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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.12.2009

Risiken und Nebenwirkungen
Neue Therapie aus Hannover für das 20. Jahrhundert

Orientierung tut not. Wer in einer sich rasant wandelnden, zusehends grenzenlosen Welt den Durchblick behalten oder gewinnen will, muss auf sicherem Boden stehen. Dabei hilft das Verständnis der jüngeren Vergangenheit. Sie zu bilanzieren ist ein mutiges und ehrgeiziges Unterfangen, geht es doch um nicht weniger als um die Entschlüsselung des 20. Jahrhunderts. Die Bilanz in Form einer "Weltgeschichte" anzubieten heißt, mit dem Anspruch anzutreten, das Jahrhundert der Weltkriege im Zusammenhang darzustellen und zu analysieren. Daran kann man scheitern.

Hans-Heinrich Nolte, emeritierter Professor für Osteuropäische Geschichte an der Universität Hannover und Vorsitzender des Vereins für Geschichte des Weltsystems, "versucht, das an Argumenten und Geschichten zusammenzuführen, was die Entwicklung des Zusammenhangs nachvollziehbar macht und (vielleicht) erklärt". Tatsächlich ist sein Buch keine Monographie, sondern eine beliebig wirkende Aneinanderreihung von zwei Dutzend Kapiteln zu mehr oder weniger relevanten Themen, die in sich kaum eine stringente Gedankenführung erkennen lassen. Wichtigste "Hilfsmittel" Noltes sind nach eigenem Bekunden Nachschlagewerke wie das "Brockhaus Taschenlexikon Weltgeschichte" oder der "Ploetz". Nun wird man von einer "Weltgeschichte" keine erschöpfende Beschreibung des 20. Jahrhunderts erwarten können. Aber dass ganze Regionen und Kontinente wie Südostasien oder Iberoamerika erklärtermaßen vor der Tür bleiben, dass die kultur-, geistes- und ideengeschichtlichen oder auch die religions- und kirchengeschichtlichen Schichten des komplexen Prozesses praktisch ausgeklammert werden, wiegt schwer. Hinzu kommen zahlreiche Ungereimtheiten - von sprachlichen Unschärfen bis hin zu sachlichen Fehlern.

Komplexe Sachverhalte auf das Wesentliche zu reduzieren ist ein schwieriges Geschäft; da darf man schon einmal zu großzügigen Formulierungen greifen. Doch gibt es eine Grenze, jenseits deren die kompakte Darstellung jeden Informationsgehalt verliert: "1979 wurde Saddam Hussein Präsident, der eine terroristische Diktatur aufbaute, in welcher viele Posten seinem Clan zufielen." So geht das am laufenden Band, und dabei verdichten sich die nicht selten schwammigen Formulierungen zu einem problematischen Ganzen: Da "verbrannte" Deutschland "mit dem Angriff auf die UdSSR ... die Schiffe, die eine klügere Führung zum Rückzug wohl bereitgehalten hätte"; da haben "auch auf deutscher Seite ... nicht nur führende Generäle wie Ludwig Beck die Irrationalität" der "fundamentalistisch nationalistischen Diktatur" erkannt, sondern auch "einfache Bürger", wie das "Familienarchiv Nolte" ausweist; da "vermehrte" die "Verfügung über Atomwaffen und ihr erster Einsatz gegen Hiroshima und Nagasaki" nicht nur "die Kapazität der Mächtigen, in kürzester Zeit viele Menschen töten zu lassen, um ein Vielfaches. Die neue Kriegsform hatte außerdem langfristige Folgen, da häufig die Gene der überlebenden Bombardierten verändert wurden"; und da reichen, um "die hochsensiblen Kriegsmaschinen zu bedienen, . . . oft herkömmliche Soldaten nicht mehr aus, vielmehr werden Fachleute mit Instrumenten der EDV zusammengekoppelt, welche z.B. Zielen und Schießen mit einer Präzision durchführen, die rein biologisch jenseits menschlicher Befähigung liegt".

Ginge es nicht um gleichermaßen brisante und sensible Sachverhalte wie die genannten, könnte man die zahlreichen Stilblüten und Plattitüden des Buches wohl mit einigem Amüsement studieren. Zum Beispiel zum Thema Revolution. Es ist schon erstaunlich, welche Revolutionen Nolte unter die "wichtigsten ... am Anfang des 20. Jahrhunderts" subsumiert, nämlich unter anderen die "vietnamesische 1975". Ob er damit den Bruch des Waffenstillstands vom Januar 1973 und die Einnahme Saigons durch nordvietnamesische Verbände und den Vietcong meint? Jedenfalls bringen "Revolutionen ... große Risiken mit sich; insbesondere das Risiko, dass die meist kleinen Führungsgruppen die Ziele mit pathetischer Überhöhung formulieren und auch nicht auf dem neuesten Stand der Diskussionen sind". Schwer zu sagen, welche Leserschaft Nolte mit seiner "Weltgeschichte" erreichen will. Für den Einsatz an Schulen und Universitäten eignet sie sich nicht. Dass die Bundeszentrale für politische Bildung das Werk in hoher Auflage vertreibt, wirft Fragen auf.

GREGOR SCHÖLLGEN

Hans-Heinrich Nolte: Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts. Böhlau Verlag, Wien/Köln/Weimar 2009. 444 S., 29,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Was ist los mit der Bundeszentrale für politische Bildung? Dass diese Institution das vorliegende Buch in hoher Auflage vertreibt, macht dem Rezensenten richtig Sorgen. Hans-Heinrich Noltes Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts nämlich hält Gregor Schöllgen als Leitfaden für Schüler und Studenten für vollkommen ungeeignet. Als beliebige Aneinanderreihung von lückenhaftem Lexikonwissen ohne stringente Gedankenführung, als Stilblüten- und Platitüdensammlung, in der brisante und sensible Sachverhalte fehlerhaft dargestellt werden oder gleich ganz auf der Strecke bleiben, eignet sich der Band in Schöllgens Augen allerdings hervorragend.

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