Jillian und Jacob Armacost betreiben die größte Galerie für Glaskunst New Yorks. Dabei sind sie ein denkbar ungleiches Paar: Während Jillian seit einem Kindheitserlebnis eine Passion für die Blütenlampen von Tiffany hat und mit Mitte Zwanzig bereits eine führende Expertin für Glas ist, treibt der fast dreißig Jahre ältere Frauenheld Jacob die Galerie mit einem absurden Kauf um ein Haar in den Ruin.
Jillian trifft eine Entscheidung: Sie wird sich von Jacob trennen. Zuvor aber muss sie die Zukunft der Galerie sichern. Eine äußerst wertvolle Sammlung von Glasvasen in Italien erscheint als die letzte Rettung; ohne einen Moment zu zögern, reist sie nach Europa. Jacob, der nichts von ihren Plänen ahnt, ist unterdessen mit einer Kundin aus den besten Kreisen New Yorks an der US-amerikanisch-mexikanischen Grenze unterwegs, um auf seine Weise wieder an Geld zu kommen. Zur gleichen Zeit, als Jillian in Mailand und Venedig ihren größten Coup landet, wird Jacob in Mexiko entführt.
Jillian und Jacob haben ihre Schicksale dem Glas anvertraut. Jillian spekuliert auf die Ewigkeit, Jacob auf ein intensives Jetzt. Durchsichtig und doch unnahbar, lebendig und doch unbewegt ist die Welt aus Glas. Sie bedeutet viel Geld für den, der erkennt, was er sieht. Doch besitzt der einzelne Mensch in einer Welt aus Glas noch eine Seele? Wilde Verfolgungsjagden durch die Straßen von Tijuana und erotische Eskapaden in San Diego und Venedig treiben die Handlung voran. Im neuen großen Roman von Ernst-Wilhelm Händler ergänzen sich action und reflection auf außerordentliche und spannende Weise.
Jillian trifft eine Entscheidung: Sie wird sich von Jacob trennen. Zuvor aber muss sie die Zukunft der Galerie sichern. Eine äußerst wertvolle Sammlung von Glasvasen in Italien erscheint als die letzte Rettung; ohne einen Moment zu zögern, reist sie nach Europa. Jacob, der nichts von ihren Plänen ahnt, ist unterdessen mit einer Kundin aus den besten Kreisen New Yorks an der US-amerikanisch-mexikanischen Grenze unterwegs, um auf seine Weise wieder an Geld zu kommen. Zur gleichen Zeit, als Jillian in Mailand und Venedig ihren größten Coup landet, wird Jacob in Mexiko entführt.
Jillian und Jacob haben ihre Schicksale dem Glas anvertraut. Jillian spekuliert auf die Ewigkeit, Jacob auf ein intensives Jetzt. Durchsichtig und doch unnahbar, lebendig und doch unbewegt ist die Welt aus Glas. Sie bedeutet viel Geld für den, der erkennt, was er sieht. Doch besitzt der einzelne Mensch in einer Welt aus Glas noch eine Seele? Wilde Verfolgungsjagden durch die Straßen von Tijuana und erotische Eskapaden in San Diego und Venedig treiben die Handlung voran. Im neuen großen Roman von Ernst-Wilhelm Händler ergänzen sich action und reflection auf außerordentliche und spannende Weise.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.10.2009Sex, Lügen und Läuterung
Tief ins Glas geschaut: Ernst-Wilhelm Händler schreibt sich in die klassische Moderne zurück und steckt das schmutzige Geschirr des kriselnden Kapitalismus in die Seelenspülmaschine.
Von Oliver Jungen
In vitro veritas. Klar überlegen ist das Glas allen anderen Materialien. Glühend formbar zu sein und nach der Aushärtung beständig, das teilt es noch mit den Metallen, die Zerbrechlichkeit mit der Keramik, seine Transparenz aber ist einzigartig: eine Öffnung in der Welt zu ihrer Seele hin, ein Okular, durch das sich das bunte Leuchtfeuer hinter den Dingen betrachten lässt, wenn man nur Augen dafür hat. Immer schon verneigten sich die größten Geister vor dem Glas, Plinius der Ältere, Hrabanus Maurus, Jahrtausende wurde es mit Gold aufgewogen, bis im neunzehnten Jahrhundert der Wettkampf entschieden war - zugunsten des Glases, wie ihm nicht nur Fontane beschied. Im Glas ist der Atem des Schöpfers konserviert. Je reiner der Atem, desto wertvoller die beseelte Schöpfung. Blasen sind Fehler im Entwurf: "Läuterung" nennt man die Austreibung der Blasen bei der Glasherstellung.
Läuterung steht auch im Zentrum von Ernst-Wilhelm Händlers bald rasantem, bald wertphilosophischem Roman "Welt aus Glas": die Austreibung des Eigensinns, der - so heißt es an einer Stelle - in die Welt kam, als das blasenwerfende Geld den Tod als gestaltende Macht ablöste und der das Gegenteil von Individualität ist, auch wenn er vorspiegelt, eben dies zu sein. Es geht Händler mithin wieder um die letzten Dinge, Glück, Seele, Liebe, Opfer, vor allem aber um eine geradezu heilsgeschichtliche Wertberichtigung: Zwei archetypische Egozentriker, Adam2.0 und Eva2.0, werden wachen Auges in ihre größte Krise geschickt, um die Frage zu beantworten: "Kann sich der Mensch ändern?" Genauer: um diese zweimal gestellte Frage positiv zu beantworten. Die Moral des Buches nämlich ist nichts anderes als Erlösung durch Moral: Der Mensch hat die Macht, aus eigener Kraft eine Kurskorrektur vorzunehmen. Das ist nicht pathetisches Weltverbesserertum, sondern ein Standpunkt von Lutherscher Unverrückbarkeit. Nun gut, ein wenig pathetisch ist es auch.
Das Glas selbst weist den Weg. Die beiden Protagonisten, verheiratet zwar, aber beinahe die gesamte Handlung hindurch ohne Kontakt zueinander, betreiben in New York der Welt bedeutendste Galerie für Glaskunst. Jacob Armacost, ein naiv-draufgängerischer Mittfünfziger, ist kurz zuvor einer Fälschung aufgesessen und hat mit dem Ankauf das Familienunternehmen ruiniert. Nun versuchen er und seine dreißig Jahre jüngere Frau Jillian, auf ihre je eigene Weise schnellstmöglich drei Millionen Euro aufzutreiben, um die Hypothek abzuzahlen, bevor ihnen die Bank das Galeriegebäude nimmt. Jillian, an einer Lichtallergie leidend und so die Welt nur in der Nacht betretend, ist dabei weit erfolgreicher, hat nach zwei An- und Verkäufen wertvoller italienischer Sammlungen das Geld fast beisammen, während ihr Mann, von dem sie sich nach dieser Geschichte ohnehin trennen möchte, einer reichen Kundin nachstellt, aber - mit dieser filmreifen Verfolgungsjagd beginnt der Roman - in Mexiko von einer Bande um den korrupten Polizisten Chuy entführt wird.
Jacobs Welt scheint übersichtlich: "Existierte noch etwas außer Geld, Sex und Kunst? Ihm fiel nichts ein." Auch innerhalb dieser Welt sind die Prioritäten klar: "Erst kamen die Frauen, dann das Glas." Auf seine Liebhaberqualitäten bildet er sich einiges ein. In höchster Bedrängnis - Jacob wird lange in einem Trailer gefangen gehalten und ist einmal dem Tode nah - fragt er sich erstmals, ob er eigentlich ein guter Mensch ist.
Zwar hat er die Kundinnen, mit denen er schlief, nie über den Tisch gezogen: "Trotzdem: Die Idee des Guten konnte nicht im Ficken bestehen." Es ist daher auch eine Abbitte, dass er, bußfertig, die Möglichkeit zur Flucht ausschlägt. Jillian, an Sex (für gewöhnlich mit Frauen) nur drittrangig interessiert, hat ein weit innigeres Verhältnis zu den beiden übrigen, miteinander verschränkten Sphären: "Es war für Jillian unvorstellbar, sich mit anderen Objekten als mit Gläsern zu beschäftigen. Genauso undenkbar war es für sie jedoch, mit den Gläsern in einer Weise umzugehen, bei der das Geld keine wesentliche Rolle spielte." Das ist - trotz der klugen Reflexionen über die Werke von Napoleone Martinuzzi oder Carlo Scarpa - das Gegenteil von Ästhetizismus.
So ist die junge Galeristin durchaus stolz darauf, stets nur einen Teil der mündlich vereinbarten Summen zu zahlen. Mit ihren schwerreichen, durchweg männlichen Kunden pflegt sie äußerst persönliche Beziehungen, die sogar liebevolle Momente kennen. Immer wieder aber treibt Jillian Machtspiele mit ihren Geschäftspartnern. Für sie beginnt in Europa ebenfalls eine Prüfungszeit. In einer Adaption von Kleists Marionettentheaterthese heißt es, im Kunstglas sei der Weg der Seele des Künstlers aufgehoben: Der Betrachter vollziehe das Fühlen und die Phantasie des Künstlers nach. Doch dann steht Jillian vor den reinen, entseelten Gläsern Fulvio Bianconis. Hier, so erkennt sie, ist der Umschlag erreicht (auch das ganz wie bei Kleist): Das Material beherrscht den Schöpfer, die Befreiung von der Vergangenheit beginnt. Die Idee, sterben zu müssen, um leben zu können, keimt in Jillian auf.
In diesem Zustand werden beide Helden mit dem Anderen ihres unbekümmert monetäre oder körperliche Werte umschlagenden Selbst konfrontiert: mit dem nackten, bekümmerten Dasein. Diese dem Tod wie dem Leben eng verbundene Natürlichkeit begegnet Jillian in Form eines psychisch kranken Mädchens: "Der Wahnsinn des Mädchens war uneinholbar." Und sie begegnet Jacob in Form der "einsamen", an der globalen Wirtschaft nur peripher partizipierenden Mexikaner: "Weil sie traurig waren, kannten sie wahre Freude." Die Begegnung mit der Poesie des Lebens im Wahnsinn und im Exotischen ist freilich eine arg romantische Konstellation, wie sie die klassische Moderne liebte.
Überhaupt orientiert sich Händlers denkfreudige Epik an dieser Epoche. Untergründige Beziehungen unterhält das Buch etwa zu dem anderen großen Glasroman der deutschen Literatur, Hermann Hesses "Glasperlenspiel": Ist dort die sauber funktionierende, aber vom Leben abgetrennte Ordnung Kastaliens zu überwinden, so hier die des schmutzig funktionierenden, aber vom Leben abgetrennten Kapitalismus. Der von Verlagsvertretern als "unverkäuflich" kritisierte, altertümliche Einband von Neo Rauch (F.A.Z. vom 22. August) passt also ganz hervorragend zu diesem Roman; und sogar das Unverkäufliche würde sich mit seinem Gehalt vertragen.
Gläsern ist auch der Stil des Romans, der uns durch die Handlung hindurchblicken lässt auf tiefere Schichten wie die Kindheit der Helden oder Praktiken der Gesellschaft. Mit einer Genauigkeit, die dem detailversessensten Murano-Künstler nicht nachsteht, schildert der Erzähler nicht nur die Glaswerke selbst, sondern auch alle Details der Besichtigungen und Verhandlungen Jillians oder der Entführung Jacobs und Madelines. Jede Summe gibt Händler, der studierte Ökonom, mit größter Exaktheit an. Noch beim Versuch der Bewacher Jacobs, hinter dem Rücken Chuys die Kreditkarten des Entführten zu plündern, ist die kleinste Formalität von Bedeutung. Trotz seines gedanklichen Überbaus wirkt der Roman daher nicht verkopft, sondern realitätsgesättigt.
Gleichwohl gibt es narrative Farbverläufe, gleiten wir mit den Helden übergangslos in traumlogische Wunsch- und Angstsequenzen ab. Zudem vermögen alle Beteiligten, auch die Schurken, die Handlung pausieren zu lassen, um zu eigenen Erzählungen anzusetzen, was dem Text dann doch wieder eine experimentelle Aura verleiht, etwas Dreigroschenoperhaftes. Auch auf der Metaebene vollzieht Händlers Prosa damit, was seine Protagonistin der Glaskunst zuschreibt: Beide nämlich bieten keine endgültige Synthese aus Natur und Geist, sondern halten, eben dadurch zur Welt werdend, die Spannungen in sich aus. Um der kathartischen Selbsterlösung einen sichtbaren Ausdruck zu verleihen, lässt Händler seine lichtscheue Heldin zuletzt - durch eine neue Spezialcreme geschützt - einen ganzen Tag lang durch die pralle Sonne laufen: Höhlengleichnis abgeschlossen. Niveau ist keine Creme? Manchmal eben doch.
Ernst-Wilhelm Händler: "Welt aus Glas". Roman. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2009. 608 S., geb., 25,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Tief ins Glas geschaut: Ernst-Wilhelm Händler schreibt sich in die klassische Moderne zurück und steckt das schmutzige Geschirr des kriselnden Kapitalismus in die Seelenspülmaschine.
Von Oliver Jungen
In vitro veritas. Klar überlegen ist das Glas allen anderen Materialien. Glühend formbar zu sein und nach der Aushärtung beständig, das teilt es noch mit den Metallen, die Zerbrechlichkeit mit der Keramik, seine Transparenz aber ist einzigartig: eine Öffnung in der Welt zu ihrer Seele hin, ein Okular, durch das sich das bunte Leuchtfeuer hinter den Dingen betrachten lässt, wenn man nur Augen dafür hat. Immer schon verneigten sich die größten Geister vor dem Glas, Plinius der Ältere, Hrabanus Maurus, Jahrtausende wurde es mit Gold aufgewogen, bis im neunzehnten Jahrhundert der Wettkampf entschieden war - zugunsten des Glases, wie ihm nicht nur Fontane beschied. Im Glas ist der Atem des Schöpfers konserviert. Je reiner der Atem, desto wertvoller die beseelte Schöpfung. Blasen sind Fehler im Entwurf: "Läuterung" nennt man die Austreibung der Blasen bei der Glasherstellung.
Läuterung steht auch im Zentrum von Ernst-Wilhelm Händlers bald rasantem, bald wertphilosophischem Roman "Welt aus Glas": die Austreibung des Eigensinns, der - so heißt es an einer Stelle - in die Welt kam, als das blasenwerfende Geld den Tod als gestaltende Macht ablöste und der das Gegenteil von Individualität ist, auch wenn er vorspiegelt, eben dies zu sein. Es geht Händler mithin wieder um die letzten Dinge, Glück, Seele, Liebe, Opfer, vor allem aber um eine geradezu heilsgeschichtliche Wertberichtigung: Zwei archetypische Egozentriker, Adam2.0 und Eva2.0, werden wachen Auges in ihre größte Krise geschickt, um die Frage zu beantworten: "Kann sich der Mensch ändern?" Genauer: um diese zweimal gestellte Frage positiv zu beantworten. Die Moral des Buches nämlich ist nichts anderes als Erlösung durch Moral: Der Mensch hat die Macht, aus eigener Kraft eine Kurskorrektur vorzunehmen. Das ist nicht pathetisches Weltverbesserertum, sondern ein Standpunkt von Lutherscher Unverrückbarkeit. Nun gut, ein wenig pathetisch ist es auch.
Das Glas selbst weist den Weg. Die beiden Protagonisten, verheiratet zwar, aber beinahe die gesamte Handlung hindurch ohne Kontakt zueinander, betreiben in New York der Welt bedeutendste Galerie für Glaskunst. Jacob Armacost, ein naiv-draufgängerischer Mittfünfziger, ist kurz zuvor einer Fälschung aufgesessen und hat mit dem Ankauf das Familienunternehmen ruiniert. Nun versuchen er und seine dreißig Jahre jüngere Frau Jillian, auf ihre je eigene Weise schnellstmöglich drei Millionen Euro aufzutreiben, um die Hypothek abzuzahlen, bevor ihnen die Bank das Galeriegebäude nimmt. Jillian, an einer Lichtallergie leidend und so die Welt nur in der Nacht betretend, ist dabei weit erfolgreicher, hat nach zwei An- und Verkäufen wertvoller italienischer Sammlungen das Geld fast beisammen, während ihr Mann, von dem sie sich nach dieser Geschichte ohnehin trennen möchte, einer reichen Kundin nachstellt, aber - mit dieser filmreifen Verfolgungsjagd beginnt der Roman - in Mexiko von einer Bande um den korrupten Polizisten Chuy entführt wird.
Jacobs Welt scheint übersichtlich: "Existierte noch etwas außer Geld, Sex und Kunst? Ihm fiel nichts ein." Auch innerhalb dieser Welt sind die Prioritäten klar: "Erst kamen die Frauen, dann das Glas." Auf seine Liebhaberqualitäten bildet er sich einiges ein. In höchster Bedrängnis - Jacob wird lange in einem Trailer gefangen gehalten und ist einmal dem Tode nah - fragt er sich erstmals, ob er eigentlich ein guter Mensch ist.
Zwar hat er die Kundinnen, mit denen er schlief, nie über den Tisch gezogen: "Trotzdem: Die Idee des Guten konnte nicht im Ficken bestehen." Es ist daher auch eine Abbitte, dass er, bußfertig, die Möglichkeit zur Flucht ausschlägt. Jillian, an Sex (für gewöhnlich mit Frauen) nur drittrangig interessiert, hat ein weit innigeres Verhältnis zu den beiden übrigen, miteinander verschränkten Sphären: "Es war für Jillian unvorstellbar, sich mit anderen Objekten als mit Gläsern zu beschäftigen. Genauso undenkbar war es für sie jedoch, mit den Gläsern in einer Weise umzugehen, bei der das Geld keine wesentliche Rolle spielte." Das ist - trotz der klugen Reflexionen über die Werke von Napoleone Martinuzzi oder Carlo Scarpa - das Gegenteil von Ästhetizismus.
So ist die junge Galeristin durchaus stolz darauf, stets nur einen Teil der mündlich vereinbarten Summen zu zahlen. Mit ihren schwerreichen, durchweg männlichen Kunden pflegt sie äußerst persönliche Beziehungen, die sogar liebevolle Momente kennen. Immer wieder aber treibt Jillian Machtspiele mit ihren Geschäftspartnern. Für sie beginnt in Europa ebenfalls eine Prüfungszeit. In einer Adaption von Kleists Marionettentheaterthese heißt es, im Kunstglas sei der Weg der Seele des Künstlers aufgehoben: Der Betrachter vollziehe das Fühlen und die Phantasie des Künstlers nach. Doch dann steht Jillian vor den reinen, entseelten Gläsern Fulvio Bianconis. Hier, so erkennt sie, ist der Umschlag erreicht (auch das ganz wie bei Kleist): Das Material beherrscht den Schöpfer, die Befreiung von der Vergangenheit beginnt. Die Idee, sterben zu müssen, um leben zu können, keimt in Jillian auf.
In diesem Zustand werden beide Helden mit dem Anderen ihres unbekümmert monetäre oder körperliche Werte umschlagenden Selbst konfrontiert: mit dem nackten, bekümmerten Dasein. Diese dem Tod wie dem Leben eng verbundene Natürlichkeit begegnet Jillian in Form eines psychisch kranken Mädchens: "Der Wahnsinn des Mädchens war uneinholbar." Und sie begegnet Jacob in Form der "einsamen", an der globalen Wirtschaft nur peripher partizipierenden Mexikaner: "Weil sie traurig waren, kannten sie wahre Freude." Die Begegnung mit der Poesie des Lebens im Wahnsinn und im Exotischen ist freilich eine arg romantische Konstellation, wie sie die klassische Moderne liebte.
Überhaupt orientiert sich Händlers denkfreudige Epik an dieser Epoche. Untergründige Beziehungen unterhält das Buch etwa zu dem anderen großen Glasroman der deutschen Literatur, Hermann Hesses "Glasperlenspiel": Ist dort die sauber funktionierende, aber vom Leben abgetrennte Ordnung Kastaliens zu überwinden, so hier die des schmutzig funktionierenden, aber vom Leben abgetrennten Kapitalismus. Der von Verlagsvertretern als "unverkäuflich" kritisierte, altertümliche Einband von Neo Rauch (F.A.Z. vom 22. August) passt also ganz hervorragend zu diesem Roman; und sogar das Unverkäufliche würde sich mit seinem Gehalt vertragen.
Gläsern ist auch der Stil des Romans, der uns durch die Handlung hindurchblicken lässt auf tiefere Schichten wie die Kindheit der Helden oder Praktiken der Gesellschaft. Mit einer Genauigkeit, die dem detailversessensten Murano-Künstler nicht nachsteht, schildert der Erzähler nicht nur die Glaswerke selbst, sondern auch alle Details der Besichtigungen und Verhandlungen Jillians oder der Entführung Jacobs und Madelines. Jede Summe gibt Händler, der studierte Ökonom, mit größter Exaktheit an. Noch beim Versuch der Bewacher Jacobs, hinter dem Rücken Chuys die Kreditkarten des Entführten zu plündern, ist die kleinste Formalität von Bedeutung. Trotz seines gedanklichen Überbaus wirkt der Roman daher nicht verkopft, sondern realitätsgesättigt.
Gleichwohl gibt es narrative Farbverläufe, gleiten wir mit den Helden übergangslos in traumlogische Wunsch- und Angstsequenzen ab. Zudem vermögen alle Beteiligten, auch die Schurken, die Handlung pausieren zu lassen, um zu eigenen Erzählungen anzusetzen, was dem Text dann doch wieder eine experimentelle Aura verleiht, etwas Dreigroschenoperhaftes. Auch auf der Metaebene vollzieht Händlers Prosa damit, was seine Protagonistin der Glaskunst zuschreibt: Beide nämlich bieten keine endgültige Synthese aus Natur und Geist, sondern halten, eben dadurch zur Welt werdend, die Spannungen in sich aus. Um der kathartischen Selbsterlösung einen sichtbaren Ausdruck zu verleihen, lässt Händler seine lichtscheue Heldin zuletzt - durch eine neue Spezialcreme geschützt - einen ganzen Tag lang durch die pralle Sonne laufen: Höhlengleichnis abgeschlossen. Niveau ist keine Creme? Manchmal eben doch.
Ernst-Wilhelm Händler: "Welt aus Glas". Roman. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2009. 608 S., geb., 25,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.10.2009Ein ganz schlechtes Zeichen
Ernst-Wilhelm Händlers Roman „Welt aus Glas” ist professionell hergestellt, hier wird geliefert, was man erwarten darf. Gibt es überhaupt einen Autor, der seine Kunst professioneller beherrscht? Von Andreas Dorschel
Glas ist ein seltsamer Stoff - und zwar mindestens in zweierlei Hinblick. Erstens: Sonst pflegen harte Materialien, wie Stahl, viel auszuhalten; Glas aber ist hart und zugleich empfindlich. Und zweitens: Durchsichtig sind sonst Gase, wie die Luft, oder Flüssigkeiten, wie das Wasser; Glas aber ist fest und doch transparent.
Wer sich in einer „Welt aus Glas” bewegte, müsste demnach, erstens, eminent vorsichtig sein. Und er müsste, zweitens, darauf gefasst sein, dass all seine vorsichtigen Bewegungen von anderen wahrgenommen werden – nichts, was er tut, bliebe geheim. Demnach wäre Leben in einer „Welt aus Glas” Menschen unzumutbar. Nur unter der Lizenz zu einem gewissen Grad an Ungeschick sowie an Verborgenheit halten wir die Wirklichkeit – die anderen und am Ende uns selber – aus. Am Glas lockt zwar der Glanz. Doch dieser glänzende Stoff ist lebensfeindlich. Sagen wir von jemandem, er schaue „glasig”, dann weil sein Auge starr erscheint -
unlebendig.
„Welt aus Glas” heißt der neue Roman von Ernst-Wilhelm Händler. Und man geht nicht fehl in der Annahme, dieses Buch lasse seine Protagonisten unter prekären Versuchsbedingungen antreten. Ein waghalsiges Experiment muss das sein: Leben in einer Welt aus Glas.
Mit den ersten Zeilen bereits lässt Händler an der Waghalsigkeit keinen Zweifel. Amerikanische Krimis enden mit einer Verfolgungsjagd; Händler beginnt sein Werk gleich mit einer motorisierten Hatz - es gelingt ihm ein durchaus atemberaubender Einstieg. Die Fetzen an Halbverständlichem, die uns aus dieser Jagd anwehen, exponieren zwar den einen Protagonisten des Romans, Jacob Armacost, in nachvollziehbarer Weise, lassen jedoch zugleich so viel in Verwirrung, um unsere Neugier auf den Punkt hin zu spannen, an dem sich die Zusammenhänge vielleicht klären werden.
Jacob Armacost ist liiert mit der fast dreißig Jahre jüngeren Jillian. Zusammen betreiben sie in New York eine große Galerie für Glaskunst. Dies Zusammen ist freilich zugleich ein Auseinander: denn Jillian Armacost führt die Geschäfte mit Geschick, ja Schliff, während ihr Ehemann entweder mit anderem - mit anderen: Frauen nämlich - beschäftigt ist, oder, sofern er als Händler agiert, ruinöse Ergebnisse einfährt.
Die getrennte Zweisamkeit des ungleichen Paars hat Ernst-Wilhelm Händler zu einer Bauform seines Romans erhoben. Abwechselnd wird Kapitel für Kapitel jeweils nur eine der beiden Figuren vorgestellt, aber auch die Beziehung zur anderen verdeutlicht. Solches geht bei Händler im Großen - schaut man auf das Buch als auf eine ausgedehnte Glasarchitektur - glatt auf. Souverän disponiert er seinen Stoff über 600 Seiten, verliert nicht den Faden, behält den Überblick, schließt die Lücken, plant und erfüllt seinen Plan sodann.
Künstlerisches Gelingen entscheidet sich allerdings erst an der Einzelheit. Und in ihr klickt alsbald die Routine ein. Das Unberechenbare des Romaneinstiegs, des so einfallsreich gestalteten, vermag Händler nicht zu halten. Wie in einem Lehrbuch How to write a novel wird alsbald schematisch geliefert, was man halt so erwarten darf. Eine Person tritt auf, also muss die Person beschrieben werden. „Ihre schulterlangen glatten, nur an den Spitzen leicht gewellten Haare waren blondiert und gesträhnt”, heißt es da. „Sie hatte gerade und schmale, aber trotzdem kräftige Augenbrauen.” Und das Alter? „Sie war siebenundzwanzig, aber sie sah aus wie siebzehn.” Zwei Seiten weiter die nächste Figur. Sie tritt auf, also muss sie beschrieben werden. „Cindi Prescott mochte zwischen dreißig und vierzig Jahre alt sein, ihre kurzen schwarzen Haare, die die Ohren frei ließen, waren über den Augenbrauen gerade abgeschnitten.”
Bis zu den Augenbrauen hin werden hier Posten einer Liste abgehakt. Gewiss ließe sich einwenden, Menschen musterten einander genau so. Nur ist ja sinnliche Wahrnehmung – hier das Sehen – in Sprache ohnehin bereits gebrochen. Und dies Brechen ist in Passagen wie den zitierten eben nicht durchgeführt, sondern derart routiniert auf der Stufe eines Frisörgesprächs angehalten, dass der Autor sich weitere Arbeit am Ausdruck ersparte.
Routine kommt von Route: Der Routinierte geht den gebahnten Weg. Wer heute gebahnte Wege durch Phänomene beschreitet, bewegt sich in Rangtabellen. Vom „Next Topmodel” bis Harvard, Oxford und Cambridge: überall Top Ten. Auch wer sonst nichts von einem Gebiet versteht - dass jemand die Nr. 1 auf dem Gebiet ist, versteht jeder. Wie alle zeitgemäßen Routiniers denkt auch Ernst-Wilhelm Händler in Ratings. „Es gab keine professionellere Verkäuferin als Jillian.” Jillian Armacost war „die wichtigste Glasgaleristin der Welt”. Statt die Heldin in Konstellationen zu zeigen, die, wenn's denn sein muss, ihren Rang klarmachen, wird der Leser mit dem ärmlichen Superlativ eines billigen Adjektivs – „wichtig” – abgefunden.
Dass jedes Rating irgendwann einmal versagen muss, ist Händler nicht entgangen. „Es war unmöglich jemandem, der keine Beziehung zu Glas hatte, die Erlesenheit der Stücke zu vermitteln, die Benford auf seinem Schreibtisch sowie in den Bücherwänden plaziert hatte.” Doch wir brauchen Schriftsteller nicht, damit sie uns sagen, dass sich etwas nicht sagen lässt, sondern damit sie es dennoch sagen – stärker, als unsere Ahnungslosigkeit je sein könnte. Das fahrige „keine Beziehung”, das farblose „vermitteln”, die abstrakte „Erlesenheit” laufen in diesem Satz zusammen in einer Prosa der schriftstellerischen Ausrede.
Dem Leser gibt Ernst-Wilhelm Händler als Grandseigneur des Romans zu verstehen, wer wie er übers Ganze verfüge, könne sich mit dem Kleinkram der wuselnden Wörter nicht allzu sehr abgeben. „Die Maschinenpistolen waren ein ganz schlechtes Zeichen.” Das liest sich wie aus dem amerikanischen Englisch übersetzt und ist doch nur mattes Deutsch. Wo es um Todesangst geht, fiel dem Autor nichts ein als „schlecht”, das allgemeine Wort negativer Wertung – und das poetische Gewissen, das sich gegen derlei gerührt haben mag, beruhigte sich offenbar rasch dabei, gerade so sei es cool.
Dass Coolness ausreiche, glaubt freilich auch Händler nicht. Und so breitet sich in seinem Roman neben der action, der Kolportage und dem small talk eine Metaphysik des Glases aus. „Sie” – die „piante grasse”, die „gläsernen Pflanzen” - „waren Gestaltungen des Lebens, die völlig jenseits der Frage nach dem Sein oder dem Nichtsein in anderen Sphären der Existenz standen.” „Jenseits” ist nicht genug, „völlig jenseits” muss es sein. „Jenseits”, „anders” - dies sind Titel, es nicht zu sagen. Es sind, auch hier, Ausreden. Über Autos, Haare, Augenbrauen, Maschinenpistolen und Geld schreibt Händler auf nachlässige und manchmal lässige Art unterhaltsam; „jenseits” der Unterhaltung führt seine Kunsttheorie hingegen unter diese, in Langeweile.
Wahrscheinlich „gibt es keinen professionelleren” Romancier als Ernst-Wilhelm Händler. Möglicherweise ist er „der wichtigste” Autor der deutschen Romanwelt. Er beherrscht seine Form. Man kann dies bewundern, und viele bewundern es – mit einigem Recht. Vielleicht indes mag die Kunst Herrschaft aller Art nicht so recht und zieht sich vor ihr zurück, selbst aus den Worten. Es ist wie mit Glas: Wer es zu fest anpackt, dem zerspringt es in den Händen. Scherben bringen Glück, sagen wir dann. Schon im Aussprechen aber wissen wir: Es ist eine Ausrede.
Ernst-Wilhelm Händler
Welt aus Glas
Roman. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2009. 608 Seiten, 25 Euro.
Ein waghalsiges Experiment muss das sein: Leben in einer Welt aus Glas
Händler behält den Überblick, schließt die Lücken, plant und erfüllt seinen Plan sodann
Fotos: Stephan Kaluza
Unmöglich, die Erlesenheit solcher Stücke zu vermitteln. Hier: „Blue Crown” des 1922 geborenen Harvey K. Littleton aus dem Indianapolis Museum of Art Foto: The Bridgeman Art Library
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Ernst-Wilhelm Händlers Roman „Welt aus Glas” ist professionell hergestellt, hier wird geliefert, was man erwarten darf. Gibt es überhaupt einen Autor, der seine Kunst professioneller beherrscht? Von Andreas Dorschel
Glas ist ein seltsamer Stoff - und zwar mindestens in zweierlei Hinblick. Erstens: Sonst pflegen harte Materialien, wie Stahl, viel auszuhalten; Glas aber ist hart und zugleich empfindlich. Und zweitens: Durchsichtig sind sonst Gase, wie die Luft, oder Flüssigkeiten, wie das Wasser; Glas aber ist fest und doch transparent.
Wer sich in einer „Welt aus Glas” bewegte, müsste demnach, erstens, eminent vorsichtig sein. Und er müsste, zweitens, darauf gefasst sein, dass all seine vorsichtigen Bewegungen von anderen wahrgenommen werden – nichts, was er tut, bliebe geheim. Demnach wäre Leben in einer „Welt aus Glas” Menschen unzumutbar. Nur unter der Lizenz zu einem gewissen Grad an Ungeschick sowie an Verborgenheit halten wir die Wirklichkeit – die anderen und am Ende uns selber – aus. Am Glas lockt zwar der Glanz. Doch dieser glänzende Stoff ist lebensfeindlich. Sagen wir von jemandem, er schaue „glasig”, dann weil sein Auge starr erscheint -
unlebendig.
„Welt aus Glas” heißt der neue Roman von Ernst-Wilhelm Händler. Und man geht nicht fehl in der Annahme, dieses Buch lasse seine Protagonisten unter prekären Versuchsbedingungen antreten. Ein waghalsiges Experiment muss das sein: Leben in einer Welt aus Glas.
Mit den ersten Zeilen bereits lässt Händler an der Waghalsigkeit keinen Zweifel. Amerikanische Krimis enden mit einer Verfolgungsjagd; Händler beginnt sein Werk gleich mit einer motorisierten Hatz - es gelingt ihm ein durchaus atemberaubender Einstieg. Die Fetzen an Halbverständlichem, die uns aus dieser Jagd anwehen, exponieren zwar den einen Protagonisten des Romans, Jacob Armacost, in nachvollziehbarer Weise, lassen jedoch zugleich so viel in Verwirrung, um unsere Neugier auf den Punkt hin zu spannen, an dem sich die Zusammenhänge vielleicht klären werden.
Jacob Armacost ist liiert mit der fast dreißig Jahre jüngeren Jillian. Zusammen betreiben sie in New York eine große Galerie für Glaskunst. Dies Zusammen ist freilich zugleich ein Auseinander: denn Jillian Armacost führt die Geschäfte mit Geschick, ja Schliff, während ihr Ehemann entweder mit anderem - mit anderen: Frauen nämlich - beschäftigt ist, oder, sofern er als Händler agiert, ruinöse Ergebnisse einfährt.
Die getrennte Zweisamkeit des ungleichen Paars hat Ernst-Wilhelm Händler zu einer Bauform seines Romans erhoben. Abwechselnd wird Kapitel für Kapitel jeweils nur eine der beiden Figuren vorgestellt, aber auch die Beziehung zur anderen verdeutlicht. Solches geht bei Händler im Großen - schaut man auf das Buch als auf eine ausgedehnte Glasarchitektur - glatt auf. Souverän disponiert er seinen Stoff über 600 Seiten, verliert nicht den Faden, behält den Überblick, schließt die Lücken, plant und erfüllt seinen Plan sodann.
Künstlerisches Gelingen entscheidet sich allerdings erst an der Einzelheit. Und in ihr klickt alsbald die Routine ein. Das Unberechenbare des Romaneinstiegs, des so einfallsreich gestalteten, vermag Händler nicht zu halten. Wie in einem Lehrbuch How to write a novel wird alsbald schematisch geliefert, was man halt so erwarten darf. Eine Person tritt auf, also muss die Person beschrieben werden. „Ihre schulterlangen glatten, nur an den Spitzen leicht gewellten Haare waren blondiert und gesträhnt”, heißt es da. „Sie hatte gerade und schmale, aber trotzdem kräftige Augenbrauen.” Und das Alter? „Sie war siebenundzwanzig, aber sie sah aus wie siebzehn.” Zwei Seiten weiter die nächste Figur. Sie tritt auf, also muss sie beschrieben werden. „Cindi Prescott mochte zwischen dreißig und vierzig Jahre alt sein, ihre kurzen schwarzen Haare, die die Ohren frei ließen, waren über den Augenbrauen gerade abgeschnitten.”
Bis zu den Augenbrauen hin werden hier Posten einer Liste abgehakt. Gewiss ließe sich einwenden, Menschen musterten einander genau so. Nur ist ja sinnliche Wahrnehmung – hier das Sehen – in Sprache ohnehin bereits gebrochen. Und dies Brechen ist in Passagen wie den zitierten eben nicht durchgeführt, sondern derart routiniert auf der Stufe eines Frisörgesprächs angehalten, dass der Autor sich weitere Arbeit am Ausdruck ersparte.
Routine kommt von Route: Der Routinierte geht den gebahnten Weg. Wer heute gebahnte Wege durch Phänomene beschreitet, bewegt sich in Rangtabellen. Vom „Next Topmodel” bis Harvard, Oxford und Cambridge: überall Top Ten. Auch wer sonst nichts von einem Gebiet versteht - dass jemand die Nr. 1 auf dem Gebiet ist, versteht jeder. Wie alle zeitgemäßen Routiniers denkt auch Ernst-Wilhelm Händler in Ratings. „Es gab keine professionellere Verkäuferin als Jillian.” Jillian Armacost war „die wichtigste Glasgaleristin der Welt”. Statt die Heldin in Konstellationen zu zeigen, die, wenn's denn sein muss, ihren Rang klarmachen, wird der Leser mit dem ärmlichen Superlativ eines billigen Adjektivs – „wichtig” – abgefunden.
Dass jedes Rating irgendwann einmal versagen muss, ist Händler nicht entgangen. „Es war unmöglich jemandem, der keine Beziehung zu Glas hatte, die Erlesenheit der Stücke zu vermitteln, die Benford auf seinem Schreibtisch sowie in den Bücherwänden plaziert hatte.” Doch wir brauchen Schriftsteller nicht, damit sie uns sagen, dass sich etwas nicht sagen lässt, sondern damit sie es dennoch sagen – stärker, als unsere Ahnungslosigkeit je sein könnte. Das fahrige „keine Beziehung”, das farblose „vermitteln”, die abstrakte „Erlesenheit” laufen in diesem Satz zusammen in einer Prosa der schriftstellerischen Ausrede.
Dem Leser gibt Ernst-Wilhelm Händler als Grandseigneur des Romans zu verstehen, wer wie er übers Ganze verfüge, könne sich mit dem Kleinkram der wuselnden Wörter nicht allzu sehr abgeben. „Die Maschinenpistolen waren ein ganz schlechtes Zeichen.” Das liest sich wie aus dem amerikanischen Englisch übersetzt und ist doch nur mattes Deutsch. Wo es um Todesangst geht, fiel dem Autor nichts ein als „schlecht”, das allgemeine Wort negativer Wertung – und das poetische Gewissen, das sich gegen derlei gerührt haben mag, beruhigte sich offenbar rasch dabei, gerade so sei es cool.
Dass Coolness ausreiche, glaubt freilich auch Händler nicht. Und so breitet sich in seinem Roman neben der action, der Kolportage und dem small talk eine Metaphysik des Glases aus. „Sie” – die „piante grasse”, die „gläsernen Pflanzen” - „waren Gestaltungen des Lebens, die völlig jenseits der Frage nach dem Sein oder dem Nichtsein in anderen Sphären der Existenz standen.” „Jenseits” ist nicht genug, „völlig jenseits” muss es sein. „Jenseits”, „anders” - dies sind Titel, es nicht zu sagen. Es sind, auch hier, Ausreden. Über Autos, Haare, Augenbrauen, Maschinenpistolen und Geld schreibt Händler auf nachlässige und manchmal lässige Art unterhaltsam; „jenseits” der Unterhaltung führt seine Kunsttheorie hingegen unter diese, in Langeweile.
Wahrscheinlich „gibt es keinen professionelleren” Romancier als Ernst-Wilhelm Händler. Möglicherweise ist er „der wichtigste” Autor der deutschen Romanwelt. Er beherrscht seine Form. Man kann dies bewundern, und viele bewundern es – mit einigem Recht. Vielleicht indes mag die Kunst Herrschaft aller Art nicht so recht und zieht sich vor ihr zurück, selbst aus den Worten. Es ist wie mit Glas: Wer es zu fest anpackt, dem zerspringt es in den Händen. Scherben bringen Glück, sagen wir dann. Schon im Aussprechen aber wissen wir: Es ist eine Ausrede.
Ernst-Wilhelm Händler
Welt aus Glas
Roman. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2009. 608 Seiten, 25 Euro.
Ein waghalsiges Experiment muss das sein: Leben in einer Welt aus Glas
Händler behält den Überblick, schließt die Lücken, plant und erfüllt seinen Plan sodann
Fotos: Stephan Kaluza
Unmöglich, die Erlesenheit solcher Stücke zu vermitteln. Hier: „Blue Crown” des 1922 geborenen Harvey K. Littleton aus dem Indianapolis Museum of Art Foto: The Bridgeman Art Library
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Einen rasanten Bestsellerroman, dabei "geistreich und verführerisch", hat Ernst Wilhelm Händler hier vorgelegt, notiert Rezensentin Sabine Franke. Bereitwillig lässt sie sich in den Bann von der Geschichte um den Glaskunsthändler Jacob Armacost schlagen, der an der mexikanischen Grenze mit einer Geliebten um sein Leben bangen muss, während seine Frau Jillian gerade einen Millionencoup einfädelt, der ihr die Trennung von ihm finanzieren soll. Der Rezensentin ist dabei glasklar, dass es sich bei Jacob und Jillian um ein exemplarisches Paar handelt, an dem verschiedene Möglichkeiten der Glückssuche - manchmal durchaus in "enervierenden" philosophischen beziehungsweise "sex- und selbstverliebten" Reflexionen - durchexerziert werden, wie sie uns erklärt. Während Jillian in der Welt der exquisiten Glasobjekte und des Geldes ihr Glück sucht, lässt sich Jacob auf riskante erotische Abenteuer ein, die en detail in "Freilicht-Pornos" inszeniert werden, erfährt man. Dabei kann man Händler allerdings nicht vorwerfen, er konzentriere sich ausschließlich auf eine reiche und schöne Welt, denn in seinen Mexiko-Passagen spielen auch Menschen- und Drogenhandel hinein, erklärt Franke. Die Rezensentin findet es großartig, wie sich Händler der "Mittel des Bestsellers" bedient, um letztlich doch kühl und kalkuliert die moderne Frage nach einer "moralischen Standortbestimmung" zu stellen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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