Jürgen Trabant beschreibt die wichtigsten Etappen in der Entwicklung von Humboldts Sprachauffassung und diskutiert die Stellung dieses Sprachdenkens in Philosophie, Sprachwissenschaft und Anthropologie. In einer Zeit zunehmender Sprachvergessenheit möchte es nicht nur den sprachthematisierenden Disziplinen, sondern allen an Sprache Interessierten Humboldts großes und tiefes Sprachdenken zum Mit-Denken empfehlen. Wilhelm von Humboldt, der große Staatsmann und Gründer der Berliner Universität, war auch ein großer Sprachforscher. Er erkannte, dass Sprachen nicht nur verschiedene Laute sind, sondern dass sie die Bedeutungen jeweils unterschiedlich gestalten, dass sie - auf der Grundlage universeller kognitiver Dispositionen des Menschen - verschiedene Weisen menschlichen Denkens, verschiedene "Weltansichten" sind. Er entwirft ein umfassendes Projekt zur Erforschung der Sprachen der Welt, das gleichzeitig eine Erkundung der Vielfalt des menschlichen Geistes sein soll. Das vorliegende Buch skizziert die Reise Humboldts in die Sprachen der Welt und fragt nach den Folgen dieses anthropologischen Projekts für die heutige Reflexion und Kultur der Sprache.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Mit diesem Autor fühlt sich Thomas Thiel am Nabel der Sprachwissenschaft. Dabei weiß er, dass der Autor mit seiner essayistischen Präsentation von Humboldts ästhetischem Sprachverständnis eigentlich alte Suppen aufwärmt. Nur macht Jürgen Trabant das eben derart gekonnt, dass Thiel sich inmitten aktueller Diskurse um Relativismus, Universalismus und Naturalismus wähnt, mit Humboldt als Widersacher, der den kreativen, rhetorischen Akt des Sprechens verteidigt gegenüber Grammatik und Pragmatismus.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 11.02.2013Portionen des Denkens
Jürgen Trabant erhellt Humboldts Sprachbegriff, der auf Individualität und Verschiedenheit zielte
„Schon das Kind sehnt sich über die Hügel, die Gebirge, die Seen hinaus, die seine enge Heimat umschließen, und sich dann gleich wieder pflanzenartig zurück, wie das überhaupt das Rührende und Schöne im Menschen ist, dass Sehnsucht nach Erwünschtem und Verlorenem ihn immer bewahrt, ausschließlich am Augenblicke zu haften.“
Am 28. Januar 1828 trug Wilhelm von Humboldt in der Berliner Akademie der Wissenschaften seine Abhandlung „Über die Sprachen der Südseeinseln“ vor und begründete, warum dieser so entfernte Gegenstand unser Interesse beanspruchen kann. Er diagnostiziert eine neue Entwicklung – Humboldt nennt sie einen Beweis der „Vervollkommnung des ganzen (Menschen-)Geschlechts“ –, die Vorurteile zwischen den Menschen aufzuheben, „und die gesamte Menschheit ohne Rücksicht auf Religion, Nation und Farbe als Einen großen, nahe verbrüderten Stamm, ein zu Erreichung Eines Zweckes, der freien Entwicklung innerlicher Kraft bestehendes Ganzes zu behandeln“. Dass dieses Ganze in sich sprachlich unterschieden ist, das schafft ein Problem, doch ein willkommenes. Es weckt in uns die Sehnsucht, die das Kind verspürt, über die Hügel der Heimat hinauszuziehen, es bewahrt vor dem selbstzufriedenen Versinken im „Augenblick“.
Das traditionelle Sprachdenken, jedenfalls in seinem stärkeren Zweig, hatte die Vielzahl der Sprachen ganz anders gesehen, als bloße Verwirrung der Kommunikation, wie die Genesis die Geschichte vom Turmbau zu Babel erzählt. Und so beurteilt es mit seiner über die Jahrhunderte wirkenden Autorität auch Aristoteles: Sprachliche Verschiedenheit ist nur eine materielle Verschiedenheit der Laute, die das Eigentliche, die Gedanken, nicht berührt. Denn der Gedanke ist das eine, ein anderes der sprachliche Ausdruck, der ihm zugeordnet ist und zwar kontingent zugeordnet. Sprache ist danach kein attraktiver Gegenstand der Philosophie. Wilhelm von Humboldt ist nicht der erste, der auf einem neuen Weg über Sprache denkt, aber der größte, zumindest für den Linguisten Jürgen Trabant. Trabant hat sich über Jahrzehnte mit Humboldt beschäftigt und seine im Laufe der letzten zwanzig Jahre entstandenen Beiträge nun zu einem Buch vereinigt: „Weltansichten. Wilhelm von Humboldts Sprachprojekt“.
Versammelte Aufsätze, das hört sich nach einem Angebot für Spezialisten an. Doch hier ist es anders. Die Kapitel ordnen sich zu einem enzyklopädischen Gang durch Humboldts Sprachdenken, Doppelungen halten sich in Grenzen. Vor allem aber ist Trabant von seinem Gegenstand begeistert, und er weiß diese Begeisterung mitzuteilen, auch dem, der mit Linguistik bisher nichts zu tun hatte. Sprache und die Verschiedenheit der Sprachen machen unsere Orientierung in der Welt aus. Sprachen, so Humboldt, sind nicht eigentlich Mittel, „die schon erkannte Wahrheit darzustellen, sondern weit mehr, die vorher unerkannte zu entdecken. Ihre Verschiedenheit ist nicht eine von Schällen und Zeichen, sondern eine Verschiedenheit der Weltansichten selbst“.
Sprache ist ein kommunikatives, aber mehr noch ein kognitives, erkenntnisermöglichendes Instrument. Sie erst bildet „Portionen des Denkens“, hält diese Portionen wiederum zusammen und das in den verschiedenen Sprachen auf verschiedene Weise.
Deshalb ist für Humboldt jede Sprache von Interesse. Jede trägt das Ihre zur Gesamtheit der geistigen Möglichkeiten der Menschheit bei, auch wenn gewisse Sprachen wie Griechisch und Sanskrit Humboldt bedeutender scheinen als andere. Aber was ist dieses Spezifische der einzelnen Sprachen, ihr „Charakter“, ihre „Weltansicht“, die für Humboldt und Trabant erst den eigentlichen Zweck und Reiz des Sprachenstudiums ausmachen?
Weltansicht ist nicht Weltanschauung. Was die Weltansicht, die eine Sprache eröffnet, ausmacht, ist nicht leicht zu sagen, Humboldt selbst spricht von „Ahndung“, nicht von sicherem Wissen. Eine „allzu mächtige kognitive Tiefe“ will auch Trabant den einzelnen Sprachen nicht zumessen. Wenn allein das Deutsche das Wort „Schadenfreude“ kennt (ist das wirklich so?), dann heißt das nicht, dass anderen Völkern dieses Gefühl fremd wäre. Die Hopi-Indianer sollen keine temporalen Morpheme kennen, daraus hat der Linguist B. L. Whorf den Schluss gezogen, die Hopi könnten die Zeit nicht denken. Das wird wohl Unfug sein. Und auch die verbreitete Meinung, das Französische und die Franzosen zeichneten sich durch besondere clarté aus, gilt heute nicht mehr viel. Was also macht die Weltansicht aus? Sprachen sind kein Gefängnis des Denkens, sie schaffen Möglichkeiten, schreibt Trabant. Aber sind fehlende Möglichkeiten nicht doch Zwänge, jedenfalls Einschränkungen? Ein Beispiel für die Charakterzeichnung einer Sprache hat Humboldt gegeben, als er über das klassische Griechisch sprach und dessen „nach Freiheit und Obermacht ringende volkstümliche Beweglichkeit“. Mit dem Ende der politischen Unabhängigkeit sei dies „beseelende Prinzip“ erstorben. Die Griechen hätten sich einer systematischen Beschreibung der Welt zugewandt, die „Welt der Objekte“ habe das „subjektive Schaffen“ überwuchert, mit der politischen habe sich die geistige Freiheit verloren. Redet Humboldt hier über die Sprache der Griechen oder über ihre Literatur? Er redet über beides, das will er auch. Für Humboldt sind Sprache und Literatur nicht getrennt zu behandeln. Es ist, wie sich Trabant ausdrückt, „der Freiheitskampf des einzelnen Sprechers gegen die sozialen Gesetzmäßigkeiten, der den Sprachen ihren Charakter verleiht“, dieser Kampf, den man auch Synthesis nennen könnte, findet in den großen literarischen, philosophischen, wissenschaftlichen Texten statt.
Die Sprachwissenschaftler des 19. Jahrhunderts haben vorrangig historisch gedacht. Sie beschrieben die Verwandtschaften der Sprachen in Sprachfamilien, zielten also auf Identität. Auf andere Weise tut das, wie Trabant findet, auch die moderne, amerikanisch geprägte Linguistik, die nur die eigene Sprache kenne und zur Kenntnis nehme. Humboldts Sprachdenken zielt auf Individualität und Verschiedenheit. Diese Verschiedenheit liebt und bewundert auch Trabant.
STEPHAN SPEICHER
Jürgen Trabant : Weltansichten. Wilhelm von Humboldts Sprachprojekt. C.H. Beck, München 2012. 352 Seiten, 39,95 Euro.
Der Autor ist von seinem
Gegenstand begeistert – der
Funken springt auf den Leser über
Für Wilhelm von Humboldt trug jede Sprache zum Gesamt der geistigen Möglichkeiten der Menschen bei.
FOTO: SCHERL
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Jürgen Trabant erhellt Humboldts Sprachbegriff, der auf Individualität und Verschiedenheit zielte
„Schon das Kind sehnt sich über die Hügel, die Gebirge, die Seen hinaus, die seine enge Heimat umschließen, und sich dann gleich wieder pflanzenartig zurück, wie das überhaupt das Rührende und Schöne im Menschen ist, dass Sehnsucht nach Erwünschtem und Verlorenem ihn immer bewahrt, ausschließlich am Augenblicke zu haften.“
Am 28. Januar 1828 trug Wilhelm von Humboldt in der Berliner Akademie der Wissenschaften seine Abhandlung „Über die Sprachen der Südseeinseln“ vor und begründete, warum dieser so entfernte Gegenstand unser Interesse beanspruchen kann. Er diagnostiziert eine neue Entwicklung – Humboldt nennt sie einen Beweis der „Vervollkommnung des ganzen (Menschen-)Geschlechts“ –, die Vorurteile zwischen den Menschen aufzuheben, „und die gesamte Menschheit ohne Rücksicht auf Religion, Nation und Farbe als Einen großen, nahe verbrüderten Stamm, ein zu Erreichung Eines Zweckes, der freien Entwicklung innerlicher Kraft bestehendes Ganzes zu behandeln“. Dass dieses Ganze in sich sprachlich unterschieden ist, das schafft ein Problem, doch ein willkommenes. Es weckt in uns die Sehnsucht, die das Kind verspürt, über die Hügel der Heimat hinauszuziehen, es bewahrt vor dem selbstzufriedenen Versinken im „Augenblick“.
Das traditionelle Sprachdenken, jedenfalls in seinem stärkeren Zweig, hatte die Vielzahl der Sprachen ganz anders gesehen, als bloße Verwirrung der Kommunikation, wie die Genesis die Geschichte vom Turmbau zu Babel erzählt. Und so beurteilt es mit seiner über die Jahrhunderte wirkenden Autorität auch Aristoteles: Sprachliche Verschiedenheit ist nur eine materielle Verschiedenheit der Laute, die das Eigentliche, die Gedanken, nicht berührt. Denn der Gedanke ist das eine, ein anderes der sprachliche Ausdruck, der ihm zugeordnet ist und zwar kontingent zugeordnet. Sprache ist danach kein attraktiver Gegenstand der Philosophie. Wilhelm von Humboldt ist nicht der erste, der auf einem neuen Weg über Sprache denkt, aber der größte, zumindest für den Linguisten Jürgen Trabant. Trabant hat sich über Jahrzehnte mit Humboldt beschäftigt und seine im Laufe der letzten zwanzig Jahre entstandenen Beiträge nun zu einem Buch vereinigt: „Weltansichten. Wilhelm von Humboldts Sprachprojekt“.
Versammelte Aufsätze, das hört sich nach einem Angebot für Spezialisten an. Doch hier ist es anders. Die Kapitel ordnen sich zu einem enzyklopädischen Gang durch Humboldts Sprachdenken, Doppelungen halten sich in Grenzen. Vor allem aber ist Trabant von seinem Gegenstand begeistert, und er weiß diese Begeisterung mitzuteilen, auch dem, der mit Linguistik bisher nichts zu tun hatte. Sprache und die Verschiedenheit der Sprachen machen unsere Orientierung in der Welt aus. Sprachen, so Humboldt, sind nicht eigentlich Mittel, „die schon erkannte Wahrheit darzustellen, sondern weit mehr, die vorher unerkannte zu entdecken. Ihre Verschiedenheit ist nicht eine von Schällen und Zeichen, sondern eine Verschiedenheit der Weltansichten selbst“.
Sprache ist ein kommunikatives, aber mehr noch ein kognitives, erkenntnisermöglichendes Instrument. Sie erst bildet „Portionen des Denkens“, hält diese Portionen wiederum zusammen und das in den verschiedenen Sprachen auf verschiedene Weise.
Deshalb ist für Humboldt jede Sprache von Interesse. Jede trägt das Ihre zur Gesamtheit der geistigen Möglichkeiten der Menschheit bei, auch wenn gewisse Sprachen wie Griechisch und Sanskrit Humboldt bedeutender scheinen als andere. Aber was ist dieses Spezifische der einzelnen Sprachen, ihr „Charakter“, ihre „Weltansicht“, die für Humboldt und Trabant erst den eigentlichen Zweck und Reiz des Sprachenstudiums ausmachen?
Weltansicht ist nicht Weltanschauung. Was die Weltansicht, die eine Sprache eröffnet, ausmacht, ist nicht leicht zu sagen, Humboldt selbst spricht von „Ahndung“, nicht von sicherem Wissen. Eine „allzu mächtige kognitive Tiefe“ will auch Trabant den einzelnen Sprachen nicht zumessen. Wenn allein das Deutsche das Wort „Schadenfreude“ kennt (ist das wirklich so?), dann heißt das nicht, dass anderen Völkern dieses Gefühl fremd wäre. Die Hopi-Indianer sollen keine temporalen Morpheme kennen, daraus hat der Linguist B. L. Whorf den Schluss gezogen, die Hopi könnten die Zeit nicht denken. Das wird wohl Unfug sein. Und auch die verbreitete Meinung, das Französische und die Franzosen zeichneten sich durch besondere clarté aus, gilt heute nicht mehr viel. Was also macht die Weltansicht aus? Sprachen sind kein Gefängnis des Denkens, sie schaffen Möglichkeiten, schreibt Trabant. Aber sind fehlende Möglichkeiten nicht doch Zwänge, jedenfalls Einschränkungen? Ein Beispiel für die Charakterzeichnung einer Sprache hat Humboldt gegeben, als er über das klassische Griechisch sprach und dessen „nach Freiheit und Obermacht ringende volkstümliche Beweglichkeit“. Mit dem Ende der politischen Unabhängigkeit sei dies „beseelende Prinzip“ erstorben. Die Griechen hätten sich einer systematischen Beschreibung der Welt zugewandt, die „Welt der Objekte“ habe das „subjektive Schaffen“ überwuchert, mit der politischen habe sich die geistige Freiheit verloren. Redet Humboldt hier über die Sprache der Griechen oder über ihre Literatur? Er redet über beides, das will er auch. Für Humboldt sind Sprache und Literatur nicht getrennt zu behandeln. Es ist, wie sich Trabant ausdrückt, „der Freiheitskampf des einzelnen Sprechers gegen die sozialen Gesetzmäßigkeiten, der den Sprachen ihren Charakter verleiht“, dieser Kampf, den man auch Synthesis nennen könnte, findet in den großen literarischen, philosophischen, wissenschaftlichen Texten statt.
Die Sprachwissenschaftler des 19. Jahrhunderts haben vorrangig historisch gedacht. Sie beschrieben die Verwandtschaften der Sprachen in Sprachfamilien, zielten also auf Identität. Auf andere Weise tut das, wie Trabant findet, auch die moderne, amerikanisch geprägte Linguistik, die nur die eigene Sprache kenne und zur Kenntnis nehme. Humboldts Sprachdenken zielt auf Individualität und Verschiedenheit. Diese Verschiedenheit liebt und bewundert auch Trabant.
STEPHAN SPEICHER
Jürgen Trabant : Weltansichten. Wilhelm von Humboldts Sprachprojekt. C.H. Beck, München 2012. 352 Seiten, 39,95 Euro.
Der Autor ist von seinem
Gegenstand begeistert – der
Funken springt auf den Leser über
Für Wilhelm von Humboldt trug jede Sprache zum Gesamt der geistigen Möglichkeiten der Menschen bei.
FOTO: SCHERL
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.06.2013Grammatik ist gut, aber Rhetorik ist noch besser
Jürgen Trabant bringt Wilhelm von Humboldts Sprachtheorie gegen Positionen heutiger Linguistik in Stellung
Wilhelm von Humboldt, Bildungstheoretiker, Staatsmann, Sprachphilosoph, hatte zuletzt Zuspruch von unerwarteter Seite. Mitglieder der Piratenpartei griffen in ihrem unendlichen Selbstfindungsprozess auch auf seine Schrift "Die Grenzen der Wirksamkeit des Staates" zurück, in der Humboldt für die Selbstbeschränkung des Staates im Namen individueller Entfaltung plädiert, ohne dem Staat seine generelle Leitungsfunktion streitig zu machen. Man findet diesen Gedanken auch in seiner Sprachtheorie. Es gibt universelle Gesetze, sagt er hier, Grundprinzipien, auf die jeder Sprecher Bezug nimmt, aber darunter oder darüber entfaltet sich das Reich der Einzelsprachen in seinen Farben und Nuancen. Das Allgemeine erkennt Humboldt an, das Individuelle feiert er.
Etwas zufällig schneit jetzt das Buch des Romanisten Jürgen Trabant herein, der schon viel über Humboldt geschrieben hat und seine Gedanken noch einmal essayistisch aufzubereiten scheint. Das Buch ordnet Humboldts Sprachperspektivismus aber so überzeugend in die linguistische Diskussion um Relativismus, Universalismus und Naturalismus ein, dass an seiner Aktualität gar kein Zweifel besteht.
Trabant bringt Humboldt als ästhetischen Widersacher der dominierenden Sprachtheorie in Stellung. Humboldt war im Grunde mehr Sprachästhet als Linguist. Seine Sprachforschung ist im Herzen eine Rhetorik. Humboldt sieht zwar die Notwendigkeit ein, die Sprache grammatisch zu zergliedern, erforscht selbst die amerikanischen Sprachen, das Baskische, die Kawi-Sprachen im Detail. Ihn interessiert aber vor allem die Vielfalt der Sprachen, ihr Stil, ihr Charakter. Jede Sprache ist für ihn eine Welt für sich.
Humboldt stellt sich damit gegen die klassische Zeichentheorie, die in der Sprache ein fixes Abbild sprachunabhängiger Realitäten sieht. Seit der babylonischen Sprachverwirrung war man gewohnt, Sprachvielfalt als Strafe zu empfinden. Humboldt sieht es anders. Sprache ist bei ihm ein schöpferischer Akt, der Wirklichkeit nicht nur abbildet, sondern in vielen Formen gestaltet. Nur in der Verkehrssprache unterhalten Sprache und Denken starre Verbindungen. Im höheren Gebrauch - und für ihn interessiert sich Humboldt vor allem - ist Sprache kein totes Gerippe, sondern ein lebender Organismus, der nicht nur Gegenstände beschreibt, sondern auch unsere Empfindungen, Wertungen und Interpretationen. Mit dieser Aufwertung der Rhetorik gegenüber der Grammatik ist Humboldt näher an der Philologie als an der Linguistik seiner Zeit.
Die historisch-vergleichende Sprachwissenschaft, die sich damals mit Jacob Grimm und Franz Bopp formierte, ging den umgekehrten Weg zur Volkskunde und zur Naturwissenschaft. Sie sucht nach Gesetzen, klassifiziert, typologisiert. Sprache wird zum Naturgegenstand. Gleichzeitig geht man auf Distanz zur Philologie. Die naturwissenschaftlich orientierte Linguistik interessiert die Regel, nicht die literarische Ausnahme.
Humboldts kommt dagegen über die Anthropologie, weil er glaubt, humane Potentiale über die Sprache am besten fassen zu können. Seine Anthropologie setzt aber nicht bei "den Wilden", sondern bei den höchsten Ausdrucksformen an. Humboldt findet sie in der Antike und der Literatur. Das Regelwerk der Sprache bleibt ihm zwar wichtig, aber es ist nur die Vorbereitung für das Studium des Charakters der Sprache. Diese feinen Schwebungen kann man natürlich nur ahnen, aber nicht im objektiven Sinn erkennen.
Drei Gegner dieser Sprachhermeneutik sieht Trabant heute: Neben Naturalismus und der Esoterik, die als Auffangbecken der entsorgten Hermeneutik bereitsteht, ist der dritte der Relativismus. Der Gedanke, dass Sprache unser Denken bis ins Letzte beherrscht, ist gar nicht so alt, klingt im Realismus unserer Tage aber als die kuriose Erfindung einer weit zurückliegenden Epoche, die sich heillos in die Medialität des Denkens verstrickt hatte.
Trabant bezieht deutlich Position gegen einen Relativismus à la Sapir/Whorf, der das Individuum in seiner Nationalsprache geradezu festnagelte. Die Hopi-Indianer, behauptete Benjamin Whorf, könnten keine Zeit denken, weil ihre Sprache keine Tempusbestimmungen enthalte. Gleichzeitig wendet sich Trabant gegen den Umkehrschwung in einen platten Realismus. Die Sprache prägt und färbt das Denken. Sie ist aber kein störender Filter, wie die Philosophie ihr vorhielt, sondern eine kreative Kraft. Sie entfaltet das Denken.
Der Autor wendet sich mit Humboldt gegen eine kommunikativ-pragmatische Auffassung, die viel zu wenig zur poetischen Funktion der Sprache zu sagen hat. Und er kritisiert eine naturalistische Linguistik, die mit der Entdeckung von Sprachgenen alles über die Sprachen gesagt haben will. Auch die heutige kognitive Linguistik feiert Sprache wieder als Ausdruck des Geistes. Aber ihr mind ist nicht beweglich und kulturell gefärbt wie Humboldts Geist, sondern statisch und rational. Humboldts Geist weht nur, wo alle Gemütskräfte wirken.
Jürgen Trabant weiß natürlich, dass er hier von einem linguistischen Nicht-Ort aus mit einer Stimme aus einer vergangenen Zeit spricht. Aber er tut es so fulminant, dass man ihn für den Nabel der heutigen Sprachwissenschaft halten möchte.
THOMAS THIEL.
Jürgen Trabant: "Weltansichten". Wilhelm von Humboldts Sprachprojekt.
Verlag C. H. Beck, München 2012. 352 S., geb., 39,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Jürgen Trabant bringt Wilhelm von Humboldts Sprachtheorie gegen Positionen heutiger Linguistik in Stellung
Wilhelm von Humboldt, Bildungstheoretiker, Staatsmann, Sprachphilosoph, hatte zuletzt Zuspruch von unerwarteter Seite. Mitglieder der Piratenpartei griffen in ihrem unendlichen Selbstfindungsprozess auch auf seine Schrift "Die Grenzen der Wirksamkeit des Staates" zurück, in der Humboldt für die Selbstbeschränkung des Staates im Namen individueller Entfaltung plädiert, ohne dem Staat seine generelle Leitungsfunktion streitig zu machen. Man findet diesen Gedanken auch in seiner Sprachtheorie. Es gibt universelle Gesetze, sagt er hier, Grundprinzipien, auf die jeder Sprecher Bezug nimmt, aber darunter oder darüber entfaltet sich das Reich der Einzelsprachen in seinen Farben und Nuancen. Das Allgemeine erkennt Humboldt an, das Individuelle feiert er.
Etwas zufällig schneit jetzt das Buch des Romanisten Jürgen Trabant herein, der schon viel über Humboldt geschrieben hat und seine Gedanken noch einmal essayistisch aufzubereiten scheint. Das Buch ordnet Humboldts Sprachperspektivismus aber so überzeugend in die linguistische Diskussion um Relativismus, Universalismus und Naturalismus ein, dass an seiner Aktualität gar kein Zweifel besteht.
Trabant bringt Humboldt als ästhetischen Widersacher der dominierenden Sprachtheorie in Stellung. Humboldt war im Grunde mehr Sprachästhet als Linguist. Seine Sprachforschung ist im Herzen eine Rhetorik. Humboldt sieht zwar die Notwendigkeit ein, die Sprache grammatisch zu zergliedern, erforscht selbst die amerikanischen Sprachen, das Baskische, die Kawi-Sprachen im Detail. Ihn interessiert aber vor allem die Vielfalt der Sprachen, ihr Stil, ihr Charakter. Jede Sprache ist für ihn eine Welt für sich.
Humboldt stellt sich damit gegen die klassische Zeichentheorie, die in der Sprache ein fixes Abbild sprachunabhängiger Realitäten sieht. Seit der babylonischen Sprachverwirrung war man gewohnt, Sprachvielfalt als Strafe zu empfinden. Humboldt sieht es anders. Sprache ist bei ihm ein schöpferischer Akt, der Wirklichkeit nicht nur abbildet, sondern in vielen Formen gestaltet. Nur in der Verkehrssprache unterhalten Sprache und Denken starre Verbindungen. Im höheren Gebrauch - und für ihn interessiert sich Humboldt vor allem - ist Sprache kein totes Gerippe, sondern ein lebender Organismus, der nicht nur Gegenstände beschreibt, sondern auch unsere Empfindungen, Wertungen und Interpretationen. Mit dieser Aufwertung der Rhetorik gegenüber der Grammatik ist Humboldt näher an der Philologie als an der Linguistik seiner Zeit.
Die historisch-vergleichende Sprachwissenschaft, die sich damals mit Jacob Grimm und Franz Bopp formierte, ging den umgekehrten Weg zur Volkskunde und zur Naturwissenschaft. Sie sucht nach Gesetzen, klassifiziert, typologisiert. Sprache wird zum Naturgegenstand. Gleichzeitig geht man auf Distanz zur Philologie. Die naturwissenschaftlich orientierte Linguistik interessiert die Regel, nicht die literarische Ausnahme.
Humboldts kommt dagegen über die Anthropologie, weil er glaubt, humane Potentiale über die Sprache am besten fassen zu können. Seine Anthropologie setzt aber nicht bei "den Wilden", sondern bei den höchsten Ausdrucksformen an. Humboldt findet sie in der Antike und der Literatur. Das Regelwerk der Sprache bleibt ihm zwar wichtig, aber es ist nur die Vorbereitung für das Studium des Charakters der Sprache. Diese feinen Schwebungen kann man natürlich nur ahnen, aber nicht im objektiven Sinn erkennen.
Drei Gegner dieser Sprachhermeneutik sieht Trabant heute: Neben Naturalismus und der Esoterik, die als Auffangbecken der entsorgten Hermeneutik bereitsteht, ist der dritte der Relativismus. Der Gedanke, dass Sprache unser Denken bis ins Letzte beherrscht, ist gar nicht so alt, klingt im Realismus unserer Tage aber als die kuriose Erfindung einer weit zurückliegenden Epoche, die sich heillos in die Medialität des Denkens verstrickt hatte.
Trabant bezieht deutlich Position gegen einen Relativismus à la Sapir/Whorf, der das Individuum in seiner Nationalsprache geradezu festnagelte. Die Hopi-Indianer, behauptete Benjamin Whorf, könnten keine Zeit denken, weil ihre Sprache keine Tempusbestimmungen enthalte. Gleichzeitig wendet sich Trabant gegen den Umkehrschwung in einen platten Realismus. Die Sprache prägt und färbt das Denken. Sie ist aber kein störender Filter, wie die Philosophie ihr vorhielt, sondern eine kreative Kraft. Sie entfaltet das Denken.
Der Autor wendet sich mit Humboldt gegen eine kommunikativ-pragmatische Auffassung, die viel zu wenig zur poetischen Funktion der Sprache zu sagen hat. Und er kritisiert eine naturalistische Linguistik, die mit der Entdeckung von Sprachgenen alles über die Sprachen gesagt haben will. Auch die heutige kognitive Linguistik feiert Sprache wieder als Ausdruck des Geistes. Aber ihr mind ist nicht beweglich und kulturell gefärbt wie Humboldts Geist, sondern statisch und rational. Humboldts Geist weht nur, wo alle Gemütskräfte wirken.
Jürgen Trabant weiß natürlich, dass er hier von einem linguistischen Nicht-Ort aus mit einer Stimme aus einer vergangenen Zeit spricht. Aber er tut es so fulminant, dass man ihn für den Nabel der heutigen Sprachwissenschaft halten möchte.
THOMAS THIEL.
Jürgen Trabant: "Weltansichten". Wilhelm von Humboldts Sprachprojekt.
Verlag C. H. Beck, München 2012. 352 S., geb., 39,95 [Euro].
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