Nirgends ist die Vergangenheit des 20. Jahrhunderts so präsent wie in Romanen und Filmen. Zahlreiche Werke der Literatur und des Films erinnern diese Zeitgeschichte, indem sie darüber Geschichten erzählen. Auf diese Weise wird eine Erinnerungskultur gestiftet, die identitätsbildend und zugleich interpretationsbedürftig ist.Im Mittelpunkt des Buches stehen die deutschen und europäischen Erinnerungsorte von Krieg, Holocaust, Widerstand, Flucht und Vertreibung, von Mauerbau, Friedlicher Revolution, deutscher und europäischer Einheit. Der Autor untersucht das Verhältnis von Fakten und Fiktionen, die Ethik des Erzählens, die Unterschiede zwischen Täter- und Opfergedächtnis sowie die Frage, ob und inwiefern man aus der Geschichte lernen kann. Einzelne Themen sind Hitler im Film ("Der Untergang"), der Widerstandsfilm ("Sophie Scholl - Die letzten Tage", "Operation Walküre"), die Erinnerungs-Collage (Walter Kempowskis "Das Echolot"), die Nachkriegsdeportation (Herta Müllers "Atemschaukel"), der DDR-Endzeitroman (Uwe Tellkamps "Der Turm") und Mauerfall-Geschichten (u.a. von Durs Grünbein).
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Kai Spanke sieht die Schwierigkeit des Buches weniger in einem Mangel an Informationen als in einem "Mangel an Akkuratesse und analytischer Hingabe", im Fehlen einer genauen Stellenanalyse, die der ästhetischen Komplexität von Literatur und Film gerecht wird. Dass der Autor mehr auf Pointen denn auf stichhaltige Argumentation setzt und den Rezensenten beim Lesen durch seinen naiven Gestus an Seminararbeiten denken lässt, macht die Angelegenheit für Spanke nicht angenehmer. Literatur- und Filmwissenschaft als Kulturwissenschaft, die auf das Historische aus ist, anstatt auf das Individuelle eines Kunstwerks, scheint Spanke nicht unproblematisch.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.04.2013Dichtung ist trotz allem keine Geschichtsschreibung
Auch wenn historische Fakten im Text vorkommen: Der Germanist Michael Braun plädiert in seinem Buch "Wem gehört die Geschichte?" für die Souveränität der Fiktion.
In seiner "Poetik" trifft Aristoteles eine weitreichende Unterscheidung zwischen Geschichtsschreibung und Dichtung. Während sich der faktentreue Historiker darum bemühe, das Wirkliche und Besondere darzustellen, schildere der ungezwungene Dichter das Mögliche und Allgemeine. Deshalb sei Dichtung philosophischer als Geschichtsschreibung. Seit der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts ist diese Erkenntnis in einem entscheidenden Punkt modifiziert: Tatsächlich nämlich ist das wesentlichste Charakteristikum der Poesie nicht eine philosophische Tiefe, sondern ihre ästhetische Autonomie.
Auch der Germanist Michael Braun plädiert gleich zu Beginn seines Buchs "Wem gehört die Geschichte?" für die Souveränität der Fiktion. Zwar bezieht er sich dabei nicht explizit auf Aristoteles, doch das Erbe der "Poetik" des griechischen Philosophen ist kaum zu überlesen. Der Historiker, so heißt es, "rekonstruiert, was geschehen ist", der Dichter erzählt, "was hätte geschehen können". Deshalb gehorche die Fiktion eigenen Gesetzen und beziehe ihre "Möglichkeit aus sich selbst heraus". Dieses Bekenntnis zur Anders- und Einzigartigkeit ästhetischer Phänomene ist insofern angebracht, als Brauns Buch von "Erinnerungskultur in Literatur und Film" handelt. Ob Christa Wolfs "Was bleibt", Oliver Hirschbiegels "Der Untergang" oder Herta Müllers "Atemschaukel" - stets eignet den besprochenen Beispielen eine komplexe Engführung von Fiktion und Geschichte. Die Differenzierung zwischen historischer und poetischer Erinnerung bringt da theoretische Klarheit und legt den Interpretationskurs fest.
Meint man. Denn überraschenderweise wird die just gewonnene Prägnanz im Weiteren sofort wieder kassiert. Obwohl die Bedeutsamkeit des Künstlerischen noch mehrmals zur Sprache kommt, ist Brauns Interesse in erster Linie ein kulturwissenschaftliches. Dabei spielt das von Maurice Halbwachs entwickelte und von Forschern wie Jan und Aleida Assmann ausgebaute Konzept des kollektiven Gedächtnisses die wichtigste Rolle. Verhandelt werden aber auch die Kategorie der konfabulierenden Erinnerung, Orte, Zeitpunkte und Modi der Erinnerung, die Gedächtnisformen ars (Speicherwissen) und vis (aktive Erinnerung) sowie jene wirkmächtigen und unvergesslichen Bilder, die man imagines agentes nennt.
Nun ist gegen die Kulturwissenschaft und ihre häufig faszinierenden Einsichten überhaupt nichts zu sagen - solange sie sich um Kultur kümmert, nicht um Literatur. Das Problem einer Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft besteht darin, dass bei ihr vielfach nicht mehr um das Verständnis der individuellen Sprache des Dichters gerungen, sondern der Text auf seine Anschlussfähigkeit an Historisches abgeklopft wird. Deutlich wird das etwa bei Brauns Befund, die Literatur zur friedlichen Revolution appelliere "an einen kritischen Umgang mit der Erinnerung", was Durs Grünbeins Erzählung "Der Weg nach Bornholm" mustergültig belege. Statt einer Untersuchung von Struktur, Stil und Ausdruck des Texts folgen eine Inhaltsangabe, instruktive Zeitdiagnostik sowie der Hinweis, die Hauptfigur Rufus sei kein Geringerer als Grünbein selbst.
Solche engagierten Lesarten schießen auch bei den Filmanalysen ordentlich übers Ziel hinaus. Ob es, wie Braun behauptet, Quentin Tarantino in "Inglourious Basterds" darum geht, "was aus der Geschichte hätte werden können, wenn sie in entscheidenden Momenten anders verlaufen wäre", darf man genauso bezweifeln wie die These, die Aufgabe eines Filmemachers sei es, die "Überlieferung des kulturellen Gedächtnisses von einer Generation zur nächsten zu gestalten und die Bedeutung der Vergangenheit für die Gegenwart abzuwägen".
Nur selten werden derartig krude Hauruckpostulate in ausführlichen Argumentationsgängen entwickelt. Vielmehr bilden sie immer wieder die unvermittelte Schlusspointe eines Kapitels. Das wird dann besonders fatal, wenn sich auch noch orthographische Schludrigkeiten ("Reiner Maria Rilke", "Inglorious Basterds") und Herleitungen, deren naiver Gestus an Seminararbeiten denken lässt, hinzugesellen. So erklärt Braun ein mit Verbotsschildern ausstaffiertes Jugendzimmer in Leander Haußmanns Film "Sonnenallee" wie folgt: "Auf diese Weise stellt die Exposition die DDR als Verbotsstaat vor."
Diesem Mangel an Akkuratesse und analytischer Hingabe steht indes eine beachtliche Fülle von Kontext- und Hintergrundinformationen gegenüber. Neben dem Auslieferungstermin von Günter Grass' Novelle "Im Krebsgang" erfahren wir auch die Höhe der Erstauflage und die Dauer der Sperrfrist. Wir lernen, wie es zu Walter Kempowskis "Echolot"-Projekt kam und wo sein Lektor das Innovationspotential dieses Unternehmens sah. Wir werden darüber unterrichtet, welche Preise Jonathan Littell für seinen Roman "Die Wohlgesinnten" erhielt und dass die Öffentlichkeit ihre Schwierigkeiten mit dem Buch hatte. Schließlich können wir laufend nachlesen, was Autoren über die Entstehung der eigenen Werke ausplauderten und wie das Feuilleton darauf jeweils reagiert hat.
Kurzum: Der Leser wird eingehend daran erinnert, dass in Texten und Filmen erinnert wurde. Was jedoch fehlt, ist eine subtile Stellenanalyse, die zeigen könnte, wie erinnert wurde. Es ist dieses Desinteresse an ästhetischer Komplexität, das Brauns Buch leider so wenig überzeugend macht. Dichtung ist keine Geschichtsschreibung, auch dann nicht, wenn historische Fakten im Text erscheinen. Das wusste schon Aristoteles.
KAI SPANKE
Michael Braun: "Wem gehört die Geschichte?" Erinnerungskultur in Literatur und Film.
Aschendorff Verlag, Münster 2012. 208 S., br., 12,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Auch wenn historische Fakten im Text vorkommen: Der Germanist Michael Braun plädiert in seinem Buch "Wem gehört die Geschichte?" für die Souveränität der Fiktion.
In seiner "Poetik" trifft Aristoteles eine weitreichende Unterscheidung zwischen Geschichtsschreibung und Dichtung. Während sich der faktentreue Historiker darum bemühe, das Wirkliche und Besondere darzustellen, schildere der ungezwungene Dichter das Mögliche und Allgemeine. Deshalb sei Dichtung philosophischer als Geschichtsschreibung. Seit der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts ist diese Erkenntnis in einem entscheidenden Punkt modifiziert: Tatsächlich nämlich ist das wesentlichste Charakteristikum der Poesie nicht eine philosophische Tiefe, sondern ihre ästhetische Autonomie.
Auch der Germanist Michael Braun plädiert gleich zu Beginn seines Buchs "Wem gehört die Geschichte?" für die Souveränität der Fiktion. Zwar bezieht er sich dabei nicht explizit auf Aristoteles, doch das Erbe der "Poetik" des griechischen Philosophen ist kaum zu überlesen. Der Historiker, so heißt es, "rekonstruiert, was geschehen ist", der Dichter erzählt, "was hätte geschehen können". Deshalb gehorche die Fiktion eigenen Gesetzen und beziehe ihre "Möglichkeit aus sich selbst heraus". Dieses Bekenntnis zur Anders- und Einzigartigkeit ästhetischer Phänomene ist insofern angebracht, als Brauns Buch von "Erinnerungskultur in Literatur und Film" handelt. Ob Christa Wolfs "Was bleibt", Oliver Hirschbiegels "Der Untergang" oder Herta Müllers "Atemschaukel" - stets eignet den besprochenen Beispielen eine komplexe Engführung von Fiktion und Geschichte. Die Differenzierung zwischen historischer und poetischer Erinnerung bringt da theoretische Klarheit und legt den Interpretationskurs fest.
Meint man. Denn überraschenderweise wird die just gewonnene Prägnanz im Weiteren sofort wieder kassiert. Obwohl die Bedeutsamkeit des Künstlerischen noch mehrmals zur Sprache kommt, ist Brauns Interesse in erster Linie ein kulturwissenschaftliches. Dabei spielt das von Maurice Halbwachs entwickelte und von Forschern wie Jan und Aleida Assmann ausgebaute Konzept des kollektiven Gedächtnisses die wichtigste Rolle. Verhandelt werden aber auch die Kategorie der konfabulierenden Erinnerung, Orte, Zeitpunkte und Modi der Erinnerung, die Gedächtnisformen ars (Speicherwissen) und vis (aktive Erinnerung) sowie jene wirkmächtigen und unvergesslichen Bilder, die man imagines agentes nennt.
Nun ist gegen die Kulturwissenschaft und ihre häufig faszinierenden Einsichten überhaupt nichts zu sagen - solange sie sich um Kultur kümmert, nicht um Literatur. Das Problem einer Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft besteht darin, dass bei ihr vielfach nicht mehr um das Verständnis der individuellen Sprache des Dichters gerungen, sondern der Text auf seine Anschlussfähigkeit an Historisches abgeklopft wird. Deutlich wird das etwa bei Brauns Befund, die Literatur zur friedlichen Revolution appelliere "an einen kritischen Umgang mit der Erinnerung", was Durs Grünbeins Erzählung "Der Weg nach Bornholm" mustergültig belege. Statt einer Untersuchung von Struktur, Stil und Ausdruck des Texts folgen eine Inhaltsangabe, instruktive Zeitdiagnostik sowie der Hinweis, die Hauptfigur Rufus sei kein Geringerer als Grünbein selbst.
Solche engagierten Lesarten schießen auch bei den Filmanalysen ordentlich übers Ziel hinaus. Ob es, wie Braun behauptet, Quentin Tarantino in "Inglourious Basterds" darum geht, "was aus der Geschichte hätte werden können, wenn sie in entscheidenden Momenten anders verlaufen wäre", darf man genauso bezweifeln wie die These, die Aufgabe eines Filmemachers sei es, die "Überlieferung des kulturellen Gedächtnisses von einer Generation zur nächsten zu gestalten und die Bedeutung der Vergangenheit für die Gegenwart abzuwägen".
Nur selten werden derartig krude Hauruckpostulate in ausführlichen Argumentationsgängen entwickelt. Vielmehr bilden sie immer wieder die unvermittelte Schlusspointe eines Kapitels. Das wird dann besonders fatal, wenn sich auch noch orthographische Schludrigkeiten ("Reiner Maria Rilke", "Inglorious Basterds") und Herleitungen, deren naiver Gestus an Seminararbeiten denken lässt, hinzugesellen. So erklärt Braun ein mit Verbotsschildern ausstaffiertes Jugendzimmer in Leander Haußmanns Film "Sonnenallee" wie folgt: "Auf diese Weise stellt die Exposition die DDR als Verbotsstaat vor."
Diesem Mangel an Akkuratesse und analytischer Hingabe steht indes eine beachtliche Fülle von Kontext- und Hintergrundinformationen gegenüber. Neben dem Auslieferungstermin von Günter Grass' Novelle "Im Krebsgang" erfahren wir auch die Höhe der Erstauflage und die Dauer der Sperrfrist. Wir lernen, wie es zu Walter Kempowskis "Echolot"-Projekt kam und wo sein Lektor das Innovationspotential dieses Unternehmens sah. Wir werden darüber unterrichtet, welche Preise Jonathan Littell für seinen Roman "Die Wohlgesinnten" erhielt und dass die Öffentlichkeit ihre Schwierigkeiten mit dem Buch hatte. Schließlich können wir laufend nachlesen, was Autoren über die Entstehung der eigenen Werke ausplauderten und wie das Feuilleton darauf jeweils reagiert hat.
Kurzum: Der Leser wird eingehend daran erinnert, dass in Texten und Filmen erinnert wurde. Was jedoch fehlt, ist eine subtile Stellenanalyse, die zeigen könnte, wie erinnert wurde. Es ist dieses Desinteresse an ästhetischer Komplexität, das Brauns Buch leider so wenig überzeugend macht. Dichtung ist keine Geschichtsschreibung, auch dann nicht, wenn historische Fakten im Text erscheinen. Das wusste schon Aristoteles.
KAI SPANKE
Michael Braun: "Wem gehört die Geschichte?" Erinnerungskultur in Literatur und Film.
Aschendorff Verlag, Münster 2012. 208 S., br., 12,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main