Peter Stamm erzählt uns in seinen Geschichten davon, wie sich die Welt verwandelt, wenn es dunkel wird.
Georg geht bald in Rente. Im Büro wird er schon nicht mehr beachtet, zu Hause wartet kein Essen auf ihn. Er scheint sich langsam aufzulösen und ein namenloser Schrecken erfasst ihn.
Sabrina ist geschmeichelt, als ein Künstler sie anspricht. Aber als sie sich zum ersten Mal als Kunstwerk sieht, schaudert sie.
David möchte eine Bank überfallen. Eine Maske hat er schon dabei, eine Eichhörnchen-Maske. Er wird sie heute aber noch nicht benutzen. Er hat gehört, dass Bankräuber oft wochenlang alle Einzelheiten beobachten, bevor sie zuschlagen. Er beginnt zu lauern.
Wir haben uns an die Welt gewöhnt, und plötzlich wird sie uns unheimlich. Was, wenn unsere Phantasien realer werden als die Wirklichkeit? Peter Stamms Geschichten erzählen von der Brüchigkeit der Welt, von Schwindel und gespenstischer Liebe.
Georg geht bald in Rente. Im Büro wird er schon nicht mehr beachtet, zu Hause wartet kein Essen auf ihn. Er scheint sich langsam aufzulösen und ein namenloser Schrecken erfasst ihn.
Sabrina ist geschmeichelt, als ein Künstler sie anspricht. Aber als sie sich zum ersten Mal als Kunstwerk sieht, schaudert sie.
David möchte eine Bank überfallen. Eine Maske hat er schon dabei, eine Eichhörnchen-Maske. Er wird sie heute aber noch nicht benutzen. Er hat gehört, dass Bankräuber oft wochenlang alle Einzelheiten beobachten, bevor sie zuschlagen. Er beginnt zu lauern.
Wir haben uns an die Welt gewöhnt, und plötzlich wird sie uns unheimlich. Was, wenn unsere Phantasien realer werden als die Wirklichkeit? Peter Stamms Geschichten erzählen von der Brüchigkeit der Welt, von Schwindel und gespenstischer Liebe.
In sachtem und sachlichem Ton, der gleichwohl emotional berührt, erzählt Peter Stamm vom Alltag, der oft verzaubert wird, wenn die Menschen aus ihrem Trott aussteigen [...]. Georg Patzer Badische Neueste Nachrichten 20210121
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 05.10.2020Wer ist schon
gern einseitig
Peter Stamm erzählt von
verstörten Alltagsmenschen
Georg ist ein Angestellter kurz vor der Pensionierung. Seine Aufgabe ist es, anhand einer Liste bestimmte Bauteile von Verkehrsflugzeugen zu kontrollieren. Im Verlauf seiner letzten Arbeitstage macht er merkwürdige Beobachtungen: Kollegen lassen ihn vor dem Aufzug stehen, seine Mails kommen ungelesen zurück. Mehr noch: In der Tram setzt sich eine Frau fast auf seinen Sitz, die Kassiererin im Supermarkt lässt ihn, ohne dass er bezahlt hat, einfach durch. Zu Hause kocht und isst seine Frau Hedwig allein, als sei er gar nicht da.
Für die Leser ist Georg dagegen sehr präsent, nämlich als Ich-Erzähler. Er lässt sie daran teilhaben, wie er quasi aus der Welt verschwindet. Am Schluss geht Hedwig „einfach durch ihn durch“, sein Körper wird schwerelos, und er erhebt sich vom Fenster zu einem Flug in die Freiheit: „Ich steige. Der See, die Hügel, in der Ferne die schneebedeckten Berge. Bald werde ich das Mittelmeer sehen, dann Afrika, den Atlantik, Amerika. Ich steige.“
Seit Iwan Turgenjews „Tagebuch eines überflüssigen Menschen“ sind Männer wie Georg ein Typus der Literaturgeschichte. Peter Stamm verortet in der Erzählung „Supermond“ diesen Typus in der mitteleuropäischen Gegenwart. Es ist ein wunderbares Erzählstück, in dem das Überflüssigmachen von Arbeitnehmern – Georg begreift, dass seine Tätigkeit künftig mühelos von einem Kollegen mit links erledigt werden kann – hier eine realistisch-fantastische Gestalt gewinnt. In der Ich-Form zeigt sich das deformierte Bewusstsein eines Beschäftigten, dem die Beschäftigung selbst längst zweifelhaft geworden ist: Wofür war seine Liste eigentlich gut, wer hat sie überhaupt gelesen?
Als er ohne zu bezahlen den Supermarkt verlässt, imaginiert er sich kurz und abenteuerlich als Ladendieb. „Vielleicht gefällt mir der Gedanke, eine andere Seite zu haben, die niemand kennt, Dinge zu tun, die mir keiner zutrauen würde. Aber ich habe keine andere Seite, ich bin sozusagen ein einseitiger Mensch.“
Peter Stamms neuer Erzählband „Wenn es dunkel wird“ ist voll solch unschuldig-treffender Formulierungen, voll auch von Menschen, die gern eine andere Seite hätten. Die des jungen David ist die eines Bankräubers. Der Lehrling plant, die Bankfiliale neben seinem Betrieb zu überfallen – mit einer Eichhörnchenmaske getarnt – und er beobachtet und notiert das Treiben dort über Wochen, akribisch, wie das Bankräuber eben tun. Der Ausbruch aus dem Existenztrott bedient sich geliehener Gesten, er ist genauso eine Kostümierung wie die lächerliche Eichhörnchenmaske.
Der naive Traum vom großen Auftritt als Ganove verdeckt sein wahres Bedürfnis: wahrgenommen zu werden und durch die Wahrnehmung erst als Subjekt zu existieren. Ausbruchsfantasien finden sich immer wieder in den Romanen Peter Stamms; in manchen, etwa in „Weit über das Land“, bricht er selbst aus, nämlich aus den Fesseln des Realismus – in eine Verzweigung der Handlung, die verschiedenste Lesarten gleichzeitig möglich macht.
Für die Helden dieser Erzählungen ist das schwieriger, sie haben nur ein einziges Leben, das sie zu führen meinen, obwohl es ihnen längst aus der Hand genommen worden ist. Für Adrian in der Erzählung „Der erste Schnee“ setzt sich der Alltags- und Berufsstress auf der Fahrt in die Skiferien fort: Autokolonnen, Schlangen, zuviel Menschen – eben, was der Schweizer „Dichtestress“ nennt. Ehestress kommt dazu, als er noch in der Raststätte von einem Kunden angerufen wird. Das Auto mit Frau und Kindern ist weg, Adrian stapft zu Fuß durch den nahen Wald und gerät in eine Märchenszenerie. Das Hexenhaus ist ein Schulhaus, die Hexe eine Lehrerin, die ihn einen Aufsatz schreiben lässt, in dem ihm sein ganzer Lebensfrust zu Bewusstsein kommt. Die Szene könnte ein Katalysator sein, in Wirklichkeit verdichtet sie die Fremdbestimmtheit.
Das raffinierteste Stück des Bandes heißt „Dietrichs Knie“ und erzählt von einem gekündigten Werber, dem auch das Selbstbewusstsein als Ehemann abhanden gekommen ist. Er glaubt auf dem Laptop seiner Frau einen Mailwechsel mit einem Nebenbuhler zu finden und schaltet sich in die Korrespondenz ein – die Deutung der Folgen überlässt Stamm den Lesern.
Gerade diese Geschichte zeigt, wie Stamm mit Konstruktion und Sprache zaubert. Welche Freiheit er den Lesern schenkt – und sie zugleich zu dieser Freiheit zwingt. Sie müssen ihre Wahl treffen, auch was den Charakter der Ehefrau des Werbers betrifft, über die ja einzig der eifersüchtige und gedemütigte Ehemann Auskunft gibt.
Stamms Sprache ist von gewohnt täuschender Schlichtheit und Oberflächlichkeit, sie ist nie schlauer als die Figuren, die sie benutzen. Aber sie ist transparent. Man schaut quasi durch sie hindurch und tief hinein: in Verstörungen und Verdrängungen, in Träume und Sehnsüchte. Der Autor bewerkstelligt das manchmal mit einem kleinen Schlenker, vom Konditional in den Indikativ, vom Seinkönnen zum Sein. In diesen Erzählungen aufgehoben, sind die Menschen nicht mehr überflüssig. Sie sind wahrgenommen.
MARTIN EBEL
Peter Stamm: Wenn es dunkel wird. Erzählungen. S. Fischer, Frankfurt 2020. 190 Seiten, 21 Euro.
Den Lesern bleibt
überlassen, wie sie zu den
Figuren stehen
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Peter Stamm erzählt von
verstörten Alltagsmenschen
Georg ist ein Angestellter kurz vor der Pensionierung. Seine Aufgabe ist es, anhand einer Liste bestimmte Bauteile von Verkehrsflugzeugen zu kontrollieren. Im Verlauf seiner letzten Arbeitstage macht er merkwürdige Beobachtungen: Kollegen lassen ihn vor dem Aufzug stehen, seine Mails kommen ungelesen zurück. Mehr noch: In der Tram setzt sich eine Frau fast auf seinen Sitz, die Kassiererin im Supermarkt lässt ihn, ohne dass er bezahlt hat, einfach durch. Zu Hause kocht und isst seine Frau Hedwig allein, als sei er gar nicht da.
Für die Leser ist Georg dagegen sehr präsent, nämlich als Ich-Erzähler. Er lässt sie daran teilhaben, wie er quasi aus der Welt verschwindet. Am Schluss geht Hedwig „einfach durch ihn durch“, sein Körper wird schwerelos, und er erhebt sich vom Fenster zu einem Flug in die Freiheit: „Ich steige. Der See, die Hügel, in der Ferne die schneebedeckten Berge. Bald werde ich das Mittelmeer sehen, dann Afrika, den Atlantik, Amerika. Ich steige.“
Seit Iwan Turgenjews „Tagebuch eines überflüssigen Menschen“ sind Männer wie Georg ein Typus der Literaturgeschichte. Peter Stamm verortet in der Erzählung „Supermond“ diesen Typus in der mitteleuropäischen Gegenwart. Es ist ein wunderbares Erzählstück, in dem das Überflüssigmachen von Arbeitnehmern – Georg begreift, dass seine Tätigkeit künftig mühelos von einem Kollegen mit links erledigt werden kann – hier eine realistisch-fantastische Gestalt gewinnt. In der Ich-Form zeigt sich das deformierte Bewusstsein eines Beschäftigten, dem die Beschäftigung selbst längst zweifelhaft geworden ist: Wofür war seine Liste eigentlich gut, wer hat sie überhaupt gelesen?
Als er ohne zu bezahlen den Supermarkt verlässt, imaginiert er sich kurz und abenteuerlich als Ladendieb. „Vielleicht gefällt mir der Gedanke, eine andere Seite zu haben, die niemand kennt, Dinge zu tun, die mir keiner zutrauen würde. Aber ich habe keine andere Seite, ich bin sozusagen ein einseitiger Mensch.“
Peter Stamms neuer Erzählband „Wenn es dunkel wird“ ist voll solch unschuldig-treffender Formulierungen, voll auch von Menschen, die gern eine andere Seite hätten. Die des jungen David ist die eines Bankräubers. Der Lehrling plant, die Bankfiliale neben seinem Betrieb zu überfallen – mit einer Eichhörnchenmaske getarnt – und er beobachtet und notiert das Treiben dort über Wochen, akribisch, wie das Bankräuber eben tun. Der Ausbruch aus dem Existenztrott bedient sich geliehener Gesten, er ist genauso eine Kostümierung wie die lächerliche Eichhörnchenmaske.
Der naive Traum vom großen Auftritt als Ganove verdeckt sein wahres Bedürfnis: wahrgenommen zu werden und durch die Wahrnehmung erst als Subjekt zu existieren. Ausbruchsfantasien finden sich immer wieder in den Romanen Peter Stamms; in manchen, etwa in „Weit über das Land“, bricht er selbst aus, nämlich aus den Fesseln des Realismus – in eine Verzweigung der Handlung, die verschiedenste Lesarten gleichzeitig möglich macht.
Für die Helden dieser Erzählungen ist das schwieriger, sie haben nur ein einziges Leben, das sie zu führen meinen, obwohl es ihnen längst aus der Hand genommen worden ist. Für Adrian in der Erzählung „Der erste Schnee“ setzt sich der Alltags- und Berufsstress auf der Fahrt in die Skiferien fort: Autokolonnen, Schlangen, zuviel Menschen – eben, was der Schweizer „Dichtestress“ nennt. Ehestress kommt dazu, als er noch in der Raststätte von einem Kunden angerufen wird. Das Auto mit Frau und Kindern ist weg, Adrian stapft zu Fuß durch den nahen Wald und gerät in eine Märchenszenerie. Das Hexenhaus ist ein Schulhaus, die Hexe eine Lehrerin, die ihn einen Aufsatz schreiben lässt, in dem ihm sein ganzer Lebensfrust zu Bewusstsein kommt. Die Szene könnte ein Katalysator sein, in Wirklichkeit verdichtet sie die Fremdbestimmtheit.
Das raffinierteste Stück des Bandes heißt „Dietrichs Knie“ und erzählt von einem gekündigten Werber, dem auch das Selbstbewusstsein als Ehemann abhanden gekommen ist. Er glaubt auf dem Laptop seiner Frau einen Mailwechsel mit einem Nebenbuhler zu finden und schaltet sich in die Korrespondenz ein – die Deutung der Folgen überlässt Stamm den Lesern.
Gerade diese Geschichte zeigt, wie Stamm mit Konstruktion und Sprache zaubert. Welche Freiheit er den Lesern schenkt – und sie zugleich zu dieser Freiheit zwingt. Sie müssen ihre Wahl treffen, auch was den Charakter der Ehefrau des Werbers betrifft, über die ja einzig der eifersüchtige und gedemütigte Ehemann Auskunft gibt.
Stamms Sprache ist von gewohnt täuschender Schlichtheit und Oberflächlichkeit, sie ist nie schlauer als die Figuren, die sie benutzen. Aber sie ist transparent. Man schaut quasi durch sie hindurch und tief hinein: in Verstörungen und Verdrängungen, in Träume und Sehnsüchte. Der Autor bewerkstelligt das manchmal mit einem kleinen Schlenker, vom Konditional in den Indikativ, vom Seinkönnen zum Sein. In diesen Erzählungen aufgehoben, sind die Menschen nicht mehr überflüssig. Sie sind wahrgenommen.
MARTIN EBEL
Peter Stamm: Wenn es dunkel wird. Erzählungen. S. Fischer, Frankfurt 2020. 190 Seiten, 21 Euro.
Den Lesern bleibt
überlassen, wie sie zu den
Figuren stehen
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