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Am Morgen des 3. November 1855 stürzte sich der deutsche Gast Hermann Franck aus dem dritten Stock seines Hotels in Brighton und starb. Seinen Sohn, den 15jährigen Hugo, fand man tot im Bett. Der Aufsehen erregende Vorfall konnte nie aufgeklärt werden. 150 Jahre danach hat ein Nachfahre Hermann Francks "Tagebuch für Hugo" entdeckt und ediert. Es ist ein einzigartiges literar-historisches Dokument aus dem 19. Jahrhundert: Ein alleinerziehender Vater schildert für seinen Sohn akribisch das gemeinsame Leben und Erleben. So entsteht ein Kindheitsbuch, das in der Kulturgeschichte seinesgleichen nicht hat. …mehr

Produktbeschreibung
Am Morgen des 3. November 1855 stürzte sich der deutsche Gast Hermann Franck aus dem dritten Stock seines Hotels in Brighton und starb. Seinen Sohn, den 15jährigen Hugo, fand man tot im Bett. Der Aufsehen erregende Vorfall konnte nie aufgeklärt werden. 150 Jahre danach hat ein Nachfahre Hermann Francks "Tagebuch für Hugo" entdeckt und ediert. Es ist ein einzigartiges literar-historisches Dokument aus dem 19. Jahrhundert: Ein alleinerziehender Vater schildert für seinen Sohn akribisch das gemeinsame Leben und Erleben. So entsteht ein Kindheitsbuch, das in der Kulturgeschichte seinesgleichen nicht hat.
Autorenporträt
Hermann Franck (1802 - 1855) studierte Naturwissenschaften und Philosophie. Als geschätzter Kunst- und Musikkenner verkehrte er in den höheren Kreisen. 1838 heiratete er die Tochter des Prinzen Heinrich von Preußen, am 26. Mai 1840 kam Sohn Hugo zur Welt.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.10.1997

Der Sohn hat jemanden, der ihm schreibt
Hermann Francks Tagebuch für Hugo / Von Lothar Müller

Am sechsten Dezember 1847 kam der Berliner Maler Wilhelm Hensel in die Wohnung seines Nachbarn Hermann Franck am Leipziger Platz, um eine Porträtzeichnung von dessen Gattin anzufertigen. Sie war am Vortage im Alter von siebenunddreißig Jahren unerwartet verstorben. Am Tag nach der Beerdigung hat Hermann Franck ein Tagebuch für seinen Sohn Hugo begonnen und über nahezu acht Jahre fortgeführt. Das Manuskript ist jetzt erstmals publiziert worden. Es ist ein einzigartiges Dokument zur inneren Geschichte des deutschen Bürgertums im neunzehnten Jahrhundert.

Einmal begonnen, wächst es über den Totenkult und die Beschwörung des Andenkens der Mutter bald hinaus. Der Vater hat in den Sarg der Toten nicht nur eine von Hugos Zeichnungen gelegt, sondern eigenhändig einige Zeilen hinzugefügt, in denen es heißt: "Unser Hugo bleibt mir Dein Vermächtnis." Mit fünfundvierzig Jahren hätte der reiche, gebildete, im bürgerlichen Berlin angesehene Hermann Franck eine Wiederverheiratung durchaus ins Auge fassen können. Er hat statt dessen entschlossen das Erbe der Mutter angetreten und die Erziehung des einzigen Kindes zum unangefochtenen Zentrum des eigenen Lebens gemacht. Zugleich hat er sich in einen unermüdlichen Beobachter und Protokollanten seiner selbst und des Sohnes verwandelt.

In dem, was Hermann Franck - meist "in der Mitternachtsstunde" - aufschreibt, soll Hugo später wie in einem aus Tausenden von Einzelsplittern zusammengesetzten Spiegel das Bild der eigenen Kindheit, Ursprung und Kern seiner Existenz erkennen können. Jeder Eintrag ist ein kleiner Brief, den der Vater an den künftigen Erwachsenen im Sohn adressiert. Doch bleibt der Stil dem Jungen verpflichtet, der beim Tod der Mutter sieben Jahre alt ist. Bis zum Schluß wird das Aufschreibesystem des Vaters nur aufnehmen, was ihm das Fassungsvermögen des Sohnes nicht zu übersteigen scheint.

Daraus resultiert der Ton dieser Aufzeichnungen. Sie handeln wie Rosseaus "Émile" von der Beziehung zwischen einem Erzieher und seinem Zögling. Doch sprechen sie die Sprache der Pädagogik nicht im Gestus philosophisch-anthropologischer Reflexion, sondern mit dem Akzent des Kindes, das es zu erziehen gilt. Sie sind Briefe eines Vaters an seinen Sohn wie diejenigen, die im achtzehnten Jahrhundert Lord Chesterfield an Philip Stanhope schrieb. Doch während Chesterfield als Kenner der großen Welt schreibt, in die er den Sohn einzuführen gedenkt, ist Hermann Franck in seinem Tagebuch für Hugo kaum einmal der politische Publizist, der Kunst- und Musikschriftsteller, der er auch war, sondern nahezu ausschließlich der Vater, der sich als Erzieher über seinen Sohn beugt und ihm alle Geheimnisse seiner Natur abzulauschen sucht. Sein pädagogisches Observatorium ist zwar in Blickweite, doch abseits der großen Debatten und Unruhen der Jahre um 1848 erbaut.

"Gestern machte ich mehrere Besuche und war genötigt, Dich den größten Teil des Tages allein zu lassen", heißt es Anfang Oktober 1850 während eines Paris-Aufenthaltes. Daß einer dieser Besuche Heinrich Heine galt, erfährt der Leser nicht von Hermann Franck, sondern aus den Anmerkungen des Herausgebers Andreas Feuchte. Die "Tageblätter" Varnhagen von Enses, der zu den regelmäßigen Gesprächspartnern Francks gehörte, lassen als Chronik des Berliner Gesellschaftslebens wie der politischen und literarischen Debatten ahnen, was Hermann Franck unerwähnt läßt, um ausschließlich Porträtist des Sohnes zu sein. Varnhagen berichtet, wie er mit Franck über Wilhelm von Humboldt und August Wilhelm Schlegel oder anläßlich von Heines eben erschienenem "Romanzero" über die Rolle von Juden und Christen in der Weltgeschichte debattiert. Wenn Franck selbst ein Gespräch mit Bruno Bauer in das Tagebuch für Hugo aufnimmt, so allein deshalb, weil darin von "einem der starrsten und bekanntesten Verächter des Bibelglaubens" sein Grundsatz bestätigt wird, trotz eigener Distanz zur Welt der Frommen dem Sohn eine religiöse Erziehung zukommen zu lassen, damit er sich begründet für oder gegen den Glauben entscheiden kann.

Wie Varnhagen, dem er politisch nahesteht, gibt auch Hermann Franck einen ausführlichen Bericht über den 18. März 1848, den Auftakt der Revolution in Berlin. Darin interessiert am Aufruhr vor allem, wie er auf das Kind wirkt, das an der Hand des Vaters vom Schloßplatz aus durch die aufgebrachte Menge nach Hause zu gelangen sucht. "Glücklicherweise ist unser Leipziger Platz bis jetzt verschont geblieben, was mir besonders Deinetwegen ungemein lieb ist, indem der Anblick eines Gemetzels oder gar das Eindringen des Volks in unser Zimmer, um aus den Fenstern zu schießen, wie das in anderen Stadtteilen geschehen, einen zu starken Eindruck auf Dich würde gemacht haben."

Der Heraufkunft des industriellen Zeitalters trägt dieses Tagebuch eines liberalen Bürgers nicht in zeitdiagnostischen Reflexionen Rechnung, sondern in Form des beiläufigen Miterzähltwerdens: man reist zwar auch noch in der Kutsche, mehr und mehr aber mit Eisenbahn und Dampfboot. In Paris wohnen Vater und Sohn der Demonstration eines elektrischen Verbrennungs- und Erleuchtungsprozesses bei, in London bewundert Hermann Franck den Kristallpalast in Sydenham als Wunderwerk der neuen Zeit.

Nicht immer erklärt Hermann Franck dem gegenwärtigen Hugo, was er dem künftigen Hugo im Tagebuch anvertraut: "Unser Besuch im Louvre war lang und ermüdend. Von da fuhr ich mit Dir zur ,Gräfin Landfeld', bei welcher ich tags vorher gewesen war. Ich nannte Dir den obigen Namen, verschwieg Dir aber, daß darunter die Lola Montez verborgen sei . . .". Die auffälligste Aussparung betrifft einen Umstand von nicht geringer Bedeutung. In dem Porträt, das Franck auf den ersten Seiten des Tagebuches von Hugos Mutter zeichnet, fehlt jeder Hinweis darauf, daß sie eine "natürliche Tochter" des Prinzen Heinrich von Preußen war, des zweitjüngsten Bruders von Friedrich Wilhelm III. Es bleibt dem Leser überlassen, sich eine Szene vorzustellen, in der der Vater dem kleinen Hugo, der von früh auf eine hartnäckige Abneigung gegen alles Preußische erkennen läßt, diese Genealogie enthüllt. Noch den erwachsenen Hugo scheint der Vater vor dem Wissen um seine Verwandtschaft mit der preußischen Herrscherfamilie wie vor einer kompromittierenden Wahrheit schützen zu wollen.

Im unablässigen Schreiben spinnt der Vater um die Kindheit des Sohnes einen Kokon, aus dem der Erwachsene Hugo als ein Mensch herausschlüpfen soll, der von früh auf mit seiner eigenen Natur bekannt wurde - einer im Kern unkorrumpierbaren, heiter-arglosen Natur, die Hermann Franck als wichtigstes Vermächtnis der Mutter hochhält und hütet. In der Dreiecksgeschichte zwischen dem Vater, dem Sohn und der toten Mutter hat dieses Tagebuch sein Zentrum. Nichts ist hier ohne Bedeutung. Immer wieder wird die physiognomische Ähnlichkeit zwischen Hugo und seiner Mutter betont. Aufmerksam notiert der Vater, ob es der Sohn am eigenen Geburtstag versäumt, der Mutter zu gedenken, deren Geburtstag auf den Vortag fällt. Behutsam, aber hartnäckig fördert er die künstlerischen Anlagen des Sohnes. Zu dessen frühen Talentproben gehört eine Zeichnung, in der er sich selbst am Totenbett der Mutter darstellt, während Professor Hensel ihr gerade das Porträt abnimmt. In Paris wird Hugo Franck dem berühmten Maler Ingres vorgestellt, der ein günstiges Urteil über die Zeichnungen des Jungen fällt. Bei einem der häufigen Karlsbad-Aufenthalte erhält er Unterricht bei dem deutschen Ingres-Schüler Heinrich Lehmann.

Die untergründigen Spannungen, die das Tagebuch des Vaters durchziehen, haben viel mit der Frage der Berufswahl Hugos zu tun. Es gehört zu den Prinzipien Hermann Francks, der jede "Dressur" verabscheute, den als fest gegründet erkannten und geprüften Neigungen des Sohnes auch dann zu entsprechen, wenn sie den eigenen Wünschen zuwiderliefen. So hält das Tagebuch mit dem Älterwerden des Sohnes zugleich die heroisch ertragene Resignation des Vaters fest, dem alle Hoffnungen auf eine künstlerische Laufbahn Hugos schwinden, als dieser weder das Zeichnen noch das Klavierspielen mit vollem Ernst zu seiner Sache macht. Da hilft auch nicht der Besuch bei einem Berliner Konzert der Pianistin Clara Schumann. Energisch verwirft Hugo zudem schon früh die Möglichkeit eines Universitätsstudiums. Das vom Vater mit monotoner Inbrunst verfolgte Auf und Ab seines Schülerschicksals am Joachimsthalschen Gymnasium gehört zu den tristen, wenngleich erziehungsgeschichtlich aufschlußreichsten Passagen dieses Buches. Gegen das Voranrücken und Zurückgesetztwerden auf der Schulbank steht die minutiös dokumentierte Lust des Jungen an Rebus, Scharade und theatralischer Kostümierung, an Laterna magica, Taschenspielerei und dem geliebten Zirkus Renz.

Gefaßt notiert der Vater in der ihm eigenen vernünftigen Diktion, was sich auch als romantischer Roman erzählen ließe: wie das Leben des heranwachsenden Sohnes unaufhaltsam den Bahnen zu folgen beginnt, die seine Lieblingsbücher ihm vorzeichnen. Bereits der achtjährige Hugo begeistert sich für "Sigismund Rüstig", die deutsche Version des "Masterman Ready" aus der Feder des englischen Abenteuererzählers und ehemaligen Marineoffiziers Frederick Marryat. Die Seeromane Coopers kommen bald hinzu. Als der Dreizehnjährige vom Vater die sämtlichen Werke Marryats in rotem Einband erhält, ist er längst ein "Midshipman" in spe. Daß er einer zeittypischen Leidenschaft der Söhne bürgerlicher Berliner Familien nachhängt, deuten die von Hermann Franck im Tagebuch aufmerksam verfolgten Parallelfälle aus dem näheren Bekanntenkreis an.

Das Segelboot, mit dem Hugo an seinem vierzehnten Geburtstag in Treptow zu Wasser geht, ist schon ein Zeichen der resignativen Anerkennung seines Berufswunsches durch den Vater, der schließlich im Sommer 1854 heimlich nach England reist, um für die unabwendbare Lebensentscheidung des Sohnes die günstigsten Voraussetzungen zu schaffen.

Im Frühsommer 1855 verlassen Hermann und Hugo Franck Berlin in Richtungs Portsmouth. Hugo wird freilich nicht bei der englischen Marine, sondern nur als Seekadett auf einem Ostindienfahrer angenommen. Doch endet die Geschichte nicht mit dem wohlgemuten Aufbruch eines jungen Mannes, der den Hafen und die Obhut des Vaters verläßt. Am siebten November 1855 hält Varnhagen von Ense in seinen "Tageblättern" den Besuch des Sanitätsrates Dr. Ruge fest, dessen seit 1850 in England lebenden Bruder Arnold Ruge die Francks in Brighton besucht hatten: "Dr. Ruge hatte einen Brief aus Brighton von seinem Bruder Arnold und gab ihn mir zu lesen! Mir verwirrte sich der Kopf, mir zitterten die Beine bei der Schreckensnachricht, daß Hugo Franck in seinem Bette erwürgt, der Vater tot auf dem Steinpflaster gefunden worden, aus dem vierten Stock herabgestürzt! Am 3. November früh um 6 Uhr. Arnold Ruge war den Abend vorher bei ihnen gewesen, Vater und Sohn hatten Schach gespielt, der Sohn . . . sollte im Dezember seine Reise antreten. Was ist vorgefallen zwischen Vater und Sohn? was in jedem? wie ist das Unheil geschehen? Das wird wohl ewig ein Geheimnis bleiben!"

Bereits unmittelbar nach der Entdeckung der Toten geriet Hermann Franck unter Verdacht, seinen Sohn im Schlaf getötet und dann Selbstmord begangen zu haben. Einer der herangezogenen Ärzte gab freilich zu bedenken, die Male am Hals des Jungen könnten auch von Wiederbelebungsversuchen stammen. Der Fall erregte Aufsehen in der europäischen Presse, blieb aber ungeklärt. Der Herausgeber des jetzt veröffentlichten Tagebuchs ist ein Nachkomme Hermann Francks und will mit der Publikation zu dessen endgültiger Rehabilitierung beitragen: ein so liebend-sorgender Vater kann nicht der Mörder seines Sohnes sein. Auch Hartmut von Hentig, der in einem umfangreichen Vorwort das "Tagebuch für Hugo" den großen Kindheits- und Erziehungsbüchern seit der Aufklärung an die Seite stellt, nimmt einen natürlichen Tod des Sohnes an. In der Tat fallen bei der Lektüre des Tagebuchs die chronischen Kopfschmerzen Hugos ebenso auf wie die leicht eintretende Atemlosigkeit. Als Erklärung bietet sich eine - womöglich von der Mutter ererbte - Herzschwäche an.

Doch kann kein Leser umhin, im Tagebuch zwischen den Zeilen nach Katastrophenpotentialen zu suchen, die auf die Todesnacht vorausdeuten könnten. Auch dieser mißtrauische Blick wird fündig werden. Er wird im Sonderklima dieser Vater-Sohn-Beziehung manches Detail entdecken, aus dem Unabwägbares folgen könnte: etwa die verbalen und körperlichen Attacken des Sohnes auf den Vater, die immer wieder über das in der bürgerlichen Welt erlaubte Maß weit hinausgehen und ein Gegengewicht zum Rohrstock bilden, mit dem der Vater den Sohn gelegentlich züchtigt; oder die nicht seltenen Passagen, in denen von Selbstmordgedanken des Kindes oder Gemütsverdüsterungen des Vaters die Rede ist. Er wird schließlich fragen, wie sich die eingetretene Katastrophe zu jener anderen verhält, die auf Hermann und Hugo Franck unweigerlich zugekommen wäre: die Trennung beim Auslaufen des Ostindienfahrers. Auf die Lücke von gut neun Monaten, die den letzten Eintrag des Tagebuchs von der Todesnacht in Brighton trennt, wird sich seine Einbildungskraft konzentrieren. Denn in diesem verschollenen Teil des Manuskripts könnten sich die eingetretene und die erwartbare Katastrophe aufeinander zubewegt haben.

Hermann Franck: "Wenn Du dies liest . . .". Tagebuch für Hugo. Mit einer Einführung von Hartmut von Hentig. Herausgegeben von Andreas Feuchte. Hanser Verlag, München 1997. 654 S., geb., 58,- DM.

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