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Rezensionen
Gegen den Mainstream
Zum Thema 11. September sind binnen kürzester Zeit zahlreiche Publikationen erschienen. Da konnte man viel Sensationsheischendes lesen und auch Hasserfülltes - Stichwort: Oriana Fallaci. Nicht wenige Leser wünschen sich eine kühle Analyse der Ereignisse und ihrer Folgen. Ernst-Otto Czempiel zählt neben Noam Chomsky und Johan Galtung sicher zu den Autoren, die diese Erwartungen am ehesten erfüllen. Als Professor für Internationale Politik und Außenpolitik sowie Mitbegründer der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung hat er sich einen Namen als vehementer Verfechter pazifistischer und pragmatischer Lösungen gemacht.
Die Gesellschaft ist gefragt
Czempiel hat sein Werk von 1991 über die außenpolitischen Konsequenzen des Endes der Ost-West-Konfrontation neu geschrieben und untersucht nun das Eindringen gesellschaftlicher Akteure in die Internationale Politik vor dem Hintergrund des 11. September. Für die letzten Jahre diagnostiziert er vor allem drei Trends: das Erstarken der "Gesellschaftswelt" im Verhältnis zur Staatsmacht; Krieg findet immer öfter als Bürgerkrieg statt; und die globalisierte Welt erlebt einen zunehmend globalisierten Widerstand. Wie reagieren nun die Staaten auf diese Veränderungen? Ist die Pax Americana wirklich die einzige Antwort?
Gesellschaftliche Kontrolle
Im Sinne praktischer Politikberatung endet das Buch mit konkreten Empfehlungen. Czempiel fordert eine vorbeugende (Friedens-)Politik, die, wenn überhaupt, bisher nur als Lippenbekenntnis existiert. Vor allem Europa sieht er auf dem richtigen Weg, das Ende des Kalten Kriegs konstruktiv zu gestalten. Gesellschaftliche Kräfte und auch die Wirtschaft haben ein gemeinsames Interesse an der Verhinderung von Kriegen. Sie müssen ihre Macht gegenüber den Regierungen einsetzen, die im Augenblick schon wieder zu einem Waffengang mit unvorhersehbarem Ausgang rufen.
(Henrik Flor, literaturtest.de)
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.01.2003

Wer hat die Bouillabaisse versalzen?
Ernst-Otto Czempiels Kritik an den Vereinigten Staaten spießt manches Zutreffende auf

Ernst-Otto Czempiel: Weltpolitik im Umbruch. Die Pax Americana, der Terrorismus und die Zukunft der internationalen Beziehungen. Verlag C.H. Beck, München 2002. 230 Seiten, 12,90 [Euro].

Ernst-Otto Czempiel hat schon viele Bücher und Aufsätze geschrieben. Selbst von denen, die manche seiner Theorien überzogen und seine Prognosen gelegentlich voreilig fanden, wurden sie doch durchweg als anregend und im großen und ganzen abgewogen beurteilt. Die neueste Studie aktualisiert seine im Fach hinlänglich bekannten Positionen einmal mehr. Dazu gehört beispielsweise die zutreffende Beobachtung, daß der Krieg in die Staaten "eingewandert" und vielerorts zum Bürgerkrieg geworden ist.

Niemand wird Czempiel widersprechen, wenn er mit beharrlichem Nachdruck die zunehmende Bedeutung nichtstaatlicher, vielfach transnational operierender Akteure herausarbeitet. Daher ist "Gesellschaftswelt" zu einem seiner Lieblingsbegriffe geworden. Freilich gleicht die "Gesellschaftswelt" à la Czempiel einer politologischen Bouillabaisse, in der gar vieles herumschwimmt: etwa das Verlangen der Bürger, sich nicht von gewaltbereiten Regierungen in kostspielige und häßliche Kriege ziehen zu lassen, oder die Forderung nach Demokratisierung, doch genauso das Aufbegehren gegen Kolonialismus und gegen imperiale Mächte. Aber auch Bin Ladin und das Terrornetz Al Qaida, so sieht er es, seien Manifestationen dieser "Gesellschaftswelt".

Das alles ist zwar nicht besonders neu, auch nicht besonders klar und widerspruchsfrei. Doch die Theoretiker der internationalen Beziehungen erfassen nun einmal deren chaotische Kompliziertheit mit jeweils eigenen, oft voneinander abweichenden Meinungen. Somit könnte man diese kleine, pointiert formulierte Schrift freundlich und unkommentiert in die schon übervollen Regale mit vergleichbarer Literatur stellen, wo derlei Ware rasch veraltet. Doch manches, was sich darin an Meinungen zu den aktuellen Kontroversfragen findet, ist doch recht erstaunlich und kann nicht ganz unerwähnt bleiben.

So rechnet Czempiel etwa den nationalen Befreiungskampf der Palästinenser "zum Widerstand, keinesfalls zum Terrorismus". Mit welch verwerflichen Mitteln dieser Kampf derzeit ausgetragen wird, weiß er natürlich und fügt deshalb scheinbar beschwichtigend in Klammern hinzu: "Ob die vom palästinensischen Widerstand eingesetzten Selbstmordattentate gegen israelische Zivilisten moralisch und politisch richtig sind, steht auf einem ganz anderen Blatt . .." Gewiß, der Analytiker sollte die Welt mit kaltem Blick betrachten. Doch Czempiel versteht sich zugleich auch als Moralist. Man wundert sich deshalb, bei einem ansonsten so sensiblen Autor derartige Sätze und die damit verbundenen Passagen zu lesen. Sie werden durch den entschuldigenden Hinweis auf die brutalen Strafaktionen der israelischen Besatzungsmacht nicht verdaulicher.

Der Anschlag vom 11. September 2001 wird zwar unter Einsatz sophistischer Begriffsakrobatik schließlich als "politischer Terrorismus" eingestuft, doch auch das nur im Kontext gewundener Ausführungen wie: "die Adressaten" (sprich: die Amerikaner und alle, die sich von der amerikanisch-westlichen Politik betroffen fühlten) seien "in keiner Weise für den Mordanschlag verantwortlich, sie sind nicht seine Ursache". Wohl aber müßten sie - hier wird ausgerechnet auf den Staatsterroristen Mao Tse-tung Bezug genommen - als "Quelle" verstanden werden, die den Terrorismus speist. Was heißt das: keine Ursachen, aber doch Quellen?

In der Tat hält Czempiel mit seiner Meinung nicht hinter dem Berg, der amerikanische Präsident habe von Anfang an den festen Willen besessen, das riesige Gewaltpotential der Vereinigten Staaten auch zu benutzen: "Was dem jüngeren Bush fehlte, war die Gelegenheit." Diese sei ihm am 11. September zugewachsen. Czempiel hält nämlich die derzeitige amerikanische Regierung zusammen mit den Öl- und Rüstungslobbys für unverhüllt imperialistisch. So fließt ihm leichthin ein Satz wie der folgende in die Feder: "Den Beschluß, den Irak anzugreifen, faßten Verteidigungsministerium und Präsident offenbar schon im Sommer 2001." Während aber andere Feststellungen mit einem Stacheldrahtverhau von Anmerkungen geschützt sind, fehlt außer einem Hinweis auf Richard Perle für diese doch recht weitgehende Behauptung jeder Beleg.

Die Vereinigten Staaten, so schält sich deutlich heraus, sind nach Czempiels Meinung im Grunde die Angreifer, und die von der Supermacht Bedrängten, in ihrer Identität Bedrohten wehren sich eben, deutet er an, mit den ihnen zu Gebote stehenden Mitteln. Aber im Grunde, so wird suggeriert, sind nicht nur die Massenmörder des 11. September und deren Drahtzieher schuldig, sondern irgendwie doch auch die konservativen Machteliten der Vereinigten Staaten. "Selektive Weltherrschaft" sei zugegebenermaßen das Ziel der Bush-Administration. Und neuerdings werde in Amerika der Imperialismus von linken und rechten Intellektuellen ganz offen legitimiert.

Czempiel steht den Vereinigten Staaten seit langem recht ambivalent gegenüber, manchmal fasziniert und freudig zustimmend, manchmal abgestoßen. Derzeit dominiert eine schrill artikulierte Kritik, die sicherlich manches Zutreffende aufspießt, insgesamt aber doch übers Ziel hinausschießt. Das Treiben der Polit-Kriminellen im Al-Qaida-Netzwerk oder anderer Gewalttäter sucht er bemerkenswert unvoreingenommen zu verstehen, während er für die Motive, Ziele und Methoden der amerikanischen Regierung fast nur Mißtrauen und herbe Kritik übrig hat, aber kaum Verständnis. Die Vereinigten Staaten bewegen sich, warnt Czempiel, langsam auf das Stadium zu, "in dem eine expansionistische, gewaltgestützte Außenpolitik eng verbunden einhergeht mit der Ausbildung autoritärer Regierungsstrukturen".

Das Erstaunen des Lesers steigert sich von Seite zu Seite. So findet sich in dieser im Juli 2002 abgeschlossenen Studie auch die apodiktische - wie wir heute wissen: empirisch falsifizierte - Prognose: "Für den Feldzug gegen den Irak wird die Bush-Regierung um ein UN-Mandat auf keinen Fall nachsuchen." Genug der Lesefrüchte, die sich unschwer vermehren ließen. Wenn die Kriegstrompeten erschallen, verfallen bekanntlich auch Professoren leider nur allzu häufig der Radikalisierung, sei es nach links oder nach rechts - dies übrigens nicht nur in Deutschland. Jedenfalls hatte Czempiel, als er nach vielen schönen, abgewogenen Büchern und Studien diesen Schnellschuß aus der Hüfte feuerte, nicht eben seinen besten Tag.

HANS-PETER SCHWARZ

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Zunächst einmal versucht der Rezensent Hans-Peter Schwarz, dem Autor Ernst-Otto Czempiel Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Viele seiner Bücher seien anregend, auch wenn man seine Ansichten nicht teilt. Diesen neuesten Band aber will Schwarz nicht unter diese begrüßenswerten, wenn auch in der theoretischen Ausarbeitung "nicht immer besonders klaren und widerspruchsfreien" Werke einreihen. Diesmal nämlich geht ihm Czempiel mit der Amerikakritik entschieden zu weit. Das reicht von gewundenen Ausführungen zum 11. September (amerikanischer Imperialismus nicht als Ursache, aber als Quelle der Anschläge) bis zur kaum belegten These, George W. Bush habe schon im Juni 2001 einen Angriff auf den Irak geplant, nur keine rechte Gelegenheit dafür gesehen. Des weiteren ist Schwarz mit Czempiels Ansicht, beim Befreiungskampf der Palästinenser handle es sich nicht um Terrorismus, keineswegs einverstanden. Alles in allem: Dieses Buch ist "ein Schnellschuss aus der Hüfte", bei dem der Autor "nicht eben seinen besten Tag" hatte.

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