Der Kieler Kulturphilosoph Ralf Konersmann zeigt: In der europäischen Geschichte waren Maß und Maße, Ethik und Technik, Moral und Wissen zwei Seiten ein und derselben Medaille. Es galt, sich nicht bloß hier oder da, sondern generell an das Maß zu halten - an das, was sowohl sachlich als auch sittlich geboten ist. Konersmann erzählt nun die große Ideengeschichte des Maßes: wie dieses Verhältnis wechselseitiger Bestätigung von Maß und Maßen einmal gedacht und gesichert war, unter welchen Umständen es dennoch zerbrach und welche Konsequenzen das Auseinandertreiben der vormals verbundenen Begriffswelten nach sich zog. Konersmann rückt den heute allgegenwärtigen Vormarsch des Messens, Zählens und Rechnens in eine genealogische Perspektive, durch die wir ihn erst wirklich verstehen - und unsere Gegenwart besser begreifen.
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Rezensentin Christina Lenz sieht die Gefahr eines Kulturpessimismus zwischen den Zeilen von Ralf Konersmanns Geschichte des Maßhaltens. Der Gang des Philosophen durch die abendländische Philosophie, von Platon über den metaphysischen Glauben bis zu den neuzeitlichen Wissenschaften und in die liberale Moderne scheint Lenz zwar durchaus erkenntnisreich und kurzweilig, weil der Autor jede Menge Bezüge zur Literatur und Kunst herstellt, dahinter aber vernimmt die Rezensentin ein Unbehagen an der Gegenwart, das sie lieber ins Progressive gewendet sähe. Wenn der Mensch den Verlust der Verbindlichkeiten und des Maßes überwinden soll, muss er etwas tun, findet sie.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Rezensent Claudio Steiger empfiehlt das Buch des Philosophen Ralf Konersmann. Dass im gerade allgegenwärtigen Begriff "Maßnahme" das "Maß nehmen" steckt, erfährt er bei Konsermann ebenso wie der Autor ihm von der Spaltung von Zahlenmaß und Maß der Dinge berichtet. Dass Konersmann dabei wild durch die Zeiten springt, von Sokrates und Platon zu Francis Bacon, Pascal, Hegel und Hannah Arendt, vom philosophischen Diskurs zur Bildanalyse von Bruegels "Mäßigkeit" strengt Steiger an, belohnt ihn aber auch mit "lustvoll" errungener Erkenntnis. Ein Ungleichgewicht von Konersmanns Kulturkritik zwischen Antike und digitaler Zeit (zugunsten letzterer) stellt Steiger fest, eine lässliche Maßlosigkeit, findet er.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.10.2021Wie passen wir in die Welt?
Ideengeschichte als Kulturkritik: Ralf Konersmann wägt Sentenzen über den Menschen und sein Maß
Im Echoraum der Gegenwart hallen noch Spruchweisheiten aus ferner Vergangenheit nach - auch wenn sie im Stimmengewirr elektrosozialer Nervosität nur mehr verzerrt hörbar sein mögen. Manche der überdauernden Sprüche klingen nicht nach verblasster Weltklugheit von ehedem, sondern muten zeitlos oder nachgerade zeitgemäß an. Zu den leicht aktualisierbaren Sentenzen gehört diejenige vom Menschen, der "das Maß aller Dinge" sei. Wird sie als Formel eines heutigen Selbstverständnisses gelesen, vermittelt sie weniger eine umsichtige Lebensweisheit als vielmehr einen erschreckenden Systemimperativ. Sie könnte jedenfalls der Anmaßung als Devise dienen, mit der der Mensch die Biosphäre seines Heimatplaneten für sich beansprucht und vernutzt.
Tritt man einen Schritt zurück und versteht die Maßgeblichkeit, die der Merkspruch dem Menschen gegenüber den unmaßgeblichen Dingen zuerkennt, nicht umstandslos als Anmaßung, so lässt er sich vergleichsweise "neutral" oder sogar im Sinne einer zu tragenden Verantwortung deuten. Selbst dann jedoch stellt sich die Frage, woher der angeblich Maßgebliche das Maß nimmt, das er allen Dingen sein soll. Kann der Mensch es nach Gutdünken und Belieben setzen? Oder gibt es ihm seine natürliche Ausstattung vor? Sind es seine Sinne, die die Perspektive auf die Welt eröffnen - und zugleich begrenzen?
Fragen wie diese scheinen den Spruch vom Menschen als Maß, den Homo-Mensura-Satz, bereits bei seinem ersten dokumentierten Auftritt begleitet zu haben. Er wird Protagoras zugeschrieben, einem "sophistischen" Philosophen der griechischen Antike, der - im fünften vorchristlichen Jahrhundert - seine denkerischen und rednerischen Fähigkeiten gegen Bezahlung zur Verfügung gestellt haben soll. Dass Protagoras der Urheber des Diktums sei, geht (unter anderem) auf Platon zurück, der es in einem seiner Dialoge Sokrates zitieren lässt.
Den Umstand, dass ein geschachteltes Zitat am überlieferungsgeschichtlichen Anfang des Lehrsatzes steht, interpretiert Ralf Konersmann in seinem Buch "Welt ohne Maß" als Distanzierungsgeste, als Indiz dafür, dass er bereits vor zweieinhalbtausend Jahren kein eigentlicher "Sinnspruch" gewesen sei, keine allen einleuchtende Allerweltsweisheit. Sokrates, Meister fintenreicher Gesprächskunst, gibt im Verlauf des Dialogs der sophistischen Auffassung denn auch nur recht, um über sie hinauszugehen: Die Menschen mögen die Welt nur im Horizont ihrer eigenen Lebensform wahrnehmen können. Aber sie sind imstande, sich dieser ihrer eigenen Befangenheit zumindest bewusst zu werden.
In einem späteren Dialog, den "Gesetzen", geht Platon auf noch deutlicheren Abstand zu dem anthropozentrischen Motto. Dort heißt es: "Die Gottheit dürfte nun für uns am ehesten das Maß aller Dinge sein, und dies weit mehr als etwa, wie manche sagen, irgend so ein Mensch." - "Irgend so ein Mensch": Konersmann interpretiert "Platons wegwerfende Bemerkung" als "Replik auf die Maßlosigkeit derer, die selbst das Maß der Dinge sein wollen". So habe Platon "den Keim zu einer neuen Erzählung" gelegt, zu einer Geschichte, die mit einem durchaus listigen "Akt der Vorsorge" beginnt: Der Mensch trete einem Gott die bürdenreiche Aufgabe ab, Hüter des Maßes zu sein - und stelle so sicher, dass ihm selbst das nun zwar "unverfügbare, aber auch fraglos gegebene Maß" auf Dauer erhalten bleibe.
Die Geschichten und Gegengeschichten, die der Kulturphilosoph - mit ausgeprägtem Sinn für sprachliche Nuancierungen - nachzeichnet, sind ebenso verwickelt wie aufschlussreich. Sie handeln von dem, was heute "Orientierung" und einst "Maß" hieß; davon, wie Menschen in die Welt passen oder nicht passen, welche wechselnden Vorstellungen, Bilder und Begriffe sie sich von einer Ordnung der Dinge machen, wie die Ethik und Kultur des Maßes von einer Technik des Messens überlagert und verdrängt wird, wie aus dem maßhaltenden der messende und schließlich der in doppeltem Sinne "vermessene" Mensch wird.
Der problemgeschichtliche Bogen spannt sich vom delphischen Orakel und von der dort den Ratsuchenden empfangenden Ermahnung "Nichts im Übermaß!" bis zum gegenläufigen Wahlspruch des modernen Zeitgeistes, den Conrad Ferdinand Meyer 1860 formuliert: "Genug ist nicht genug!" - und weiter bis zur spöttischen Assoziation des Maßhaltens mit Mittelmäßigkeit; von der Weisheit des Alten Testaments, die darauf vertraut, dass Gott "alles nach Maß, Zahl und Gewicht geordnet" hat, bis zur Verabsolutierung des Messens und Zählens im Zeitalter der allwissenden und allmächtigen Datenverarbeitungsmaschinerie.
Konersmann deutet verschiedentlich an, der unaufhaltsam scheinende "Vormarsch des Messens, Zählens und Rechnens" sei Ausdruck einer Art von Kompensationsmechanismus. Ungebührlich knapp resümiert: Je orientierungs- und maßloser die Menschen, desto mehr setzen sie aufs Messen. Obgleich die Technologien des Messens und Rechnens ihrerseits zu Vehikeln moderner Maßlosigkeit geworden sind, wächst die Bereitschaft, im Messen und Rechnen Halt und Ordnung zu suchen. Der Autor spricht von einem "Vertrauen in die Exaktheit der Zahlen". Darin habe sich einstiges "Kosmosvertrauen", das Vertrauen auf die Zusicherung einer menschengemäßen Weltordnung, erhalten, dies allerdings lediglich als diffuser Erwartungszusammenhang", der für gewöhnlich "unterhalb der Aufmerksamkeitsschwelle" bleibe. Er ist geneigt, eine solche mentale Disposition als Hohlform eines mythischen Weltbildes zu verstehen oder, mit einer Wendung Max Webers, als "Gespenst ehemals religiöser Glaubensinhalte".
Die Ideen- und Begriffsgeschichte, die Ralf Konersmann mit Gelehrsamkeit betreibt, ist erkennbar von zeitdiagnostischen und kulturkritischen Motiven durchwirkt. Untergangsprophetie ist des Autors Sache jedoch ebenso wenig wie Maschinenstürmerei. Adorno und Blumenberg, könnte man sagen, halten sich in "Welt ohne Maß" die Waage. "Der 'Ruf nach Abhilfe' ist kein philosophischer", wird dem Leser eingangs mit auf den Weg der Lektüre gegeben. Aber aus dem Buch entlassen wird er mit der Hoffnung, dass der Horizont der Zukunft sich öffne, wenn begriffen ist, wie Weichenstellungen der Vergangenheit die Bewusstseinslage der Gegenwart bestimmen. UWE JUSTUS WENZEL
Ralf Konersmann: "Welt ohne Maß".
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2021. 318 S., geb., 26,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ideengeschichte als Kulturkritik: Ralf Konersmann wägt Sentenzen über den Menschen und sein Maß
Im Echoraum der Gegenwart hallen noch Spruchweisheiten aus ferner Vergangenheit nach - auch wenn sie im Stimmengewirr elektrosozialer Nervosität nur mehr verzerrt hörbar sein mögen. Manche der überdauernden Sprüche klingen nicht nach verblasster Weltklugheit von ehedem, sondern muten zeitlos oder nachgerade zeitgemäß an. Zu den leicht aktualisierbaren Sentenzen gehört diejenige vom Menschen, der "das Maß aller Dinge" sei. Wird sie als Formel eines heutigen Selbstverständnisses gelesen, vermittelt sie weniger eine umsichtige Lebensweisheit als vielmehr einen erschreckenden Systemimperativ. Sie könnte jedenfalls der Anmaßung als Devise dienen, mit der der Mensch die Biosphäre seines Heimatplaneten für sich beansprucht und vernutzt.
Tritt man einen Schritt zurück und versteht die Maßgeblichkeit, die der Merkspruch dem Menschen gegenüber den unmaßgeblichen Dingen zuerkennt, nicht umstandslos als Anmaßung, so lässt er sich vergleichsweise "neutral" oder sogar im Sinne einer zu tragenden Verantwortung deuten. Selbst dann jedoch stellt sich die Frage, woher der angeblich Maßgebliche das Maß nimmt, das er allen Dingen sein soll. Kann der Mensch es nach Gutdünken und Belieben setzen? Oder gibt es ihm seine natürliche Ausstattung vor? Sind es seine Sinne, die die Perspektive auf die Welt eröffnen - und zugleich begrenzen?
Fragen wie diese scheinen den Spruch vom Menschen als Maß, den Homo-Mensura-Satz, bereits bei seinem ersten dokumentierten Auftritt begleitet zu haben. Er wird Protagoras zugeschrieben, einem "sophistischen" Philosophen der griechischen Antike, der - im fünften vorchristlichen Jahrhundert - seine denkerischen und rednerischen Fähigkeiten gegen Bezahlung zur Verfügung gestellt haben soll. Dass Protagoras der Urheber des Diktums sei, geht (unter anderem) auf Platon zurück, der es in einem seiner Dialoge Sokrates zitieren lässt.
Den Umstand, dass ein geschachteltes Zitat am überlieferungsgeschichtlichen Anfang des Lehrsatzes steht, interpretiert Ralf Konersmann in seinem Buch "Welt ohne Maß" als Distanzierungsgeste, als Indiz dafür, dass er bereits vor zweieinhalbtausend Jahren kein eigentlicher "Sinnspruch" gewesen sei, keine allen einleuchtende Allerweltsweisheit. Sokrates, Meister fintenreicher Gesprächskunst, gibt im Verlauf des Dialogs der sophistischen Auffassung denn auch nur recht, um über sie hinauszugehen: Die Menschen mögen die Welt nur im Horizont ihrer eigenen Lebensform wahrnehmen können. Aber sie sind imstande, sich dieser ihrer eigenen Befangenheit zumindest bewusst zu werden.
In einem späteren Dialog, den "Gesetzen", geht Platon auf noch deutlicheren Abstand zu dem anthropozentrischen Motto. Dort heißt es: "Die Gottheit dürfte nun für uns am ehesten das Maß aller Dinge sein, und dies weit mehr als etwa, wie manche sagen, irgend so ein Mensch." - "Irgend so ein Mensch": Konersmann interpretiert "Platons wegwerfende Bemerkung" als "Replik auf die Maßlosigkeit derer, die selbst das Maß der Dinge sein wollen". So habe Platon "den Keim zu einer neuen Erzählung" gelegt, zu einer Geschichte, die mit einem durchaus listigen "Akt der Vorsorge" beginnt: Der Mensch trete einem Gott die bürdenreiche Aufgabe ab, Hüter des Maßes zu sein - und stelle so sicher, dass ihm selbst das nun zwar "unverfügbare, aber auch fraglos gegebene Maß" auf Dauer erhalten bleibe.
Die Geschichten und Gegengeschichten, die der Kulturphilosoph - mit ausgeprägtem Sinn für sprachliche Nuancierungen - nachzeichnet, sind ebenso verwickelt wie aufschlussreich. Sie handeln von dem, was heute "Orientierung" und einst "Maß" hieß; davon, wie Menschen in die Welt passen oder nicht passen, welche wechselnden Vorstellungen, Bilder und Begriffe sie sich von einer Ordnung der Dinge machen, wie die Ethik und Kultur des Maßes von einer Technik des Messens überlagert und verdrängt wird, wie aus dem maßhaltenden der messende und schließlich der in doppeltem Sinne "vermessene" Mensch wird.
Der problemgeschichtliche Bogen spannt sich vom delphischen Orakel und von der dort den Ratsuchenden empfangenden Ermahnung "Nichts im Übermaß!" bis zum gegenläufigen Wahlspruch des modernen Zeitgeistes, den Conrad Ferdinand Meyer 1860 formuliert: "Genug ist nicht genug!" - und weiter bis zur spöttischen Assoziation des Maßhaltens mit Mittelmäßigkeit; von der Weisheit des Alten Testaments, die darauf vertraut, dass Gott "alles nach Maß, Zahl und Gewicht geordnet" hat, bis zur Verabsolutierung des Messens und Zählens im Zeitalter der allwissenden und allmächtigen Datenverarbeitungsmaschinerie.
Konersmann deutet verschiedentlich an, der unaufhaltsam scheinende "Vormarsch des Messens, Zählens und Rechnens" sei Ausdruck einer Art von Kompensationsmechanismus. Ungebührlich knapp resümiert: Je orientierungs- und maßloser die Menschen, desto mehr setzen sie aufs Messen. Obgleich die Technologien des Messens und Rechnens ihrerseits zu Vehikeln moderner Maßlosigkeit geworden sind, wächst die Bereitschaft, im Messen und Rechnen Halt und Ordnung zu suchen. Der Autor spricht von einem "Vertrauen in die Exaktheit der Zahlen". Darin habe sich einstiges "Kosmosvertrauen", das Vertrauen auf die Zusicherung einer menschengemäßen Weltordnung, erhalten, dies allerdings lediglich als diffuser Erwartungszusammenhang", der für gewöhnlich "unterhalb der Aufmerksamkeitsschwelle" bleibe. Er ist geneigt, eine solche mentale Disposition als Hohlform eines mythischen Weltbildes zu verstehen oder, mit einer Wendung Max Webers, als "Gespenst ehemals religiöser Glaubensinhalte".
Die Ideen- und Begriffsgeschichte, die Ralf Konersmann mit Gelehrsamkeit betreibt, ist erkennbar von zeitdiagnostischen und kulturkritischen Motiven durchwirkt. Untergangsprophetie ist des Autors Sache jedoch ebenso wenig wie Maschinenstürmerei. Adorno und Blumenberg, könnte man sagen, halten sich in "Welt ohne Maß" die Waage. "Der 'Ruf nach Abhilfe' ist kein philosophischer", wird dem Leser eingangs mit auf den Weg der Lektüre gegeben. Aber aus dem Buch entlassen wird er mit der Hoffnung, dass der Horizont der Zukunft sich öffne, wenn begriffen ist, wie Weichenstellungen der Vergangenheit die Bewusstseinslage der Gegenwart bestimmen. UWE JUSTUS WENZEL
Ralf Konersmann: "Welt ohne Maß".
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2021. 318 S., geb., 26,- Euro.
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Man liest die sanfte Kulturkritik mit Gewinn. Claudio Steiger Neue Zürcher Zeitung 20220110