Das Mädchen wird in Ostberlin geboren. Julia ist acht, als ihre Mutter sie und die Schwestern in den Westen, erst ins Notaufnahmelager Marienfelde und dann nach Schleswig-Holstein mitnimmt. In dem chaotischen Bauernhaus kann die Dreizehnjährige nicht länger bleiben und zieht aus, nach Westberlin. Neben der Sozialhilfe verdient die Schülerin Geld mit Putzen, sie lernt ihren Vater kennen und verliert ihn unmittelbar, macht ihr Abitur und begegnet Stephan, ihrer großen Liebe. Wenn sie sich erinnert, ist es Gegenwart.
»Welten auseinander« ist Julia Francks bewegende Erzählung einer ungewöhnlichen Jugend voller Brüche und Unsicherheiten; ein schmerzhaft-schönes Buch der Selbstbehauptung, das von Scham und Trauer so genau erzählt wie von Tod und Liebe. Schreiben und Literatur erweisen sich als Instrumente des Bleibens, vorerst.
»Welten auseinander« ist Julia Francks bewegende Erzählung einer ungewöhnlichen Jugend voller Brüche und Unsicherheiten; ein schmerzhaft-schönes Buch der Selbstbehauptung, das von Scham und Trauer so genau erzählt wie von Tod und Liebe. Schreiben und Literatur erweisen sich als Instrumente des Bleibens, vorerst.
Dieses Buch "hat sich die Wahrheit zur Pflicht und die Schönheit zur Kür gemacht", schreibt Rezensent Burkhard Müller - und es erstaunt ein wenig, dass seine Besprechung von Julia Francks neuem Roman schließlich doch in einer Hymne endet. Denn zunächst weist Müller auf einige, wie er findet, Schwächen des Romans hin: Wenn ihm Franck hier ihre eigene Kindheits- und Jugendgeschichte erzählt, begonnen beim Aufwachsen in prekären Verhältnissen im Ostberliner Künstlermilieu über die jugendliche Flucht nach Westberlin bis hin zum plötzlichen Tod ihres Jugendfreundes Stephan, spürt Müller die aufrichtigen Mühen der Autorin, weder "Opfergeschichte" noch abgestandene Insidergeschichte aus dem Berlin der Neunziger zu erzählen. Auch die Rührung über die eigene Person schimmert dem Rezensenten gelegentlich allzu sehr durch. Macht aber nichts, meint er dann, denn wenn Franck über die eigene Kindheit schreibt, in einem Mix aus kindlicher Erinnerung und Einordnung der Erwachsenen, stellt er fest: Ein Ton, so natürlich und lebhaft, ganz ohne Pathos und Ironie, sucht unter den gegenwärtigen deutschen Romanen seinesgleichen. Franck hat ihre "Form" gefunden, schließt er.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Wie sinnvoll es sein kann, ins "Bergwerk der eigenen Geschichte" zu steigen, lernt Rezensentin Verena Mayer mit Julia Francks autobiografischen Erzählungen. Stein für Stein hole Franck Brocken ans Licht, untersucht, bearbeitet und setzt sie zusammen, bis sie ein Gebilde ergeben, aus dem sich so etwas wie Geschichte ablesen lässt, eine Familiengeschichte, die jedoch immer wieder auch auf die große Geschichte verweist, so Mayer. Im neuen Roman widmet Franck sich nun der eigenen Vergangenheit - dem Aufwachsen zwischen Ost und West, ihrer Flucht aus der DDR, dem Leben mit einer egomanischen Mutter, lesen wir. Dieses autobiografische Erzählen, so Mayer, birgt jedoch einige Gefahren: Persönliche Kindheitserfahrungen zum Beispiel, als wie aufregend man sie auch empfunden haben mag, ergeben nicht zwangsläufig eine gute Geschichte für Erwachsene. Wenn man Mayer richtig versteht, umgeht die Autorin diese Gefahren jedoch durch Selbstreflexion und multiperspektivische Erzählweise. Einzelne Szenen aus ihrer Kindheit beschreibe sie in kristallklarer Sprache aus der Ich-Perspektive, über ihre Teenager-Zeit hingegen erzähle sie vorwiegend in personaler Erzählform und nicht ohne Ironie. So entsteht eine eindringliche, facettenreiche Geschichte, die nicht nur ein Leben zwischen Ost und West erzählt, sondern auch vom Erinnern selbst, so die angetane Rezensentin.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.10.2021Schreiben ist das einzig Verlässliche
Familienaufstellung II: Julia Franck erzählt "Welten auseinander" von sich selbst und doch über das, worin wir alle verstrickt sind.
Von Melanie Mühl
Unsere Erinnerung ist trügerisch. Sie führt uns hinters Licht und legt Verklärungsschleier über die Vergangenheit. Sie täuscht uns, ein ums andere Mal. Zu gern tappen wir in ihre Falle. Doch was wären wir ohne sie? Nichts.
In Julia Francks neuem Buch "Welten auseinander", das kein Roman ist, sondern eine Art Familienbiographie und - das sei an dieser Stelle bereits gesagt - ein Ereignis, heißt es einmal: "Wir können nicht wählen, woran wir uns erinnern und was wir vergessen. Die Gnade des Vergessens erscheint mir, je älter ich werde, umso geheimnisvoller und göttlicher. Das Warten, die Zweifel, die Nachricht. Im Nichts. Vergessen als Tugend."
Der Ich-Erzählerin aber geht es ums Erinnern ohne Schonung, an ihr prekäres Aufwachsen in einer Künstlerfamilie, die dem Kind, der Jugendlichen und Erwachsenen alles an seelischer Kraft abverlangt. An eine Großmutter, die Blöcke aus Stein künstlerisch bearbeitet, Literatur und Theater liebt, nicht Großmutter sein möchte und keine Liebe zu verschenken hat. Darin ähnelt sie der um sich selbst kreisenden Mutter der Ich-Erzählerin: Anna. Die ist eine Frau, die ihre Kinder deren eigenem Schicksal überlässt, in Rage mit Gegenständen um sich wirft, sich beim Essen mit der Innenseite einer Avocadoschale das Gesicht einreibt, nackt durchs Haus läuft, die Sozialhilfe in Zigaretten investiert und bisweilen erst aufsteht, wenn ihre Töchter bereits aus der Schule nach Hause kommen, was die Ich-Erzählerin mit dem nüchternen Satz kommentiert: "Jeder hatte seinen Rhythmus."
Ende der Siebzigerjahre wird Annas Ausreiseantrag genehmigt, und sie verlässt die damalige DDR mit ihren vier Töchtern, die unterschiedliche Väter haben. Die erste Unterkunft ist für knapp neun Monate das Flüchtlingslager Berlin-Marienfelde, fünf Menschen auf wenigen Quadratmetern, bevor es weiter nach Schleswig-Holstein geht, wo die Heimatsuchenden in einem heruntergekommenen Bauernhaus in einem Dorf am Nord-Ostsee-Kanal eine Bleibe finden. Mitte dreißig ist Anna damals, eine Schauspielerin, auf die niemand im Westen gewartet hat. Die Ich-Erzählerin, die eine Zwillingsschwester hat, ist acht. Sie kommt sich falsch vor, überflüssig, würde am liebsten verschwinden. Nur wohin? Die Kinder im Dorf hänseln sie, fragen, ob die hexenähnliche Mutter eine Nutte sei und sie selbst eine Zigeunerin. Woher all der "Tüdelkram" komme, der im Haus rumfliege. Kinderworte, unschlagbar in ihrer Brutalität.
Von Seite zu Seite wartet, ja hofft man als Leser inständig, dass sich doch noch alles irgendwie zum Guten wendet, als ließe sich die Liebe in einer Familie oder einer anderen Beziehung einfach anknipsen. Doch die Liebe folgt "keiner Erwartung, keinem Zwang oder Entschluss".
Die Ich-Erzählerin beginnt mit dem Tagebuchschreiben, es ist Flucht und Rettung zugleich. Zu Papier bringen, was man ertragen muss, über das Sterben nachdenken, ohne es zu tun. "Die einzige verlässliche Beziehung, die ich in meiner Kindheit entwickelte, war die zu meinem Tagebuch."
Julia Franck hat 2019 dem Deutschen Literaturarchiv in Marbach ihr Archiv überlassen, mit Ende vierzig: Romanmanuskripte, Essays, Briefwechsel, Übersetzungen. Für Marbach war dieser Schritt der Berliner Schriftstellerin ein Grund zur Freude, für die Leserschaft nicht. Bedeutete diese Entscheidung nicht, dass Franck, die für ihren monatelang auf der Bestsellerliste stehenden, in vierzig Sprachen übersetzten Roman "Die Mittagsfrau" 2007 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet wurde, sich vom Schreiben verabschiedete? Ihr letzter Roman war 2011 unter dem Titel "Rücken an Rücken" erschienen.
Dass sie dem Schreiben die Treue gehalten hat, ist ein großes Glück. Dass sie sich dieses Mal für eine stark autobiographisch geprägte Geschichte entschieden hat, eine Überraschung.
Die Qual eines dreizehnjährigen Kindes muss unvorstellbar sein, wenn es freiwillig seine Zwillingsschwester verlässt, die Mutter, das als Zuhause gedachte Haus. In Berlin ansässige Freunde der Familie, Steffi und Martin, erklären sich bereit, die Ich-Erzählerin aufzunehmen. Sie darf in einer Dachkammer wohnen, deren Tür sie am liebsten verschließt. Ab und zu wechselt Franck jetzt die Perspektive und ersetzt das Ich durch "das Mädchen". Einmal überlegt das Mädchen, "ob es den Mitschülerinnen jetzt endlich sagen soll, dass seine Urgroßmutter und Großmutter Jüdinnen sind, die Mütter seiner Mutter, so dass es selbst nach der Halacha ebenfalls Jüdin ist. Wenn auch nicht fromm. Und was heißt das dann? Das Mädchen kann nicht selbstverständlich sagen, ich bin Jüdin. Das Mädchen ist nichts. Es schweigt."
Vor allem aber kämpft es, putzt, hütet Kinder und Katzen, verdient Geld, wird älter, probiert Drogen. Die Ich-Erzählerin erobert neue Räume. Mit achtzehn lernt sie den aus bürgerlichem Hause kommenden Stephan kennen. Ihre Sehnsucht, nach den vielen Jahren des Chaos zur Ruhe zu kommen, ist groß. Und trotzdem: "Es geschah unwillkürlich und vielleicht ohne Grund und Ziel, weder weil Stephan es wollte noch ich selbst. Liebe ist ein ähnliches Wunder wie Seele und Leben." Es wird eine schöne, eine tragische Liebesgeschichte.
Das größte Kunststück, dass Julia Franck in "Welten auseinander" gelingt, ist der von Selbstmitleid und Bitterkeit vollkommen freie Ton der Ich-Erzählerin. Fast protokollarisch berichtet sie bisweilen von ihren Erlebnissen im Irrenhaus Familie. Sie ist ihr entwachsen und bleibt ihr doch auf ewig verbunden, wie jeder von uns mit seiner Vergangenheit auf eine Weise verstrickt ist, die sich manchmal nur erahnen lässt.
Julia Franck: "Welten auseinander".
Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2021.
369 S., geb. 23,- Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Familienaufstellung II: Julia Franck erzählt "Welten auseinander" von sich selbst und doch über das, worin wir alle verstrickt sind.
Von Melanie Mühl
Unsere Erinnerung ist trügerisch. Sie führt uns hinters Licht und legt Verklärungsschleier über die Vergangenheit. Sie täuscht uns, ein ums andere Mal. Zu gern tappen wir in ihre Falle. Doch was wären wir ohne sie? Nichts.
In Julia Francks neuem Buch "Welten auseinander", das kein Roman ist, sondern eine Art Familienbiographie und - das sei an dieser Stelle bereits gesagt - ein Ereignis, heißt es einmal: "Wir können nicht wählen, woran wir uns erinnern und was wir vergessen. Die Gnade des Vergessens erscheint mir, je älter ich werde, umso geheimnisvoller und göttlicher. Das Warten, die Zweifel, die Nachricht. Im Nichts. Vergessen als Tugend."
Der Ich-Erzählerin aber geht es ums Erinnern ohne Schonung, an ihr prekäres Aufwachsen in einer Künstlerfamilie, die dem Kind, der Jugendlichen und Erwachsenen alles an seelischer Kraft abverlangt. An eine Großmutter, die Blöcke aus Stein künstlerisch bearbeitet, Literatur und Theater liebt, nicht Großmutter sein möchte und keine Liebe zu verschenken hat. Darin ähnelt sie der um sich selbst kreisenden Mutter der Ich-Erzählerin: Anna. Die ist eine Frau, die ihre Kinder deren eigenem Schicksal überlässt, in Rage mit Gegenständen um sich wirft, sich beim Essen mit der Innenseite einer Avocadoschale das Gesicht einreibt, nackt durchs Haus läuft, die Sozialhilfe in Zigaretten investiert und bisweilen erst aufsteht, wenn ihre Töchter bereits aus der Schule nach Hause kommen, was die Ich-Erzählerin mit dem nüchternen Satz kommentiert: "Jeder hatte seinen Rhythmus."
Ende der Siebzigerjahre wird Annas Ausreiseantrag genehmigt, und sie verlässt die damalige DDR mit ihren vier Töchtern, die unterschiedliche Väter haben. Die erste Unterkunft ist für knapp neun Monate das Flüchtlingslager Berlin-Marienfelde, fünf Menschen auf wenigen Quadratmetern, bevor es weiter nach Schleswig-Holstein geht, wo die Heimatsuchenden in einem heruntergekommenen Bauernhaus in einem Dorf am Nord-Ostsee-Kanal eine Bleibe finden. Mitte dreißig ist Anna damals, eine Schauspielerin, auf die niemand im Westen gewartet hat. Die Ich-Erzählerin, die eine Zwillingsschwester hat, ist acht. Sie kommt sich falsch vor, überflüssig, würde am liebsten verschwinden. Nur wohin? Die Kinder im Dorf hänseln sie, fragen, ob die hexenähnliche Mutter eine Nutte sei und sie selbst eine Zigeunerin. Woher all der "Tüdelkram" komme, der im Haus rumfliege. Kinderworte, unschlagbar in ihrer Brutalität.
Von Seite zu Seite wartet, ja hofft man als Leser inständig, dass sich doch noch alles irgendwie zum Guten wendet, als ließe sich die Liebe in einer Familie oder einer anderen Beziehung einfach anknipsen. Doch die Liebe folgt "keiner Erwartung, keinem Zwang oder Entschluss".
Die Ich-Erzählerin beginnt mit dem Tagebuchschreiben, es ist Flucht und Rettung zugleich. Zu Papier bringen, was man ertragen muss, über das Sterben nachdenken, ohne es zu tun. "Die einzige verlässliche Beziehung, die ich in meiner Kindheit entwickelte, war die zu meinem Tagebuch."
Julia Franck hat 2019 dem Deutschen Literaturarchiv in Marbach ihr Archiv überlassen, mit Ende vierzig: Romanmanuskripte, Essays, Briefwechsel, Übersetzungen. Für Marbach war dieser Schritt der Berliner Schriftstellerin ein Grund zur Freude, für die Leserschaft nicht. Bedeutete diese Entscheidung nicht, dass Franck, die für ihren monatelang auf der Bestsellerliste stehenden, in vierzig Sprachen übersetzten Roman "Die Mittagsfrau" 2007 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet wurde, sich vom Schreiben verabschiedete? Ihr letzter Roman war 2011 unter dem Titel "Rücken an Rücken" erschienen.
Dass sie dem Schreiben die Treue gehalten hat, ist ein großes Glück. Dass sie sich dieses Mal für eine stark autobiographisch geprägte Geschichte entschieden hat, eine Überraschung.
Die Qual eines dreizehnjährigen Kindes muss unvorstellbar sein, wenn es freiwillig seine Zwillingsschwester verlässt, die Mutter, das als Zuhause gedachte Haus. In Berlin ansässige Freunde der Familie, Steffi und Martin, erklären sich bereit, die Ich-Erzählerin aufzunehmen. Sie darf in einer Dachkammer wohnen, deren Tür sie am liebsten verschließt. Ab und zu wechselt Franck jetzt die Perspektive und ersetzt das Ich durch "das Mädchen". Einmal überlegt das Mädchen, "ob es den Mitschülerinnen jetzt endlich sagen soll, dass seine Urgroßmutter und Großmutter Jüdinnen sind, die Mütter seiner Mutter, so dass es selbst nach der Halacha ebenfalls Jüdin ist. Wenn auch nicht fromm. Und was heißt das dann? Das Mädchen kann nicht selbstverständlich sagen, ich bin Jüdin. Das Mädchen ist nichts. Es schweigt."
Vor allem aber kämpft es, putzt, hütet Kinder und Katzen, verdient Geld, wird älter, probiert Drogen. Die Ich-Erzählerin erobert neue Räume. Mit achtzehn lernt sie den aus bürgerlichem Hause kommenden Stephan kennen. Ihre Sehnsucht, nach den vielen Jahren des Chaos zur Ruhe zu kommen, ist groß. Und trotzdem: "Es geschah unwillkürlich und vielleicht ohne Grund und Ziel, weder weil Stephan es wollte noch ich selbst. Liebe ist ein ähnliches Wunder wie Seele und Leben." Es wird eine schöne, eine tragische Liebesgeschichte.
Das größte Kunststück, dass Julia Franck in "Welten auseinander" gelingt, ist der von Selbstmitleid und Bitterkeit vollkommen freie Ton der Ich-Erzählerin. Fast protokollarisch berichtet sie bisweilen von ihren Erlebnissen im Irrenhaus Familie. Sie ist ihr entwachsen und bleibt ihr doch auf ewig verbunden, wie jeder von uns mit seiner Vergangenheit auf eine Weise verstrickt ist, die sich manchmal nur erahnen lässt.
Julia Franck: "Welten auseinander".
Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2021.
369 S., geb. 23,- Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 30.11.2021Im Bergwerk des Ichs
In ihrer autobiografischen Erzählung „Welten auseinander“ geht die Berliner Autorin Julia Franck
an die Schmerzgrenze der eigenen deutsch-deutschen Geschichte
VON VERENA MAYER
Wenn man die eigene Biografie als Ressource für das Schreiben begreift, dann hat Julia Franck wahrscheinlich ein ganzes Bergwerk an Rohstoffen zur Verfügung. Schon ihre Familiengeschichte würde für mehrere Romanzyklen reichen. Da ist die Großmutter, Bildhauerin und Kommunistin mit jüdischen Wurzeln, die vor den Nazis nach Sizilien fliehen musste und in der DDR zur intellektuellen Elite gehörte. Da ist die Mutter, Ostberliner Schauspielerin, bekannt mit Nina Hagen und Wolf Biermann, die Ende der Siebzigerjahre mit ihren Kindern in den Westen ging. Da ist der Vater, der zu Kriegsende von der eigenen Mutter auf einem Bahnsteig ausgesetzt worden war und darunter ein Leben lang litt.
Und erst ihr eigenes Leben. Die 1970 geborene Schriftstellerin lebte nach ihrer Ausreise aus der DDR erst neun Monaten im Berliner Notaufnahmelager Marienfelde und dann in Schleswig-Holstein, wo die Familie einen Selbstversorgerhof betrieb. Als Jugendliche zog sie auf eigene Faust zu einer Pflegefamilie nach West-Berlin, machte Abitur, studierte und begann, als Journalistin zu arbeiten.
Die Frage ist natürlich, was daraus folgt. Selbst das interessanteste Leben macht noch lange keinen Roman, eher im Gegenteil. Die besten Verwertungen von Biografien beruhen ja darauf, aus der Banalität des eigenen Selbst literarische Fallhöhe zu erzeugen, darauf, dass jemand etwa beim Essen einer Madeleine dazu inspiriert wird, die Grenzen der menschlichen Erinnerungsfähigkeit auszuloten.
Julia Franck hat aus dem riesigen Bergwerk ihrer Familiengeschichte immer wieder einzelne Brocken hervorgeholt und fiktionalisiert. Herausgekommen sind Fluchtgeschichten, bevölkert von Figuren, die ihren Eltern und Großeltern ähneln, Erfahrungen vom Fremdsein und Nicht-Dazugehören. Ein Element kehrt immer wieder: das Motiv des einsamen Kindes. Es taucht in „Lagerfeuer“ (2003) auf, Francks Roman über das Notaufnahmelager Marienfelde, in dem es unter anderem um zwei Flüchtlingskinder aus Ost-Berlin geht, die wegen ihrer Herkunft Außenseiter sind. Es kommt in „Rücken an Rücken“ (2011) vor, der Geschichte der Geschwister Ella und Thomas, die auf sich selbst angewiesen im Haus der Bildhauerin Käthe aufwachsen. Und es ist die große Setzung in Francks erfolgreichstem Roman „Die Mittagsfrau“ (2007), in dem sich ein siebenjähriger Junge auf der Flucht vor den Russen plötzlich auf einem Bahnsteig wiederfindet, mutterseelenallein im wahrsten Sinn des Wortes. Seine Mutter hat ihn einfach stehen gelassen, um ihr eigenes Leben zu leben.
Auch in Francks neuestem Buch geht es wieder darum – nur, dass Julia Franck dieses einsame Kind nun selbst ist. „Welten auseinander“ erzählt von ihrer Jugend in Ost und West, vom Aufwachsen in verschiedenen politischen, gesellschaftlichen und familiären Systemen. Zentrum ist ihre Ostberliner Mutter Anna und ihr verzweifelter Versuch, sich im Westen eine neue Existenz aufzubauen. Die alleinerziehende Anna werkelt als Bäuerin, häuft manisch Dinge an, sucht ihren Lebenssinn bei irgendwelchen Anthroposophen und vernachlässigt vor allem ihre Kinder, die ein Fall fürs Sozialamt und Pflegefamilien werden.
Franck erzählt eine beklemmende Mutter-Tochter-Geschichte oder besser: Mutter-Töchter-Geschichte, denn die Erzählerin hat eine Zwillingsschwester, mit der sie mehr oder weniger auf sich selbst gestellt ist. Bereits als Grundschulkinder müssen die beiden auf dem Feld arbeiten, sich um den Haushalt kümmern, dafür sorgen, dass die Familie etwas zu essen hat, manchmal reicht das Geld nicht einmal für Schuhe. Fast gnadenlos beschreibt Franck dieses archaische Zusammenleben. Die um sich selbst kreisende Mutter, die gerne nackt herumläuft, sich nach dem Essen Gemüsereste auf die Haut schmiert und ihre Kinder schon mal im Zug vergisst. Den Messie-Haushalt, in dem selbst engste Freunde nicht zu Besuch sein wollen, den Alltag, der dort herrscht. „Manchmal wurden wir aus der Schule nach Hause geschickt, weil Lehrer unsere Läuse oder Nissen entdeckt hatten. Stundenlang saßen und standen wir da (...) und zogen uns mit den kaum vorhandenen Fingernägeln gegenseitig Nissen aus den Haaren.“
Franck beschreibt solche Szenen in einer lakonischen Sprache, die sich an Ágota Kristófs Zwillingsgeschichte „Das große Heft“ (1986) orientiert und das Existenzielle des kindlichen Alleinseins greifbar macht. Dazwischen springt Franck in die Vergangenheit oder an einen anderen Ort, erzählt die Geschichten ihrer vertriebenen, geflüchteten, ausgesetzten Familienmitglieder und deren Art, diese zu verarbeiten oder zu verdrängen. So wie der Vater, der bis zu seinem Tod nicht wissen wollte, was aus der Mutter, die ihn einst auf dem Bahnhof verstoßen hatte, geworden war. All das bildet eine Art Erfahrungsrahmen für die Verlorenheit von Anna und ihrer Tochter. Jedes noch so kleine Leben ist in Geschichte eingebettet und wird von ihr bestimmt.
In „Welten auseinander“ lotet Julia Franck die Risse aus, die die deutsch-deutsche Geschichte in der Psyche derer hinterlassen hat, die sie nicht gestalten konnten. Franck tut das explizit nicht in der Form eines Romans, sondern mit den Mitteln des autobiografischen Erzählens. Das birgt Hürden, vor allem, wenn es um die eigene Jugend geht. Was man als Kind erlebt, gefühlt oder, wie es Julia Franck beschreibt, Stunden lang irgendwo in ein Tagebuch gekritzelt hat, ergibt aus der Sicht einer Erwachsenen ja nicht zwingend eine große Erzählung. Andererseits kann Franck dadurch ihrer eigenen Wahrnehmung folgen. Sie tut das durch multiperspektivisches Erzählen. Geschichte, Gedanken, Angelesenes und Erfahrenes fließen durcheinander, das Leben einer Figur geht unvermittelt in das einer anderen über. Über die Jahre der pubertären Selbstfindung und Teenie-Sorgen schreibt Franck selbstironisch in der dritten Person, mit sich als „das Mädchen“.
Und immer wieder fragt sie sich, ob sie sich das überhaupt anmaßen darf. „So dringend wie in allen anderen Familien, in denen das Schrecklichste geschieht, werfen Menschen den Mantel des Schweigens über das Unerträgliche, das Unsagbare, das, was nicht sein kann, weil es nicht sein darf. Es darf nicht gesehen und nicht bekannt werden. Wie sollte ich je meine Stimme für das Eigene und die eigene Geschichte erheben dürfen, eine Form finden, die Tabus umgehen oder ihnen entgegentreten.“ So wird in „Welten auseinander“ nicht nur das eigene Leben, sondern auch das Erinnern selbst abgebildet. Die Dinge werden dabei mal größer und mal kleiner gemacht, als sie eigentlich sind, es wird verdrängt, ironisiert, übertrieben, beschönigt. Es gibt keinen Anspruch auf historische Wahrhaftigkeit, aber man merkt, wie sehr es sich lohnt, ins Bergwerk der eigenen Geschichte hinabzusteigen.
Ist es nicht eine Anmaßung,
das Schweigen zu brechen, das
die Familie gehütet hatte?
Julia Franck:
Welten auseinander.
Roman. S. Fischer,
Frankfurt am Main 2021. 368 Seiten, 23 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
In ihrer autobiografischen Erzählung „Welten auseinander“ geht die Berliner Autorin Julia Franck
an die Schmerzgrenze der eigenen deutsch-deutschen Geschichte
VON VERENA MAYER
Wenn man die eigene Biografie als Ressource für das Schreiben begreift, dann hat Julia Franck wahrscheinlich ein ganzes Bergwerk an Rohstoffen zur Verfügung. Schon ihre Familiengeschichte würde für mehrere Romanzyklen reichen. Da ist die Großmutter, Bildhauerin und Kommunistin mit jüdischen Wurzeln, die vor den Nazis nach Sizilien fliehen musste und in der DDR zur intellektuellen Elite gehörte. Da ist die Mutter, Ostberliner Schauspielerin, bekannt mit Nina Hagen und Wolf Biermann, die Ende der Siebzigerjahre mit ihren Kindern in den Westen ging. Da ist der Vater, der zu Kriegsende von der eigenen Mutter auf einem Bahnsteig ausgesetzt worden war und darunter ein Leben lang litt.
Und erst ihr eigenes Leben. Die 1970 geborene Schriftstellerin lebte nach ihrer Ausreise aus der DDR erst neun Monaten im Berliner Notaufnahmelager Marienfelde und dann in Schleswig-Holstein, wo die Familie einen Selbstversorgerhof betrieb. Als Jugendliche zog sie auf eigene Faust zu einer Pflegefamilie nach West-Berlin, machte Abitur, studierte und begann, als Journalistin zu arbeiten.
Die Frage ist natürlich, was daraus folgt. Selbst das interessanteste Leben macht noch lange keinen Roman, eher im Gegenteil. Die besten Verwertungen von Biografien beruhen ja darauf, aus der Banalität des eigenen Selbst literarische Fallhöhe zu erzeugen, darauf, dass jemand etwa beim Essen einer Madeleine dazu inspiriert wird, die Grenzen der menschlichen Erinnerungsfähigkeit auszuloten.
Julia Franck hat aus dem riesigen Bergwerk ihrer Familiengeschichte immer wieder einzelne Brocken hervorgeholt und fiktionalisiert. Herausgekommen sind Fluchtgeschichten, bevölkert von Figuren, die ihren Eltern und Großeltern ähneln, Erfahrungen vom Fremdsein und Nicht-Dazugehören. Ein Element kehrt immer wieder: das Motiv des einsamen Kindes. Es taucht in „Lagerfeuer“ (2003) auf, Francks Roman über das Notaufnahmelager Marienfelde, in dem es unter anderem um zwei Flüchtlingskinder aus Ost-Berlin geht, die wegen ihrer Herkunft Außenseiter sind. Es kommt in „Rücken an Rücken“ (2011) vor, der Geschichte der Geschwister Ella und Thomas, die auf sich selbst angewiesen im Haus der Bildhauerin Käthe aufwachsen. Und es ist die große Setzung in Francks erfolgreichstem Roman „Die Mittagsfrau“ (2007), in dem sich ein siebenjähriger Junge auf der Flucht vor den Russen plötzlich auf einem Bahnsteig wiederfindet, mutterseelenallein im wahrsten Sinn des Wortes. Seine Mutter hat ihn einfach stehen gelassen, um ihr eigenes Leben zu leben.
Auch in Francks neuestem Buch geht es wieder darum – nur, dass Julia Franck dieses einsame Kind nun selbst ist. „Welten auseinander“ erzählt von ihrer Jugend in Ost und West, vom Aufwachsen in verschiedenen politischen, gesellschaftlichen und familiären Systemen. Zentrum ist ihre Ostberliner Mutter Anna und ihr verzweifelter Versuch, sich im Westen eine neue Existenz aufzubauen. Die alleinerziehende Anna werkelt als Bäuerin, häuft manisch Dinge an, sucht ihren Lebenssinn bei irgendwelchen Anthroposophen und vernachlässigt vor allem ihre Kinder, die ein Fall fürs Sozialamt und Pflegefamilien werden.
Franck erzählt eine beklemmende Mutter-Tochter-Geschichte oder besser: Mutter-Töchter-Geschichte, denn die Erzählerin hat eine Zwillingsschwester, mit der sie mehr oder weniger auf sich selbst gestellt ist. Bereits als Grundschulkinder müssen die beiden auf dem Feld arbeiten, sich um den Haushalt kümmern, dafür sorgen, dass die Familie etwas zu essen hat, manchmal reicht das Geld nicht einmal für Schuhe. Fast gnadenlos beschreibt Franck dieses archaische Zusammenleben. Die um sich selbst kreisende Mutter, die gerne nackt herumläuft, sich nach dem Essen Gemüsereste auf die Haut schmiert und ihre Kinder schon mal im Zug vergisst. Den Messie-Haushalt, in dem selbst engste Freunde nicht zu Besuch sein wollen, den Alltag, der dort herrscht. „Manchmal wurden wir aus der Schule nach Hause geschickt, weil Lehrer unsere Läuse oder Nissen entdeckt hatten. Stundenlang saßen und standen wir da (...) und zogen uns mit den kaum vorhandenen Fingernägeln gegenseitig Nissen aus den Haaren.“
Franck beschreibt solche Szenen in einer lakonischen Sprache, die sich an Ágota Kristófs Zwillingsgeschichte „Das große Heft“ (1986) orientiert und das Existenzielle des kindlichen Alleinseins greifbar macht. Dazwischen springt Franck in die Vergangenheit oder an einen anderen Ort, erzählt die Geschichten ihrer vertriebenen, geflüchteten, ausgesetzten Familienmitglieder und deren Art, diese zu verarbeiten oder zu verdrängen. So wie der Vater, der bis zu seinem Tod nicht wissen wollte, was aus der Mutter, die ihn einst auf dem Bahnhof verstoßen hatte, geworden war. All das bildet eine Art Erfahrungsrahmen für die Verlorenheit von Anna und ihrer Tochter. Jedes noch so kleine Leben ist in Geschichte eingebettet und wird von ihr bestimmt.
In „Welten auseinander“ lotet Julia Franck die Risse aus, die die deutsch-deutsche Geschichte in der Psyche derer hinterlassen hat, die sie nicht gestalten konnten. Franck tut das explizit nicht in der Form eines Romans, sondern mit den Mitteln des autobiografischen Erzählens. Das birgt Hürden, vor allem, wenn es um die eigene Jugend geht. Was man als Kind erlebt, gefühlt oder, wie es Julia Franck beschreibt, Stunden lang irgendwo in ein Tagebuch gekritzelt hat, ergibt aus der Sicht einer Erwachsenen ja nicht zwingend eine große Erzählung. Andererseits kann Franck dadurch ihrer eigenen Wahrnehmung folgen. Sie tut das durch multiperspektivisches Erzählen. Geschichte, Gedanken, Angelesenes und Erfahrenes fließen durcheinander, das Leben einer Figur geht unvermittelt in das einer anderen über. Über die Jahre der pubertären Selbstfindung und Teenie-Sorgen schreibt Franck selbstironisch in der dritten Person, mit sich als „das Mädchen“.
Und immer wieder fragt sie sich, ob sie sich das überhaupt anmaßen darf. „So dringend wie in allen anderen Familien, in denen das Schrecklichste geschieht, werfen Menschen den Mantel des Schweigens über das Unerträgliche, das Unsagbare, das, was nicht sein kann, weil es nicht sein darf. Es darf nicht gesehen und nicht bekannt werden. Wie sollte ich je meine Stimme für das Eigene und die eigene Geschichte erheben dürfen, eine Form finden, die Tabus umgehen oder ihnen entgegentreten.“ So wird in „Welten auseinander“ nicht nur das eigene Leben, sondern auch das Erinnern selbst abgebildet. Die Dinge werden dabei mal größer und mal kleiner gemacht, als sie eigentlich sind, es wird verdrängt, ironisiert, übertrieben, beschönigt. Es gibt keinen Anspruch auf historische Wahrhaftigkeit, aber man merkt, wie sehr es sich lohnt, ins Bergwerk der eigenen Geschichte hinabzusteigen.
Ist es nicht eine Anmaßung,
das Schweigen zu brechen, das
die Familie gehütet hatte?
Julia Franck:
Welten auseinander.
Roman. S. Fischer,
Frankfurt am Main 2021. 368 Seiten, 23 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Bewegende Frauenporträts! Karin Waldner-Petutschnig Kleine Zeitung 20220305