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Produktdetails
  • Internationaler Merve Diskurs (IMD) Bd.268
  • Verlag: Merve
  • Seitenzahl: 180
  • Deutsch
  • Abmessung: 170mm
  • Gewicht: 164g
  • ISBN-13: 9783883962023
  • ISBN-10: 3883962023
  • Artikelnr.: 12752822

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Autorenporträt
Thomas Kapielski, geboren 1951 in Berlin-Charlottenburg, studierte Philologie, Physische Geographie sowie Philosophie an der Freien Universität Berlin. Er veröffentlichte ab den 1990er Jahren Texte u. a. in der Zeit, der FAZ, der Frankfurter Rundschau. Er arbeitet als Schriftsteller, Künstler, Musiker (Mitglied im "Original Oberkreuzberger Nasenflötenorchester") und Dozent.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.10.2004

Im Sinne der Wanderer
Thomas Kapielskis Betrachtungen / Von Lorenz Jäger

Unter den Gründen für unser Vergnügen an tagebuchartigen, mit Maximen und Reflexionen gespickten Aufzeichnungen ist einer der ersten wahrscheinlich die Wärme und der stille Glanz, die sie dem eigenen Leben und der eigenen Zeit des Lesers spenden. Genau, sagt man sich: diese Ausstellung von Thomas Bayrle habe ich ja auch gesehen! Und diesen Artikel auch gelesen! Und damals, ich erinnere mich, haarscharf so reagiert wie jetzt der Diarist! So angenehm verläuft die Lektüre von Thomas Kapielskis neuem Buch. Was die Protokollierung des Zeitgeistes und seines Wahns angeht, dürfte es weniges geben, was sich mit Kapielskis Schrift in puncto Breite und Treffsicherheit messen kann - am ehesten noch "Alkor", Walter Kempowskis Tagebuch des Jahres 1989.

Man muß dafür ein gewisses Alter erreicht haben, das jedes mentale Synchronschalten mit den Gegenwartstendenzen schon somatisch unmöglich macht und dem Abstand eine Naturbasis gibt. Dann gelingen unübertreffliche Verdichtungen deutscher Gesten wie in diesem Fundstück von der Buchmesse: "Auf die Frage nach einem Rezensionsexemplar des Buches ,Der Völkermord an den Armeniern und die Shoa antwortet die Mitarbeiterin des Verlages unvergleichlich charmant: ,Sie interessieren sich generell für Völkermord?" Hier kommt man aber auch auf die Spur von Kapielskis Gedanken. Sein Widerstand gegen den Zeitgeist ist weniger grundsätzlich, weniger argumentativ als vielmehr in Instinkten begründet.

Seine Erfahrung - und die eines großen Teils seiner Altersgenossen - kann man so beschreiben: Alles, was vor dreißig Jahren mit der höchsten Energiespannung verbunden war und allein dadurch eine gewisse Schönheit und Anziehungskraft besaß, ist ausgeleiert. Nur dadurch werden die "modernen Faxen" so abstoßend, die Kapielski anhand einer imaginären Faust-Inszenierung schildert: "Nackichte Gretchen von Männern in SS-Uniformen gemartalert und so."

Staatsfeindschaft mit Staatsknete finanziert - das ist das wahrhaft verheerende Erbe der siebziger Jahre, die strukturelle Verlogenheit als geistige Lebensform. Kein Zufall, daß gerade ein künstlerisch so ungemein bewußter, mit allen Wassern der Gegenwartsmoderne gewaschener Mensch wie Kapielski von einer ästhetischen Konterrevolution träumt: "Die texttreue Aufführung eines Klassikers, ohne Firlefanz, mit schlichter Ausstattung, überlieferten Kostümen, bescheiden wie erbaulich und ganz ernsthaft gemeint, das wäre doch schon ab vorvorgestern steilste Theatersensation!" Und was die bildende Kunst angeht, ist sein Urteil nicht weniger streng: "Selbst die Motten sind des beuys'schen Filz' überdrüssig. Ebenso alt der Dünkel wider gegenständlich dienende und gekonnte Künste."

Dies alles aber wird übertroffen durch manche wahrhaft unheimliche Gegenwartsvignette. Eine Zeitungsmeldung berichtet von einem Überfall im Kreuzberger Viktoriapark, bei dem zwei Studenten von fünf Jugendlichen attackiert und gewürgt wurden. Kapielski erinnert die Meldung an die Zeitungen der DDR, aus denen man viel erfahren konnte, wenn man zwischen den Zeilen zu lesen verstand und das Ausgesparte aus eigener Urteilskraft ergänzen konnte: "Diesen Spaß vergönnt uns nun auch die Spaßgesellschaft, in deren Medien man bedenkenlos vulgär sein darf, um sich damit alleweil auf der Höhe der Zeit und arg nonkonform fühlen zu dürfen. Ansonsten aber müssen die Schlacken mit guten Augen nach anständig Verhehltem durchleuchtet werden."

Durchgehende Motive sind in diesem Buch die Trennung von der Ehefrau, mehr noch die Trauer um die nun schwieriger werdende Auseinandersetzung mit dem Sohn, der Verlust der befristeten Braunschweiger Ästhetik-Professur, naturgemäß auch die Kunstlehre des Trinkens und die Gattungslehre der Kneipen, die bei Kapielski immer eine große Rolle spielen. Nicht zu vergessen die stete, aber in den Sprachwitzen und der Albernheit leicht zu übersehende Auseinandersetzung mit der großen Philosophie, mit Fichte und Hegel.

Wie um die Formlosigkeit der Notizen zu balancieren, kommt Kapielski oft auf die Form zurück, ja das Buch beginnt mit der Rettung einer Form. Eine der strengsten Formen ist ja das Figurengedicht, und dabei wiederum ist es die spätantike, quadratisch gebaute, in jeder Richtung lesbare Sator-Formel (sator arepo tenet opera rotas, die Übersetzungsversuche sind Legion), die die höchste Konzentration verlangt. Kapielski gelingt das schöne Kunststück, diese Form in der Veralberung zu achten, sie durch Unterbietung zu perfektionieren: "AUA / UHU / AUA" ergeben, untereinandergeschrieben wie die Satorformel. in der senkrechten Lektüre dasselbe wie in der waagerechten. Die ebenmäßigste Lösung war, so Kapielski, "wie bei den Blumen, zugleich auch die einfältigste".

Gern spendet er sich selbst ein wenig Beifall, wie es schon der Untertitel "Denkwürdigkeiten" andeutet. Und den sprachlichen Manierismus scheut er nicht, er setzt ihn als Stilmittel ein - und auch damit sorgt er für eine Balance. Denn zu den schönsten Stücken des Buches gehören die Funde aus der Volkssprache, merkwürdige rätselhafte Wendungen, grammatische Kuriositäten und aufgeschnappte Gesprächsfetzen: "Fümf Millimeter! - Wat Orjinalstärke is." Mehr konnte er nicht hören, mehr war auch nicht nötig. Das ist echt, das versöhnt mit der vom Wahn verunstalteten Welt.

Thomas Kapielski: "Weltgunst". Denkwürdigkeiten 2002 bis Sommer 2004. Merve Verlag, Berlin 2004. 180 S., br., 13,80 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension

So allerlei ist Thomas Kapielski inzwischen, vom Langzeitstudenten zum Manne mittleren Alters gereift, Edith Siepmann zählt auf: "Dichter, Fotograf, Musiker, Maler, Professor, Geo-, Theo- und Philologe". Auf diversen Feldern tobt er sich aus, auch in seiner jüngsten Publikation, die sich von Vorangegangenem teils deutlich unterscheide. Was es jetzt kaum noch gibt, sind die autobiografisch fundierten längeren Texte, dafür geht es jetzt aphoristischer zu, weltweiser, der Ton ist melancholisch, es stellen sich Fragen wie diese: "Warum es überhaupt Nichts nicht gibt und viel mehr Mehr als nötig." Siepmann ist offenkundig ganz begeistert von diesem Buch, zitiert ein ums andere Mal und scheint gewillt, über die "Späne", die beim philosophischen "Hobeln" auch mal fallen, großzügig hinwegzusehen.

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