Der Band zum Materialismus-Streit eröffnet eine Reihe von insgesamt drei Bänden, in denen das spannungsreiche und wechselvolle Verhältnis von Philosophie, Naturwissenschaft, Religion und Weltanschauung im 19. Jahrhundert aus interdisziplinärer Perspektive untersucht wird. Die beiden Folgebände werden den Darwinismus-Streit und den Ignorabimus-Streit thematisieren. Daß die Naturwissenschaften kein eng begrenztes Feld des Wissens darstellen, sondern eine das gesamte materielle wie auch geistige Leben der Gesellschaft durchdringende Macht, bedarf heute kaum noch der Erwähnung. Offensichtlich ist auch, daß diese Durchdringung ein oft schmerzlicher, von heftigen Auseinandersetzungen begleiteter Prozeß war. Obwohl dieser Prozeß bereits früher begann, nahm er im 19. Jahrhundert insofern eine entscheidende Wendung, als sich die Naturwissenschaft hier vehement als ?dritte Kraft? neben ihren beiden wichtigsten weltanschaulichen Konkurrenten (Philosophie und Religion) etablierte ? und diese im Bewußtsein vieler Zeitgenossen sogar überflügelte. Gerade darum ist es dringend geboten, die heute vorherrschende Meinung, die Naturwissenschaften seien geeignet, Weltanschauungen zu begründen, kritisch zu reflektieren.
Die heute vorherrschende Meinung, nur die Naturwissenschaften seien in der Lage, uns das richtige Weltbild zu geben, bedarf der Korrektur. Die Beiträge dieses Bandes zeigen, daß der Diskurs, in dessen Verlauf den Naturwissenschaften im 19. Jahrhundert diese Rolle zugesprochen wurde, sich nicht auf Erkenntnisse stützen kann - sondern auf Fehleinschätzungen darüber beruht, was Naturwissenschaft leistet.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Die heute vorherrschende Meinung, nur die Naturwissenschaften seien in der Lage, uns das richtige Weltbild zu geben, bedarf der Korrektur. Die Beiträge dieses Bandes zeigen, daß der Diskurs, in dessen Verlauf den Naturwissenschaften im 19. Jahrhundert diese Rolle zugesprochen wurde, sich nicht auf Erkenntnisse stützen kann - sondern auf Fehleinschätzungen darüber beruht, was Naturwissenschaft leistet.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.08.2007Darwin leuchtet
Ein dreifacher Großstreit: Was ist der Mensch?
Wie befeuert die Wissenschaftsgeschichte unsere aktuellen, weltanschaulich aufgeladenen Debatten um Evolution, Gen- oder Hirnforschung? Auskunft gibt jetzt eine Trilogie des Felix Meiner Verlags, die ihresgleichen sucht.
Ist das denn nicht alles schon mal da gewesen? Genauso lautet ein oft zu hörender Einwand, wenn Naturwissenschaftler auf eine naturalistische Umarbeitung unseres Weltbilds pochen. Kennt man denn, so geht der Einwand weiter, diese wissenschaftlichen Quartalsfieber nicht gut genug? Hat nicht jeder Paradigmenwechsel in den Naturwissenschaften zu solchen übersteigerten Prognosen geführt, wie sie heute etwa manche Neurowissenschaftler vorbringen? Reicht nicht ein Blick ins neunzehnte Jahrhundert, um zu bemerken, dass es immer bei angekündigten Revolutionen des Menschenbildes blieb?
Nein, so leicht kann man es sich nicht machen. Nicht von der Hand zu weisen ist, dass die wissenschaftliche Durchdringung unserer Welt und unserer selbst heute eine neue Qualität erreicht hat. Sie ist der Hintergrund neuer Deutungsansprüche. Um diese Deutungsansprüche richtig einzuschätzen, kann der historische Rückblick freilich Wunder wirken. Wissenschaftsgeschichte ist ja immer auch ein Instrument, um die aktuelle Wissenschaft in den Blick zu bekommen - die Reichweite ihrer Argumente zu bestimmen, ihre notwendigen Einseitigkeiten in übergreifende Perspektiven zu rücken, klarer und genauer die Frage zu fassen: Was bedeuten die neuen Einsichten für unser Menschenbild?
Wie erhellend Wissenschaftsgeschichte hier tatsächlich ausfallen kann, zeigt jetzt ein großer publizistischer Wurf des Felix Meiner Verlags. Drei Bände, die in ihrer Kompaktheit und Kompetenz ihresgleichen suchen. Jeder von ihnen ist einem historischen Streitfall gewidmet, der wie ein Kristallisationskern opponierende Einschätzungen von naturwissenschaftlichen Weltdeutungen erkennen lässt: Es geht um den "Darwinismus-Streit", den "Materialismus-Streit" und den sogenannten "Ignorabimus-Streit". Ein dreifach gegliederter Großstreit um die Frage: Was ist der Mensch? Unter der Herausgeberschaft von Kurt Bayertz, Myriam Gerhard und Walter Jaeschke wird erstmals eine zusammenhängende Darstellung und Deutung dieser weit über das neunzehnte Jahrhundert hinaus einflussreichen Debatten vorgelegt. Zusammengenommen ergeben sie ein vorzügliches ideengeschichtliches Panorama, das viele Verweise auf die Gegenwart enthält. Die zur Leitwissenschaft aufgerückte Biologie bietet den Einstieg.
"Nichts in der Biologie ergibt Sinn außer im Licht der Evolution." Vor mehr als drei Jahrzehnten brachte der Genetiker und Evolutionsbiologe Theodosius Dobzhansky den Stellenwert der Evolutionstheorie mit diesem Satz auf den Punkt. Die rasante Entwicklung der Biowissenschaften hat ihn bestätigt. Heute ist der Biologie und den mit ihr verknüpften neuen Technologien eine ungeahnte Tragweite zugewachsen. Sie sind der Motor einer Naturalisierung des Bildes von uns selbst. Dabei geht es nicht länger darum, was noch im neunzehnten Jahrhundert bestimmend war: natürliche Anlagen gegen kulturelle Prägungen auszuspielen. Vielmehr lernen wir heute Schritt für Schritt mehr über unsere kulturelle Naturgeschichte, über das Wechselspiel von biologischer Anbahnung und kultureller Formung.
Vor diesem Hintergrund hat sich der Evolutionsgedanke zu einem Erklärungsgrundsatz gemausert, für den Grenzen kaum mehr zu benennen sind. "Universaler Darwinismus" nennen dieses Phänomen die einen, von "Ultradarwinismus" sprechen die Kritiker. Es geht um nicht geringe Einsätze in diesen Debatten. Die heftigen Auseinandersetzungen über naturalistische Erklärungen des Phänomens Religion führen es vor Augen. Noch finden sie hauptsächlich in der angelsächsischen Welt statt. Aber die seit einiger Zeit nach Europa ausgreifende Diskussion über den Stellenwert der Evolutionstheorie und die gegen sie aufgebotene "Theorie" des "Intelligent Design" (ID) zeigt, dass es dabei nicht bleibt. Es ist ja gerade die Wissenschaftskritik, wie sie manche "Kreationisten" und ID-Anhänger vorbringen, die hartgesottene Naturalisten vom Schlage eines Richard Dawkins oder auch einen Daniel Dennett zur Gegenwehr animiert. Es geht um die Frage, ob der naturalistischen Perspektive Grenzen gesetzt sind. Es geht um Weltanschauungen.
Aber schon einmal, das führt die Trilogie aus dem Hause Meiner vor, wurden weltanschaulich geladene Auseinandersetzungen durch naturalistische Forschungsprogramme ausgelöst. Damals, in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, hießen diese Programme noch "materialistisch" oder "mechanisch", aber im Kern formulierten sie Maximen, die durchweg modern anmuten. Das ist kein Zufall, denn sie fallen in eine Phase, in der die Naturwissenschaften zu ihrem bis heute andauernden Aufschwung gerade ansetzten.
Diese Anfangsphase war begleitet von heftigen programmatischen und ideologischen Gefechten. Der 1854 angestoßene "Materialismusstreit" in Deutschland zeigt die neue Qualität der Verbindung von naturwissenschaftlicher Programmatik und politisch-weltanschaulichen Optionen. Zwar formierten sich schon in der Aufklärung vergleichbare Allianzen. Aber nunmehr, so das Argument der entschieden auftretenden Fechter auf der "materialistischen" Seite, sei wissenschaftlich durchführbar geworden, was damals noch bloße Hypothese und Programm geblieben war. Damit trat der moderne Materialismus auf den Plan, der nicht bloß auf die sinnliche Natur abhob, sondern auf die Methoden der Naturwissenschaft. Doch ohne Vorgriffe kam man natürlich damals so wenig aus wie heute, wenn Neurowissenschaftler, gestützt auf diesen inzwischen zur Arbeitsgrundlage gewordenen Materialismus, die Notwendigkeit eines neuen Menschenbildes aus ihren Befunden ableiten. Man ging entschlossen zur Sache, um sich als Vertreter der progressiven Seite zu profilieren. "Ohne Phosphor kein Gedanke", so lautete ein Slogan. Mit Phosphor vielleicht auch noch keiner, hätte eine gelassene Antwort gelautet. Aber Gelassenheit war nicht gefragt. Die Gegenseite hegte so tiefe Sorgen um Moral, Religion und Werte, dass fast jeder Schuss in den Unterbau auch Empfindlichkeiten traf.
Im Materialismusstreit lagen die ideologisch-politischen Optionen zutage, und sie ließen sich relativ leicht ein- und zuordnen. Dasselbe lässt sich vom Darwinismus-Streit, der mit der Veröffentlichung des "Ursprungs der Arten" 1859 einsetzte, nicht ohne weiteres sagen. Gegen alle Vorsichtsmaßnahmen von Darwin selbst setzten die popularisierenden Umbauten zum Zwecke politisch-weltanschaulicher Verwendung zwar schnell ein. Aber sie ließen sich ohne große Schwierigkeiten auf verschiedenen politischen Seiten in Stellung bringen. Außerdem kann von einer religiösen Front kaum gesprochen werden: Den Attacken standen überaus moderate und nicht auf Konfrontation ausgerichtete theologische Lesarten gegenüber. Mit Blick auf in den letzten Jahren geführte Gefechte rund um die Reichweite von darwinistischen Erklärungen möchte man das hervorstreichen. Es ging allerdings unter dem Stichwort "Darwinismus" noch lange nach Darwin um ein Amalgam von Vorstellungen, die mit unseren heutigen Modellen von Evolution eher lose zusammenhängen. Überrascht sieht man, wie spät der Darwinismus ausformuliert wurde, dessen Generalisierung zum "universalen Algorithmus" uns heute beschäftigt.
Auch der Richtungsstreit, der sich an einer 1872 von dem berühmten Physiologen Emil Du Bois-Reymond gehaltenen Rede entzündete, erweist sich als unvermutet modern. Du Bois-Reymonds Hintergrund war zwar ein strikt mechanisches Weltbild, doch die zwei in diesem Rahmen formulierten Fragen, auf die er sein "Wir werden es nie wissen" münzte - deshalb die Bezeichnung "Ignorabimus-Streit" -, sind auch mit heutigen Ansätzen nicht gleich vom Tisch. An der von ihm behaupteten Unmöglichkeit, die subjektiven Qualitäten von Bewusstsein zu erklären, lässt sich das schnell sehen. Auch heute sind einige Denker der Ansicht, dass zwischen der noch so detaillierten Beschreibung der neuronalen Aktivitätsmuster und unseren Empfindungen eine Erklärungslücke klaffe. Während andere, von Ernst Mach aufwärts, dafürhalten, dass die Frage falsch gestellt sei. Hier gebe es gar nichts zu erklären, und deshalb sei der Wissenschaft auch keine Grenze, ob nun unüberschreitbar oder nicht, gezogen.
Du Bois-Reymonds Ignorabimus-Rede war ein Schachzug, der das Gebiet der wissenschaftlichen Erklärungsansprüche sichern sollte, indem er Grenzen eingestand: Was die Erklärung des Geistes betraf und die Frage nach der Natur der mechanischen Kräfte würde man nicht weiterkommen. Eine Limitierung, gegen welche natürlich all jene votierten, die auf grenzenlose Erweiterbarkeit der naturwissenschaftlichen Einsichten bauten.
Welches Resümee lässt sich aus einer derart klug und spannend aufbereiteten Wissenschaftsgeschichte ziehen, wie sie der Meiner Verlag uns präsentiert? Wohl am ehesten, dass man die Etablierung großer Frontlinien und aufs Ganze gehender Attacken besser meiden sollte. Die Welt ist als Orientierungsbegriff nicht Gegenstand der Wissenschaft, deshalb verdankt sich Weltanschauliches immer einem rhetorischen Überschuss. Vermutlich ist ohne ihn nicht auszukommen, aber zu groß sollte man ihn nicht werden lassen. Es besteht dann die Gefahr, in jenen Gestus der großen szientifischen Entzauberungen und komplementären Befürchtungen zu verfallen, den uns die prominenten Streitfälle des neunzehnten Jahrhunderts so schön vor Augen führen. Die Frontalangriffe mancher Hirnforscher auf "das" tradierte Menschenbild und unsere Alltagspsychologie samt Entzauberung des freien Willens können als aktuelles Beispiel dienen. Was an interessanten Forschungsperspektiven entsteht, wird von ihnen oft überblendet.
Der Rückblick auf diese Debatten, mit denen unsere naturwissenschaftlich geprägte Moderne begann, ersetzt keine Argumente. Aber zur Vorsicht kann er mahnen. Denn es könnte ja sein, dass man über den großen Fronten jene kleinen, aber kontinuierlichen Verschiebungen vernachlässigt, mit denen die Konturen unseres Menschenbildes sich im Zeitalter der neuen biowissenschaftlichen Verfügbarkeiten auf viel unspektakulärere, doch stetige Weise verändern. Um "den" freien Willen brauchen wir uns wohl nicht zu sorgen, um seine zukünftigen Entscheidungsspielräume aber schon.
HELMUT MAYER
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein dreifacher Großstreit: Was ist der Mensch?
Wie befeuert die Wissenschaftsgeschichte unsere aktuellen, weltanschaulich aufgeladenen Debatten um Evolution, Gen- oder Hirnforschung? Auskunft gibt jetzt eine Trilogie des Felix Meiner Verlags, die ihresgleichen sucht.
Ist das denn nicht alles schon mal da gewesen? Genauso lautet ein oft zu hörender Einwand, wenn Naturwissenschaftler auf eine naturalistische Umarbeitung unseres Weltbilds pochen. Kennt man denn, so geht der Einwand weiter, diese wissenschaftlichen Quartalsfieber nicht gut genug? Hat nicht jeder Paradigmenwechsel in den Naturwissenschaften zu solchen übersteigerten Prognosen geführt, wie sie heute etwa manche Neurowissenschaftler vorbringen? Reicht nicht ein Blick ins neunzehnte Jahrhundert, um zu bemerken, dass es immer bei angekündigten Revolutionen des Menschenbildes blieb?
Nein, so leicht kann man es sich nicht machen. Nicht von der Hand zu weisen ist, dass die wissenschaftliche Durchdringung unserer Welt und unserer selbst heute eine neue Qualität erreicht hat. Sie ist der Hintergrund neuer Deutungsansprüche. Um diese Deutungsansprüche richtig einzuschätzen, kann der historische Rückblick freilich Wunder wirken. Wissenschaftsgeschichte ist ja immer auch ein Instrument, um die aktuelle Wissenschaft in den Blick zu bekommen - die Reichweite ihrer Argumente zu bestimmen, ihre notwendigen Einseitigkeiten in übergreifende Perspektiven zu rücken, klarer und genauer die Frage zu fassen: Was bedeuten die neuen Einsichten für unser Menschenbild?
Wie erhellend Wissenschaftsgeschichte hier tatsächlich ausfallen kann, zeigt jetzt ein großer publizistischer Wurf des Felix Meiner Verlags. Drei Bände, die in ihrer Kompaktheit und Kompetenz ihresgleichen suchen. Jeder von ihnen ist einem historischen Streitfall gewidmet, der wie ein Kristallisationskern opponierende Einschätzungen von naturwissenschaftlichen Weltdeutungen erkennen lässt: Es geht um den "Darwinismus-Streit", den "Materialismus-Streit" und den sogenannten "Ignorabimus-Streit". Ein dreifach gegliederter Großstreit um die Frage: Was ist der Mensch? Unter der Herausgeberschaft von Kurt Bayertz, Myriam Gerhard und Walter Jaeschke wird erstmals eine zusammenhängende Darstellung und Deutung dieser weit über das neunzehnte Jahrhundert hinaus einflussreichen Debatten vorgelegt. Zusammengenommen ergeben sie ein vorzügliches ideengeschichtliches Panorama, das viele Verweise auf die Gegenwart enthält. Die zur Leitwissenschaft aufgerückte Biologie bietet den Einstieg.
"Nichts in der Biologie ergibt Sinn außer im Licht der Evolution." Vor mehr als drei Jahrzehnten brachte der Genetiker und Evolutionsbiologe Theodosius Dobzhansky den Stellenwert der Evolutionstheorie mit diesem Satz auf den Punkt. Die rasante Entwicklung der Biowissenschaften hat ihn bestätigt. Heute ist der Biologie und den mit ihr verknüpften neuen Technologien eine ungeahnte Tragweite zugewachsen. Sie sind der Motor einer Naturalisierung des Bildes von uns selbst. Dabei geht es nicht länger darum, was noch im neunzehnten Jahrhundert bestimmend war: natürliche Anlagen gegen kulturelle Prägungen auszuspielen. Vielmehr lernen wir heute Schritt für Schritt mehr über unsere kulturelle Naturgeschichte, über das Wechselspiel von biologischer Anbahnung und kultureller Formung.
Vor diesem Hintergrund hat sich der Evolutionsgedanke zu einem Erklärungsgrundsatz gemausert, für den Grenzen kaum mehr zu benennen sind. "Universaler Darwinismus" nennen dieses Phänomen die einen, von "Ultradarwinismus" sprechen die Kritiker. Es geht um nicht geringe Einsätze in diesen Debatten. Die heftigen Auseinandersetzungen über naturalistische Erklärungen des Phänomens Religion führen es vor Augen. Noch finden sie hauptsächlich in der angelsächsischen Welt statt. Aber die seit einiger Zeit nach Europa ausgreifende Diskussion über den Stellenwert der Evolutionstheorie und die gegen sie aufgebotene "Theorie" des "Intelligent Design" (ID) zeigt, dass es dabei nicht bleibt. Es ist ja gerade die Wissenschaftskritik, wie sie manche "Kreationisten" und ID-Anhänger vorbringen, die hartgesottene Naturalisten vom Schlage eines Richard Dawkins oder auch einen Daniel Dennett zur Gegenwehr animiert. Es geht um die Frage, ob der naturalistischen Perspektive Grenzen gesetzt sind. Es geht um Weltanschauungen.
Aber schon einmal, das führt die Trilogie aus dem Hause Meiner vor, wurden weltanschaulich geladene Auseinandersetzungen durch naturalistische Forschungsprogramme ausgelöst. Damals, in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, hießen diese Programme noch "materialistisch" oder "mechanisch", aber im Kern formulierten sie Maximen, die durchweg modern anmuten. Das ist kein Zufall, denn sie fallen in eine Phase, in der die Naturwissenschaften zu ihrem bis heute andauernden Aufschwung gerade ansetzten.
Diese Anfangsphase war begleitet von heftigen programmatischen und ideologischen Gefechten. Der 1854 angestoßene "Materialismusstreit" in Deutschland zeigt die neue Qualität der Verbindung von naturwissenschaftlicher Programmatik und politisch-weltanschaulichen Optionen. Zwar formierten sich schon in der Aufklärung vergleichbare Allianzen. Aber nunmehr, so das Argument der entschieden auftretenden Fechter auf der "materialistischen" Seite, sei wissenschaftlich durchführbar geworden, was damals noch bloße Hypothese und Programm geblieben war. Damit trat der moderne Materialismus auf den Plan, der nicht bloß auf die sinnliche Natur abhob, sondern auf die Methoden der Naturwissenschaft. Doch ohne Vorgriffe kam man natürlich damals so wenig aus wie heute, wenn Neurowissenschaftler, gestützt auf diesen inzwischen zur Arbeitsgrundlage gewordenen Materialismus, die Notwendigkeit eines neuen Menschenbildes aus ihren Befunden ableiten. Man ging entschlossen zur Sache, um sich als Vertreter der progressiven Seite zu profilieren. "Ohne Phosphor kein Gedanke", so lautete ein Slogan. Mit Phosphor vielleicht auch noch keiner, hätte eine gelassene Antwort gelautet. Aber Gelassenheit war nicht gefragt. Die Gegenseite hegte so tiefe Sorgen um Moral, Religion und Werte, dass fast jeder Schuss in den Unterbau auch Empfindlichkeiten traf.
Im Materialismusstreit lagen die ideologisch-politischen Optionen zutage, und sie ließen sich relativ leicht ein- und zuordnen. Dasselbe lässt sich vom Darwinismus-Streit, der mit der Veröffentlichung des "Ursprungs der Arten" 1859 einsetzte, nicht ohne weiteres sagen. Gegen alle Vorsichtsmaßnahmen von Darwin selbst setzten die popularisierenden Umbauten zum Zwecke politisch-weltanschaulicher Verwendung zwar schnell ein. Aber sie ließen sich ohne große Schwierigkeiten auf verschiedenen politischen Seiten in Stellung bringen. Außerdem kann von einer religiösen Front kaum gesprochen werden: Den Attacken standen überaus moderate und nicht auf Konfrontation ausgerichtete theologische Lesarten gegenüber. Mit Blick auf in den letzten Jahren geführte Gefechte rund um die Reichweite von darwinistischen Erklärungen möchte man das hervorstreichen. Es ging allerdings unter dem Stichwort "Darwinismus" noch lange nach Darwin um ein Amalgam von Vorstellungen, die mit unseren heutigen Modellen von Evolution eher lose zusammenhängen. Überrascht sieht man, wie spät der Darwinismus ausformuliert wurde, dessen Generalisierung zum "universalen Algorithmus" uns heute beschäftigt.
Auch der Richtungsstreit, der sich an einer 1872 von dem berühmten Physiologen Emil Du Bois-Reymond gehaltenen Rede entzündete, erweist sich als unvermutet modern. Du Bois-Reymonds Hintergrund war zwar ein strikt mechanisches Weltbild, doch die zwei in diesem Rahmen formulierten Fragen, auf die er sein "Wir werden es nie wissen" münzte - deshalb die Bezeichnung "Ignorabimus-Streit" -, sind auch mit heutigen Ansätzen nicht gleich vom Tisch. An der von ihm behaupteten Unmöglichkeit, die subjektiven Qualitäten von Bewusstsein zu erklären, lässt sich das schnell sehen. Auch heute sind einige Denker der Ansicht, dass zwischen der noch so detaillierten Beschreibung der neuronalen Aktivitätsmuster und unseren Empfindungen eine Erklärungslücke klaffe. Während andere, von Ernst Mach aufwärts, dafürhalten, dass die Frage falsch gestellt sei. Hier gebe es gar nichts zu erklären, und deshalb sei der Wissenschaft auch keine Grenze, ob nun unüberschreitbar oder nicht, gezogen.
Du Bois-Reymonds Ignorabimus-Rede war ein Schachzug, der das Gebiet der wissenschaftlichen Erklärungsansprüche sichern sollte, indem er Grenzen eingestand: Was die Erklärung des Geistes betraf und die Frage nach der Natur der mechanischen Kräfte würde man nicht weiterkommen. Eine Limitierung, gegen welche natürlich all jene votierten, die auf grenzenlose Erweiterbarkeit der naturwissenschaftlichen Einsichten bauten.
Welches Resümee lässt sich aus einer derart klug und spannend aufbereiteten Wissenschaftsgeschichte ziehen, wie sie der Meiner Verlag uns präsentiert? Wohl am ehesten, dass man die Etablierung großer Frontlinien und aufs Ganze gehender Attacken besser meiden sollte. Die Welt ist als Orientierungsbegriff nicht Gegenstand der Wissenschaft, deshalb verdankt sich Weltanschauliches immer einem rhetorischen Überschuss. Vermutlich ist ohne ihn nicht auszukommen, aber zu groß sollte man ihn nicht werden lassen. Es besteht dann die Gefahr, in jenen Gestus der großen szientifischen Entzauberungen und komplementären Befürchtungen zu verfallen, den uns die prominenten Streitfälle des neunzehnten Jahrhunderts so schön vor Augen führen. Die Frontalangriffe mancher Hirnforscher auf "das" tradierte Menschenbild und unsere Alltagspsychologie samt Entzauberung des freien Willens können als aktuelles Beispiel dienen. Was an interessanten Forschungsperspektiven entsteht, wird von ihnen oft überblendet.
Der Rückblick auf diese Debatten, mit denen unsere naturwissenschaftlich geprägte Moderne begann, ersetzt keine Argumente. Aber zur Vorsicht kann er mahnen. Denn es könnte ja sein, dass man über den großen Fronten jene kleinen, aber kontinuierlichen Verschiebungen vernachlässigt, mit denen die Konturen unseres Menschenbildes sich im Zeitalter der neuen biowissenschaftlichen Verfügbarkeiten auf viel unspektakulärere, doch stetige Weise verändern. Um "den" freien Willen brauchen wir uns wohl nicht zu sorgen, um seine zukünftigen Entscheidungsspielräume aber schon.
HELMUT MAYER
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