicht. Wie wird diese "Wesensverwandtschaft von Subjektivität und Institutionen" also wahrgenommen? Bubner redet hier ein wenig wolkig von der "Durchsichtigkeit des Zusammenhangs der Institutionen". Das wird zwar verständlich, denkt man an die dunklen Maschinenräume der absolutistischen Arkanpolitik oder an das Behördendickicht totalitärer Regime.

Aber worin zeigt sich in modernen, demokratischen Gesellschaften diese Wesensverwandtschaft? Was verbürgt, daß nach dem dialektischen Muster aller idealistischen Bewußtseinsbewegung die Subjektivität sich in dem anderen der Institutionen wiedererkennt? Nach Bubner ist das ihr praxisermöglichender Charakter. Wenn Handeln gelingt, wenn sich das Subjekt im Geflecht der Institutionen mühelos bewegen kann, dann kommt ihm in ihnen Eigenes entgegen. Hegel hat das genetisch-normative Legitimationsmodell des Vertrags durch ein hermeneutisches Legitimationsmodell ersetzt, das dem handlungs-, freiheits- und damit subjektivitätsermöglichenden Allgemeinen die ihm politisch zukommende ontologische Priorität zurückgibt. Den objektiven Geist, Recht und Ordnung, gibt es immer schon, wenn individuelle menschliche Praxis beginnt. Ihn in prekäre Verabreichungen und schwankende intersubjektive Anerkennungsverhältnisse aufzulösen mißversteht seine fundamentale Bedeutung: wann immer irgendein Handeln einsetzt, irgendein Lebensplan sich artikuliert, irgendeine Verabredung getroffen wird, ist das Recht schon da.

Daher ist die hermeneutische Erhellung dem kontraktualistischen Schöpfungsmythos überlegen. Und die sich in ihr betätigende Rationalität, die die Vernunft der Institutionen erfaßt, die unserem Handeln entgegenkommen und unser Leben voranbringen, ist der Gesellschaft bekömmlich. WOLFGANG KERSTING

Rüdiger Bubner: Welche Rationalität bekommt der Gesellschaft? Vier Kapitel aus dem Naturrecht. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1996. 192 S., br., 18,80 DM.

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