Produktdetails
- ISBN-13: 9783442760886
- ISBN-10: 3442760887
- Artikelnr.: 21226048
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.01.2001Posten an der Schmerzgrenze
Kay Redfield Jamisons Untersuchung über den Selbstmord
Es gibt Bücher, die sich dem Rezensenten wie Felsbrocken in den Weg stellen, so daß er dem Leser nur schwer eine Schneise schlagen kann. Daß Selbstmord ein Tabuthema ist, sagt sich leicht. Aber dieser erdrückende Gegenstand wird zu einem Massiv, wenn es, wie in hiesigen Fall, der Autorin gelingt, die Tragweite des Geschehens zu einem Albtraum zu verdichten.
Kay Redfield Jamison, Professorin für Psychiatrie an der John-Hopkins-Universität, weiß, wovon sie schreibt. 1997 erschien in deutscher Übersetzung "Meine ruhelose Seele", ihr autobiographischer Bericht über die eigene manisch-depressive Erkrankung, die mit achtundzwanzig Jahren in einen Selbsmordversuch mündete. Seitdem verfolgt die Autorin dieses Thema, das ihr selbst auflauerte. Das vorliegende Werk bündelt ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse und praktischen Erfahrungen aus einer jahrzehntelangen Arbeit als Psychiaterin.
Was aber ihr neues Buch von Abhandlungen anderer Fachleute über die Suizidproblematik grundlegend unterscheidet, ist die tiefe Einfühlung, mit der sich Jamison dem Leiden ihrer Patienten nähert. Sie beschreibt die Vorstadien des tragischen Endes mit einer Intensität, die den Leser schonungslos in eine Vorhölle versetzt, in der er bis an die Schmerzgrenze zum Mit-Leiden verurteilt ist. Nur so wird er, das scheint die unausgesprochene Botschaft, ob als Mutter, Vater, Geschwister, Ehepartner, Verwandter oder Freund, ausreichend sensibilisiert, um rechtzeitig oder noch in letzter Sekunde dem in seiner Not Ertrinkenden ein Rettungsseil zuwerfen zu können.
Oft aber, das ist die eigentliche Tragödie, greift der Selbsmörder mit Absicht daneben. Die Hilfe kommt nicht zu spät, sie wird ausgeschlagen. Zu lange haben sich Gefühle totaler Selbstentfremdung, des Fremdseins in der Welt und der depressiven Ohnmacht und Hoffnungslosigkeit innerlich ausgebreitet, zu tief reicht die affektive Einengung und Erstarrung und die ihr folgende soziale Isolierung, als daß noch ein Fünkchen Kraft zum Leben übriggeblieben wäre. Die Krankheit hat den Spielraum der eigenen Entscheidung bis zur absoluten Unfreiheit vernichtet. So wird der Gedanke an den eigenen Tod zu Obsession, weil er der unerträglichen Qual ein Ende setzt und am Ende des Tunnels eine neue Form der Freiheit winkt. Der Freitod verspricht Leben in einer bisher nie erfahrenen Leichtigkeit und Freude.
Jamison sieht die Zwangsläufigkeit solcher Entwicklungen in der Schwere der psychischen Erkrankungen begründet, wie der endogenen Depression, der manisch-depressiven Psychose, der Schizophrenie und den ausgeprägten Borderline-Störungen. Allen gemeinsam ist eine erbgenetische Komponente, die sich als cerebrale Stoffwechselstörung manifestiert. Therapeutische Hilfe ist deswegen nur von einer langfristigen und konsequenten medikamentösen Behandlung in Kombination mit unterstützender Psychotherapie zu erwarten. Diese biologisch-psychiatrische Grundposition erklärt aber nicht, warum selbstmordgefährdete Patienten die angebotenen Therapiemöglichkeiten sehr häufig ausschlagen und warum nur ein vergleichsweise geringer Teil dieser Patientengruppen tatsächlich Selbstmord begeht. Bei diesen Fragen versteigt sich die Autorin in Spekulationen über ein suizidspezifisches und biologisch wirksames Agens. Erst seine Entdeckung könne zu einer wirksamen Selbstmordprävention führen.
An dieser Stelle werden die Grenzen von Jamisons Selbstmordkonzept erkennbar. In einem ausführlichen Kapitel beschreibt sie wieder mit großer Einfühlung die katastrophalen Folgen eines Selbstmordes für die seelischen Reaktionen der Hinterbliebenen. Aber nach ihrer Auffassung sind diese nur die ohnmächtigen Opfer einer unausweichlichen Schicksals. Dieses Konzept verzichtet vollständig auf einen psychodynamischen und beziehungstheoretischen Ansatz zum Selbstmordverständnis. Die Lücke mag durch die Beschränkung der Autorin auf die ausgeprägten psychiatrischen Krankheitsbilder bedingt sein.
Aus statistischer Sicht treten jedoch die meisten Selbstmorde nicht in diesen Krankheitsgruppen auf, sondern bei seelischen Fehlentwicklungen ohne biologisch erkennbare Ursache. Sie werden durch frühkindliche Traumatisierungen des Bindungsverhaltens verursacht, die zu schweren Störungen der Selbsdifferenzierung und der Beziehungsfähigkeit führen können. Erst ihre wechselseitige Bedingtheit bereitet durch krisenhafte Zuspitzungen das Selbstmordgeschehen vor. Deshalb ist das nähere Umfeld bewußt oder unbewußt in alle suizidalen Handlungen verstrickt, woraus sich das ausgelöste Entsetzen, die Schuld- und Schamgefühle, aber auch die Wut psychologisch erklären. Jeder Selbstmord, und das dürfte auch für die schweren psychiatrischen Erkrankungen zutreffen, verdeckt, wie Freud formulierte, die Komponente des "verhinderten Mordes"; er ist nicht nur Klage über die eigene Nutzlosigkeit und die Unerträglichkeit des Lebens, sondern auch Anklage gegen das Versagen der Mitmenschlichkeit.
Erst diese tiefenpsychologischen Erkenntnisse, die von einer biologischen Psychiatrie noch weitgehend ausgeblendet werden, könnten ein ganzheitliches Verständnis des Selbstmordes erweitern und damit breitere Möglichkeiten der Therapie und Prävention für alle Krankheitsbilder eröffnen. Vielleicht würden unter diesen Voraussetzungen viele von den durchschnittlich 12 000 Menschen in Deutschland, die jährlich ihr Leben durch Selbstmord beenden, das Rettungsseil doch noch ergreifen und den Mut zum Leben zurückgewinnen.
HORST PETRI
Kay Redfield Jamison: "Wenn es dunkel wird". Zum Verständnis des Selbstmordes. Aus dem Amerikanischen von Klaus Binder und Bernd Leineweber. Siedler Verlag, Berlin 2000. 416 S., geb., 49,90 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Kay Redfield Jamisons Untersuchung über den Selbstmord
Es gibt Bücher, die sich dem Rezensenten wie Felsbrocken in den Weg stellen, so daß er dem Leser nur schwer eine Schneise schlagen kann. Daß Selbstmord ein Tabuthema ist, sagt sich leicht. Aber dieser erdrückende Gegenstand wird zu einem Massiv, wenn es, wie in hiesigen Fall, der Autorin gelingt, die Tragweite des Geschehens zu einem Albtraum zu verdichten.
Kay Redfield Jamison, Professorin für Psychiatrie an der John-Hopkins-Universität, weiß, wovon sie schreibt. 1997 erschien in deutscher Übersetzung "Meine ruhelose Seele", ihr autobiographischer Bericht über die eigene manisch-depressive Erkrankung, die mit achtundzwanzig Jahren in einen Selbsmordversuch mündete. Seitdem verfolgt die Autorin dieses Thema, das ihr selbst auflauerte. Das vorliegende Werk bündelt ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse und praktischen Erfahrungen aus einer jahrzehntelangen Arbeit als Psychiaterin.
Was aber ihr neues Buch von Abhandlungen anderer Fachleute über die Suizidproblematik grundlegend unterscheidet, ist die tiefe Einfühlung, mit der sich Jamison dem Leiden ihrer Patienten nähert. Sie beschreibt die Vorstadien des tragischen Endes mit einer Intensität, die den Leser schonungslos in eine Vorhölle versetzt, in der er bis an die Schmerzgrenze zum Mit-Leiden verurteilt ist. Nur so wird er, das scheint die unausgesprochene Botschaft, ob als Mutter, Vater, Geschwister, Ehepartner, Verwandter oder Freund, ausreichend sensibilisiert, um rechtzeitig oder noch in letzter Sekunde dem in seiner Not Ertrinkenden ein Rettungsseil zuwerfen zu können.
Oft aber, das ist die eigentliche Tragödie, greift der Selbsmörder mit Absicht daneben. Die Hilfe kommt nicht zu spät, sie wird ausgeschlagen. Zu lange haben sich Gefühle totaler Selbstentfremdung, des Fremdseins in der Welt und der depressiven Ohnmacht und Hoffnungslosigkeit innerlich ausgebreitet, zu tief reicht die affektive Einengung und Erstarrung und die ihr folgende soziale Isolierung, als daß noch ein Fünkchen Kraft zum Leben übriggeblieben wäre. Die Krankheit hat den Spielraum der eigenen Entscheidung bis zur absoluten Unfreiheit vernichtet. So wird der Gedanke an den eigenen Tod zu Obsession, weil er der unerträglichen Qual ein Ende setzt und am Ende des Tunnels eine neue Form der Freiheit winkt. Der Freitod verspricht Leben in einer bisher nie erfahrenen Leichtigkeit und Freude.
Jamison sieht die Zwangsläufigkeit solcher Entwicklungen in der Schwere der psychischen Erkrankungen begründet, wie der endogenen Depression, der manisch-depressiven Psychose, der Schizophrenie und den ausgeprägten Borderline-Störungen. Allen gemeinsam ist eine erbgenetische Komponente, die sich als cerebrale Stoffwechselstörung manifestiert. Therapeutische Hilfe ist deswegen nur von einer langfristigen und konsequenten medikamentösen Behandlung in Kombination mit unterstützender Psychotherapie zu erwarten. Diese biologisch-psychiatrische Grundposition erklärt aber nicht, warum selbstmordgefährdete Patienten die angebotenen Therapiemöglichkeiten sehr häufig ausschlagen und warum nur ein vergleichsweise geringer Teil dieser Patientengruppen tatsächlich Selbstmord begeht. Bei diesen Fragen versteigt sich die Autorin in Spekulationen über ein suizidspezifisches und biologisch wirksames Agens. Erst seine Entdeckung könne zu einer wirksamen Selbstmordprävention führen.
An dieser Stelle werden die Grenzen von Jamisons Selbstmordkonzept erkennbar. In einem ausführlichen Kapitel beschreibt sie wieder mit großer Einfühlung die katastrophalen Folgen eines Selbstmordes für die seelischen Reaktionen der Hinterbliebenen. Aber nach ihrer Auffassung sind diese nur die ohnmächtigen Opfer einer unausweichlichen Schicksals. Dieses Konzept verzichtet vollständig auf einen psychodynamischen und beziehungstheoretischen Ansatz zum Selbstmordverständnis. Die Lücke mag durch die Beschränkung der Autorin auf die ausgeprägten psychiatrischen Krankheitsbilder bedingt sein.
Aus statistischer Sicht treten jedoch die meisten Selbstmorde nicht in diesen Krankheitsgruppen auf, sondern bei seelischen Fehlentwicklungen ohne biologisch erkennbare Ursache. Sie werden durch frühkindliche Traumatisierungen des Bindungsverhaltens verursacht, die zu schweren Störungen der Selbsdifferenzierung und der Beziehungsfähigkeit führen können. Erst ihre wechselseitige Bedingtheit bereitet durch krisenhafte Zuspitzungen das Selbstmordgeschehen vor. Deshalb ist das nähere Umfeld bewußt oder unbewußt in alle suizidalen Handlungen verstrickt, woraus sich das ausgelöste Entsetzen, die Schuld- und Schamgefühle, aber auch die Wut psychologisch erklären. Jeder Selbstmord, und das dürfte auch für die schweren psychiatrischen Erkrankungen zutreffen, verdeckt, wie Freud formulierte, die Komponente des "verhinderten Mordes"; er ist nicht nur Klage über die eigene Nutzlosigkeit und die Unerträglichkeit des Lebens, sondern auch Anklage gegen das Versagen der Mitmenschlichkeit.
Erst diese tiefenpsychologischen Erkenntnisse, die von einer biologischen Psychiatrie noch weitgehend ausgeblendet werden, könnten ein ganzheitliches Verständnis des Selbstmordes erweitern und damit breitere Möglichkeiten der Therapie und Prävention für alle Krankheitsbilder eröffnen. Vielleicht würden unter diesen Voraussetzungen viele von den durchschnittlich 12 000 Menschen in Deutschland, die jährlich ihr Leben durch Selbstmord beenden, das Rettungsseil doch noch ergreifen und den Mut zum Leben zurückgewinnen.
HORST PETRI
Kay Redfield Jamison: "Wenn es dunkel wird". Zum Verständnis des Selbstmordes. Aus dem Amerikanischen von Klaus Binder und Bernd Leineweber. Siedler Verlag, Berlin 2000. 416 S., geb., 49,90 DM.
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