Wenn man genau hinsieht, werden die Dinge oft nicht schöner. Aber sie beginnen, Geschichten zu erzählen. Das ist auf der ganzen Welt so.
Vor der Geräuschkulisse Schnecken vernichtender Nachbarn im Württenbergischen wird mit Hilfe eines Teebeutels im Glas ein Geflecht aus Erinnerungen gewoben, in welchem die Brutalität provinzieller Kleingärtnerei ebenso Platz findet wie kindliche Sexualität und der Umstand, dass das älteste Haus am Ort durch einen Schneeballwurf zum Einwurf gebracht wurde. Die schönsten Beziehungen sind vielleicht die, die nicht zustande kommen. Deshalb erfahren wir die isländische Geschichte von Gylfi, dem Harleyfahrer, und Björk, der Malerin. Die schönsten Geschichten sind vielleicht aber doch die, die vom Verlust des Geliebten erzählen. Also erfahren wir etwas von der grauen großen Stadt Moskau, in der die Vergangenheit sich in jedem Schnipsel zu erkennen gibt. Christina Griebels Geschichten locken von Rom in die Nähe von Dresden, aufs Land, wo der Boden unter den Füßen nachgibt, wegen der alten Bergwerkschächte darunter. Wenn da eine Kastanie vom Baum fällt, dann raschelt es kurz im Laub und man ist froh, dass sonst nichts passiert ist.
Und was länger hält: das frisch gestochene Ohrloch oder der nette neue Freund, beide aus Paris, bleibt bis zum Schluss offen.
...Klar und einfach, vertraut und erschreckend wie der Blick in einen Vorgarten.
Vor der Geräuschkulisse Schnecken vernichtender Nachbarn im Württenbergischen wird mit Hilfe eines Teebeutels im Glas ein Geflecht aus Erinnerungen gewoben, in welchem die Brutalität provinzieller Kleingärtnerei ebenso Platz findet wie kindliche Sexualität und der Umstand, dass das älteste Haus am Ort durch einen Schneeballwurf zum Einwurf gebracht wurde. Die schönsten Beziehungen sind vielleicht die, die nicht zustande kommen. Deshalb erfahren wir die isländische Geschichte von Gylfi, dem Harleyfahrer, und Björk, der Malerin. Die schönsten Geschichten sind vielleicht aber doch die, die vom Verlust des Geliebten erzählen. Also erfahren wir etwas von der grauen großen Stadt Moskau, in der die Vergangenheit sich in jedem Schnipsel zu erkennen gibt. Christina Griebels Geschichten locken von Rom in die Nähe von Dresden, aufs Land, wo der Boden unter den Füßen nachgibt, wegen der alten Bergwerkschächte darunter. Wenn da eine Kastanie vom Baum fällt, dann raschelt es kurz im Laub und man ist froh, dass sonst nichts passiert ist.
Und was länger hält: das frisch gestochene Ohrloch oder der nette neue Freund, beide aus Paris, bleibt bis zum Schluss offen.
...Klar und einfach, vertraut und erschreckend wie der Blick in einen Vorgarten.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.08.2003In der Schmelzkäsefabrik
Lauter unverdaute Kränkungen: Christina Griebels Erzählungen
Gehetzte Beobachtungen, vorbeirauschende Details sind es, die den Ich-Erzählerinnen von Christina Griebels Erzählband in Erinnerung bleiben und dort enorme Bedeutung entfalten. Ihre Figuren, allesamt junge, empfindliche Frauen, sind auf dem Sprung, regelrecht auf der Flucht und auf der Suche nach etwas, das sie schon allein deshalb nicht finden können, weil es bei ihnen keinen Namen trägt.
"Solange man irgendwie heißt und irgendwo herkommt", heißt es in einer Episode, "kann man fischen gehen, aber wenn man schlingert, weil man eigentlich gar nicht irgendwie heißen oder irgendwo herkommen wollte, dann öffnet sich das weiße Gesprudel zwischen hier und dort." Unverdaute Kränkungen quirlen tatsächlich in Christina Griebels Heldinnen. Stets berichten sie vom Scheitern eines Herzenswunschs, doch tun sie es in auffällig gefilterter Form, mit deutlicher Verschiebung der Perspektive, wie unter Schock. Statt des großen Ganzen nehmen sie belanglose Dinge in den Blick, statt folgenreiche Gesten und Worte kramen sie nebensächliche Bemerkungen und einfachste Verrichtungen hervor. Beiläufigkeiten rücken ins Zentrum ihrer Betrachtung, werden zu letzten Haltegriffen ihrer schlingernden Existenz. Die Katastrophe dahinter klingt allenfalls an.
Da erzählt eine deutsche Austauschstudentin in Moskau in "Und sie geigen Schostakowitsch", wie sie einem unbekannten Mann durch die Stadt hinterherläuft, "jenem, dem ich immer nachrannte, seit Jahren, und immer war er schneller". Dieser Schatten, aus dem kein Liebhaber wird, bleibt für sie unerreichbar. Die schmählich Zurückgelassene muß schließlich erkennen, daß es noch eine andere Frau in seinem Leben gibt. Doch das nimmt sie nur aus den Augenwinkeln wahr. Denn stehenbleiben, ihrem Unglück begegnen, möchte sie nicht. Hektisch stürzt sie davon, besucht das Schostakowitsch-Konzert allein, um dort ausgerechnet im Anblick eines "Stückchen grauen Toilettenpapiers" Trost zu finden. "Es wird bald jemand fehlen", mutmaßt die Erzählerin, "in den Toiletten gibt es keines." Ein zertretener Schnipsel wird zum gewagten Sinnbild ihres eigenen, durch Zurückweisung irritierten Lebens.
Erzählen bedeutet für Griebels Protagonistinnen Therapie. Mantrenhaft wiederholen sie Worte und Sätze und versuchen so, einen inneren Schrecken zu bannen. Wobei plastische Metaphern eines "Verdauungsvorgangs" eine große Rolle spielen. In allen Episoden tauchen Utensilien und Plätze der Notdurft auf. Mal wird eine Schiffsfähre als schwimmendes "WC" bezeichnet, mal schließt eine "Badezimmertür nicht richtig". Dann wieder wird eine "Stuhlprobe" vor Arbeitsantritt verlangt oder klagt die Patientin einer psychiatrischen Klinik in der Titelgeschichte, daß das Mittagessen "ein Griff ins Klo" war. Mag sein, daß diese Fokussierung auf körperliche Ausscheidungen gewollt ist, um zu betonen, wie sehr demgegenüber der seelische Austausch stockt, wie tief die Protagonistinnen im Rinnstein der Gefühle dahinstrudeln. Mag auch sein, daß die sanitären Anlagen als Gegenwelten zu jenen Tempelbezirken einer geglückten Liebesintimität gedacht sind, die den Figuren verwehrt bleibt. Gleichwohl wirkt der verbale Rückzug aufs Klo wie eine effekthascherische Marotte.
Traumatische Erfahrungen werden nicht dadurch anrührender, daß man sie mit drastischen Ausdrücken auflädt. Sie werden auch nicht unbedingt dadurch spektakulärer, daß man sie an so fremdartige Orte wie Moskau, Island oder in ein Kaff nahe der finnischen Grenze verlegt. Und sie werden bestimmt nicht dadurch geheimnisvoller, daß man sie möglichst geheimnisvoll erzählt. Wenn die erwähnte Austauschstudentin aus Liebeskummer gleich sechshundertmal "Blutkultur" auf verschiedene Zettel schreibt, wenn die Psychiatrie-Patientin aus Wehmut nach einem Kindergartenfreund ausschweifend über dessen Spucke nachsinnt und wenn die Wartende an einer Schiffsanlegestelle in Gedanken von "einem Teller aus Arabia-Porzellan" zum eigenen "Nabel" hinüber zum letzten Friseurbesuch springt, dann ist Papier bei Christina Griebel schon ziemlich geduldig - und sind ihre Heldinnen zu sehr um die Hervorkehrung leidender Besonderheit bemüht.
Den Juroren des Walter-Serner-Preises hat der selbstreflexive Ton einer rätselhaften Lebenslähmung in "Und sie geigen Schostakowitsch" 2001 zwar gefallen. Nicht jeder Leser aber wird bei diesem Kummermonolog, der vieles andeutet und nichts bewältigt, bei der Stange bleiben. Was schade wäre um jene folgenden Geschichten, die weniger im eigenen Schmerz verharren. Mehr Entwicklung und auch mehr Seitenblicke auf andere Personen bietet vor allem "Harte Sache", in der ein rigides Beschäftigungsszenario vorgeführt wird, das Kafka alle Ehre machte. An die Spitze einer Schmelzkäsefabrik stellt Griebel hier den sadistischen "Meister Leder", der seine Untergebenen jeden Morgen neu nach ästhetischen Gesichtspunkten einteilt. Da für Meister Leder "äußere Mißgestaltung mit innerer Fehlhaltung" einhergeht, bildet sich eine für totalitäre Regime typische Hierarchie der Inhumanität heraus. Wer körperliche Mängel wie "Hasenscharte", "Kropf" oder "Klumpfuß" aufweist, wird zum Arbeiten in den "Keller" verbannt. Das klingt mitunter etwas plakativ. Doch findet Griebel für ihre Parabel einer altbekannten Drangsalierung erstaunliche Bilder und einen überraschenden Schluß. Selbst die schlimmste Demütigung, stellt die Heldin dieser Geschichte fest, birgt immer noch eine andere, ungeahnte Perspektive. Leider teilt sie diese Erkenntnis nicht mit allen Erzählerinnen des Bands.
GISA FUNCK
Christina Griebel: "Wenn es regnet, dann regnet es immer gleich auf den Kopf". Erzählungen. S. Fischer Verlag, Frankfurt a. Main 2003. 160 S., br., 10,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Lauter unverdaute Kränkungen: Christina Griebels Erzählungen
Gehetzte Beobachtungen, vorbeirauschende Details sind es, die den Ich-Erzählerinnen von Christina Griebels Erzählband in Erinnerung bleiben und dort enorme Bedeutung entfalten. Ihre Figuren, allesamt junge, empfindliche Frauen, sind auf dem Sprung, regelrecht auf der Flucht und auf der Suche nach etwas, das sie schon allein deshalb nicht finden können, weil es bei ihnen keinen Namen trägt.
"Solange man irgendwie heißt und irgendwo herkommt", heißt es in einer Episode, "kann man fischen gehen, aber wenn man schlingert, weil man eigentlich gar nicht irgendwie heißen oder irgendwo herkommen wollte, dann öffnet sich das weiße Gesprudel zwischen hier und dort." Unverdaute Kränkungen quirlen tatsächlich in Christina Griebels Heldinnen. Stets berichten sie vom Scheitern eines Herzenswunschs, doch tun sie es in auffällig gefilterter Form, mit deutlicher Verschiebung der Perspektive, wie unter Schock. Statt des großen Ganzen nehmen sie belanglose Dinge in den Blick, statt folgenreiche Gesten und Worte kramen sie nebensächliche Bemerkungen und einfachste Verrichtungen hervor. Beiläufigkeiten rücken ins Zentrum ihrer Betrachtung, werden zu letzten Haltegriffen ihrer schlingernden Existenz. Die Katastrophe dahinter klingt allenfalls an.
Da erzählt eine deutsche Austauschstudentin in Moskau in "Und sie geigen Schostakowitsch", wie sie einem unbekannten Mann durch die Stadt hinterherläuft, "jenem, dem ich immer nachrannte, seit Jahren, und immer war er schneller". Dieser Schatten, aus dem kein Liebhaber wird, bleibt für sie unerreichbar. Die schmählich Zurückgelassene muß schließlich erkennen, daß es noch eine andere Frau in seinem Leben gibt. Doch das nimmt sie nur aus den Augenwinkeln wahr. Denn stehenbleiben, ihrem Unglück begegnen, möchte sie nicht. Hektisch stürzt sie davon, besucht das Schostakowitsch-Konzert allein, um dort ausgerechnet im Anblick eines "Stückchen grauen Toilettenpapiers" Trost zu finden. "Es wird bald jemand fehlen", mutmaßt die Erzählerin, "in den Toiletten gibt es keines." Ein zertretener Schnipsel wird zum gewagten Sinnbild ihres eigenen, durch Zurückweisung irritierten Lebens.
Erzählen bedeutet für Griebels Protagonistinnen Therapie. Mantrenhaft wiederholen sie Worte und Sätze und versuchen so, einen inneren Schrecken zu bannen. Wobei plastische Metaphern eines "Verdauungsvorgangs" eine große Rolle spielen. In allen Episoden tauchen Utensilien und Plätze der Notdurft auf. Mal wird eine Schiffsfähre als schwimmendes "WC" bezeichnet, mal schließt eine "Badezimmertür nicht richtig". Dann wieder wird eine "Stuhlprobe" vor Arbeitsantritt verlangt oder klagt die Patientin einer psychiatrischen Klinik in der Titelgeschichte, daß das Mittagessen "ein Griff ins Klo" war. Mag sein, daß diese Fokussierung auf körperliche Ausscheidungen gewollt ist, um zu betonen, wie sehr demgegenüber der seelische Austausch stockt, wie tief die Protagonistinnen im Rinnstein der Gefühle dahinstrudeln. Mag auch sein, daß die sanitären Anlagen als Gegenwelten zu jenen Tempelbezirken einer geglückten Liebesintimität gedacht sind, die den Figuren verwehrt bleibt. Gleichwohl wirkt der verbale Rückzug aufs Klo wie eine effekthascherische Marotte.
Traumatische Erfahrungen werden nicht dadurch anrührender, daß man sie mit drastischen Ausdrücken auflädt. Sie werden auch nicht unbedingt dadurch spektakulärer, daß man sie an so fremdartige Orte wie Moskau, Island oder in ein Kaff nahe der finnischen Grenze verlegt. Und sie werden bestimmt nicht dadurch geheimnisvoller, daß man sie möglichst geheimnisvoll erzählt. Wenn die erwähnte Austauschstudentin aus Liebeskummer gleich sechshundertmal "Blutkultur" auf verschiedene Zettel schreibt, wenn die Psychiatrie-Patientin aus Wehmut nach einem Kindergartenfreund ausschweifend über dessen Spucke nachsinnt und wenn die Wartende an einer Schiffsanlegestelle in Gedanken von "einem Teller aus Arabia-Porzellan" zum eigenen "Nabel" hinüber zum letzten Friseurbesuch springt, dann ist Papier bei Christina Griebel schon ziemlich geduldig - und sind ihre Heldinnen zu sehr um die Hervorkehrung leidender Besonderheit bemüht.
Den Juroren des Walter-Serner-Preises hat der selbstreflexive Ton einer rätselhaften Lebenslähmung in "Und sie geigen Schostakowitsch" 2001 zwar gefallen. Nicht jeder Leser aber wird bei diesem Kummermonolog, der vieles andeutet und nichts bewältigt, bei der Stange bleiben. Was schade wäre um jene folgenden Geschichten, die weniger im eigenen Schmerz verharren. Mehr Entwicklung und auch mehr Seitenblicke auf andere Personen bietet vor allem "Harte Sache", in der ein rigides Beschäftigungsszenario vorgeführt wird, das Kafka alle Ehre machte. An die Spitze einer Schmelzkäsefabrik stellt Griebel hier den sadistischen "Meister Leder", der seine Untergebenen jeden Morgen neu nach ästhetischen Gesichtspunkten einteilt. Da für Meister Leder "äußere Mißgestaltung mit innerer Fehlhaltung" einhergeht, bildet sich eine für totalitäre Regime typische Hierarchie der Inhumanität heraus. Wer körperliche Mängel wie "Hasenscharte", "Kropf" oder "Klumpfuß" aufweist, wird zum Arbeiten in den "Keller" verbannt. Das klingt mitunter etwas plakativ. Doch findet Griebel für ihre Parabel einer altbekannten Drangsalierung erstaunliche Bilder und einen überraschenden Schluß. Selbst die schlimmste Demütigung, stellt die Heldin dieser Geschichte fest, birgt immer noch eine andere, ungeahnte Perspektive. Leider teilt sie diese Erkenntnis nicht mit allen Erzählerinnen des Bands.
GISA FUNCK
Christina Griebel: "Wenn es regnet, dann regnet es immer gleich auf den Kopf". Erzählungen. S. Fischer Verlag, Frankfurt a. Main 2003. 160 S., br., 10,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Obwohl die Collection Fischer neuerdings - "die Verlage müssen sparen", meint Martin Krumbholz - auf "fühlbar billigem Papier gedruckt" werde, habe diese Reihe für Nachwuchsautoren doch nichts an literarischer Qualität eingebüßt. Nachdem der Rezensent seine lobende Besprechung von Christina Griebels Erzählungen so eingeleitet hat, geht es weiter mit einem Lob für Griebels Sprache: Diese sei "robust, ungekünstelt und dialogreich", ihr Beobachtungstalent "scharf ausgeprägt". Wie in dieser Reihe üblich, gehe es auch bei Griebel vorwiegend um "Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht". Wenn auch Krumbholz' abschließendes Urteil, in Griebels Texten geschehe wenig, das einen "für länger als eine Schrecksekunde aus der Fassung bringen könnte", etwas zwiespältig klingt, so zeigt ein von ihm zitiertes Beispiel aus dem Band immerhin, dass diese Schrecksekunden wohl, obwohl recht harmlos und trocken daherkommend, mitunter einer gewissen Abgründigkeit und Boshaftigkeit nicht entbehren: "Wirst Du mich vergessen", fragt da ein Claude die Erzählerin, die gerade als Austauschschülerin in Frankreich weilt. "Ich werde Dich nie vergessen", sagt diese darauf, "denn diesen Satz konnte ich sprachlich ganz gut bewältigen."
© Perlentaucher Medien GmbH
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