"Weltinnenraum" ist Rilkes poetisches Bild für den Zusammenhang aller Dinge und Ereignisse im Universum. In seinen "Duineser Elegien" geht es um die Vergeistigung der endlichen Welt der Dinge hinein in eine zeitfreie Gestalt. Der Bezug zur östlichen Weisheitslehre, besonders zur buddhistischen Religion, liegt auf der Hand. Michael von Brück arbeitet ihn in diesem bahnbrechenden Werk über die Verbindung von Religion und Poesie heraus. Er zeigt, dass Rilke, der von der Gestalt des Buddha zutiefst berührt war, in seiner Poesie eine Erfahrung aufscheinen lässt, wonach hinter der oft leidvollen und zerrissenen Lebenswelt ein Zusammenhang erkennbar wird, der alles umfasst und dem Leben neuen Sinn gibt.
Michael von Brück deutet Rilkes "Duineser Elegien"
Große Dichtung zu deuten ist immer prekär. Kann ein Interpret ihr mit nüchtern erklärenden Worten etwas Neues und Überraschendes hinzufügen? Kann die Aufbereitung des biographisch-historischen Rahmens tatsächlich das Verständnis vertiefen, gerade von Lyrik, die einen Ewigkeitswert beansprucht? Das sind Fragen, die immer wieder gestellt werden und auch in einem Buch mitschwingen, das noch einmal versucht, einen der geheimnisvollsten Texte der modernen deutschen Literatur, die "Duineser Elegien" von Rainer Maria Rilke, aus ihrem selbstgewählten Dunkel und Verschweigen in beredtes Licht zu rücken. Der Autor ist kein Literaturwissenschaftler, sondern der Münchener Religionswissenschaftler Michael von Brück, ein Kenner des Hinduismus und Buddhismus, mit dessen Vertretern er seit Jahrzehnten und weltweit im Dialog steht.
Als Interpret der "Duineser Elegien" bringt der Autor also ein wissenschaftliches Rüstzeug und einen Erfahrungshorizont mit, der anderen Deutern fern war. Darum fällt in Michael von Brücks Buch frisches Licht auf diese Texte. Der Autor hat die Rilke-Forschung präsent, ist aber ebenso in moderner Musik und bildender Kunst zu Hause. Seine großen Gewährsleute sind Nietzsche, Wagner, Meister Eckehart und Schiller, nebst eben buddhistischen und hinduistischen Texten. In der Rilke-Exegese profitiert er am meisten von den "Elegien"-Auslegern Romano Guardini und Jacob Steiner.
Orchestral setzt er einen mosaikhaften Kontext um die Elegien zusammen, der ahnen lässt, dass sie kein Einziger und Einsamer gedichtet hat, sondern dass sie der Umbruchzeit im und nach dem Ersten Weltkrieg verpflichtet sind. Es entsteht das Bild eines Dichters der Zeitenwende, die Rilke einerseits herbeisehnte, gegen die er sich anderseits wehrte. Sein technikfremdes, übersensibles, der intuitiven Innenschau hingegebenes Werk mit den machtvollen Archetypen wird greifbar. Engel und Baum, Garten und Stern werden in ihren mehrdimensionalen Erscheinungen zitiert und ausgelotet. Metaphysische Vorstellungen, mit denen Rilke seine sprachmagischen Kapriolen schlägt, werden auf ihre geschichtlichen Hintergründe und zeitgeschichtliche Relevanz abgetastet. Dabei behauptet Michael von Brück keineswegs, er wüsste stets Bescheid. Was nicht enträtselt werden kann, was vielleicht sogar matt und undeutbar ist, dazu wirft er Fragen auf, nennt Möglichkeiten, aber erzwingt keine Antworten. Allerdings kommt er dabei selbst manchmal ins lyrische Raunen.
Wenn der Untertitel verspricht, dass die "Duineser Elegien" hier "in Resonanz mit dem Buddha" betrachtet werden, meint dies nicht, Rilke habe sie in Anlehnung an buddhistische Lehren verfasst. Rilkes entsprechende Faszination hat zuletzt Karl Josef Kuschel ("Rilke und der Buddha", 2010) dargestellt. Von Brück umschreibt Parallelen in der geistigen Haltung, im Symbolischen, in der Ewigkeitssehnsucht. Das Buch verlangt nach nachdenklichen Lesern. Die werden es lange bei sich tragen.
MARTIN KÄMPCHEN.
Michael von Brück: "Weltinnenraum".
Rainer Maria Rilkes "Duineser Elegien" in Resonanz mit dem Buddha.
Herder Verlag, Freiburg 2015.
284 S., 10 Bildtafeln, geb., 29,99 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Als Religionswissenschaftler mit den Schwerpunkten Buddhismus und Hinduismus, darüber hinaus mit Kenntnissen in moderner Musik, bildender Kunst und der Literatur Nietzsches oder Schillers bringt Michael von Brück das nötige Handwerkszeug mit, um einen erfrischenden Blick auf Rilkes "Duineser Elegien" zu werfen, verspricht Martin Kämpchen. Geradezu "orchestral" erscheint es dem Kritiker, wie Brück Rilkes "sprachmagische Kapriolen" auf ihre mächtigen Archetypen, metaphysischen Vorstellungen und historischen Hintergründe hin ausleuchtet, dabei die Rilke-Forschung präsent hat und doch dem Rätselhaften seine Möglichkeiten lässt, ohne Antworten zu erzwingen. Ein Buch, das so lange nachhallt, dass man gelegentliches "lyrisches Raunen" getrost überhören kann, schließt der Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
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