Als der Pianist und Dichter Alfred Brendel in einem Wiener Antiquariat die Tagebücher Friedrich Hebbels findet, elektrisieren sie ihm, wie er sagt, "Herz und Hirn im Nu". In ihrer Pointiertheit brauchen sie den Vergleich mit den Sudelbüchern des großen Lichtenberg nicht zu scheuen. Nun hat Brendel besonders schöne Stellen in Hebbels Notizen angestrichen und so aus der chronologischen Abfolge herausgegriffen. Eine wunderbare Verdichtung von Hebbels Formulierungskunst.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.10.2008Die karikierte Ananas
"Wie klein, wie armselig ist die Milbe. Aber die Rotte bewegt den ganzen Käse." Was für die Milbe gilt, gilt für die Silbe allemal: Allein ist sie ein luftiges Fastnichts, ein zweigestrichenes Fis im Wald, aber wehe, wenn die Silben sich rotten, zu Wörtern, Sätzen und ganzen Hottentottenhorden, dann heben sie die verkäste Welt virtuos aus den Angeln. So tun es nicht zuletzt die Dramen Friedrich Hebbels: "Maria Magdalena" von 1843 etwa, sein berühmtestes Bühnenwerk, das mit den Worten Meister Antons endet: "Ich verstehe die Welt nicht mehr" - und sie eben dadurch zurückgewinnt, dass er sie zur Sprache bringt. Hebbel selbst ergriff, was er verstand und nicht verstand an der Welt, in geschliffenen, pointierten Wendungen und speicherte es in monströs aufgedunsenen Tagebüchern ab. Durch das Konvolut hat sich nun Alfred Brendel, der berühmte und kurz vor seinem Abschied vom Konzertleben stehende Pianist, hindurchmusiziert und dabei zahlreiche Triller aus der Partitur exzerpiert: Im Zusammenhang des Käsestemmens nämlich brilliert doch oft die einzelne Milbe. So ist eine lesenswerte, mit klugem Nachwort versehene Aphorismussammlung entstanden, die Hebbels hellsichtigste Gedankensplitter gelungen neu arrangiert: Harte Urteile ("Die Masse macht keine Fortschritte") stehen neben hintersinnigen Aperçus ("Die Sonne hat ihre Flecken. Aber sie geben keine Schatten"), lustigen Einsichten ("Der Tannzapfen ist die Karikatur der Ananas"), verzweifelten Ausrufen ("Die Welt ist Gottes Sündenfall") und steilen Thesen ("Das Drama hat es vor allem mit der Wiederbringung des Teufels zu tun"). Besonders apart die Rubrik der Nachtgespinste: Hatte Hebbel doch beispielsweise den ungeheuren Traum, "das 16te Jahrhundert läge neben mir im Bett". Wecken ließ es sich freilich nicht. Und wie muss dies erst es einen Pianisten beglücken: "Der Traum des Pfarrers: ,Die Bibel spielt Klavier.'" (Friedrich Hebbel: "Weltgericht mit Pausen". Aus den Tagebüchern. Auswahl und Nachwort von Alfred Brendel. Carl Hanser Verlag, München 2008. 176 S., geb., 12,90 [Euro].) oju
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Wie klein, wie armselig ist die Milbe. Aber die Rotte bewegt den ganzen Käse." Was für die Milbe gilt, gilt für die Silbe allemal: Allein ist sie ein luftiges Fastnichts, ein zweigestrichenes Fis im Wald, aber wehe, wenn die Silben sich rotten, zu Wörtern, Sätzen und ganzen Hottentottenhorden, dann heben sie die verkäste Welt virtuos aus den Angeln. So tun es nicht zuletzt die Dramen Friedrich Hebbels: "Maria Magdalena" von 1843 etwa, sein berühmtestes Bühnenwerk, das mit den Worten Meister Antons endet: "Ich verstehe die Welt nicht mehr" - und sie eben dadurch zurückgewinnt, dass er sie zur Sprache bringt. Hebbel selbst ergriff, was er verstand und nicht verstand an der Welt, in geschliffenen, pointierten Wendungen und speicherte es in monströs aufgedunsenen Tagebüchern ab. Durch das Konvolut hat sich nun Alfred Brendel, der berühmte und kurz vor seinem Abschied vom Konzertleben stehende Pianist, hindurchmusiziert und dabei zahlreiche Triller aus der Partitur exzerpiert: Im Zusammenhang des Käsestemmens nämlich brilliert doch oft die einzelne Milbe. So ist eine lesenswerte, mit klugem Nachwort versehene Aphorismussammlung entstanden, die Hebbels hellsichtigste Gedankensplitter gelungen neu arrangiert: Harte Urteile ("Die Masse macht keine Fortschritte") stehen neben hintersinnigen Aperçus ("Die Sonne hat ihre Flecken. Aber sie geben keine Schatten"), lustigen Einsichten ("Der Tannzapfen ist die Karikatur der Ananas"), verzweifelten Ausrufen ("Die Welt ist Gottes Sündenfall") und steilen Thesen ("Das Drama hat es vor allem mit der Wiederbringung des Teufels zu tun"). Besonders apart die Rubrik der Nachtgespinste: Hatte Hebbel doch beispielsweise den ungeheuren Traum, "das 16te Jahrhundert läge neben mir im Bett". Wecken ließ es sich freilich nicht. Und wie muss dies erst es einen Pianisten beglücken: "Der Traum des Pfarrers: ,Die Bibel spielt Klavier.'" (Friedrich Hebbel: "Weltgericht mit Pausen". Aus den Tagebüchern. Auswahl und Nachwort von Alfred Brendel. Carl Hanser Verlag, München 2008. 176 S., geb., 12,90 [Euro].) oju
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Dorothea Dieckmann hat zwei Bücher zu Friedrich Hebbel gelesen, die sie zur erneuten Lektüre seiner Tagebücher animieren. Alfred Brendels Auswahl aus diesen Tagebüchern wollen weder dokumentieren noch repräsentativ sein, stellt die Rezensentin fest. Stattdessen beweise sich der Pianist Brendel als "Sammler", der in den bruchstückhaften Auszügen vor allem sein Augenmerk auf aphoristische Notate richte. Als plausibel empfindet es Dieckmann, dass Brendel in seinem Nachwort für den Schriftsteller, der unter äußeren und inneren Extrembedingungen lebte und vor allem durch seine Tragödien Ruhm erlangte, besonders den "Humor" hervorhebt. Dabei handle es sich allerdings um eine "Komik zum Totlachen und Blutgefrieren", wie die Rezensentin düster bemerkt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Das stärkste Argument für eine Sicht der Tagebücher als eines, ja des Hauptwerks Hebbels ist die Auswahl selbst. Über 2000 Seiten hat Brendel, "die schönen (kuriosen, verrückten, besonderen) Stellen" herausgreifend, verdichtet zu 170 - verdichtet insofern, als das Gefühl eines Gewinns entsteht, nicht eines Verlusts." Andreas Dorschel, Süddeutsche Zeitung, 05.09.08
"Hebbels Tagebücher versprechen einen Schmerz in seiner tragischsten Form: dem Lachen." Dorothea Dieckmann, Neue Zürcher Zeitung, 28.01.09
"Hebbels Tagebücher versprechen einen Schmerz in seiner tragischsten Form: dem Lachen." Dorothea Dieckmann, Neue Zürcher Zeitung, 28.01.09