Im Heimatdorf von Josef Winkler gab es früher einen »Knochenköhler«. Dieser sammelte bei Schlachtungen die Tierknochen ein, schichtete sie in einen Tonkrug und ließ sie auf glühenden Kohlen köcheln, bis sich ein schwarzer, nach Verwesung riechender Sud absetzte. Die Bauern strichen die Flüssigkeit den Pferden um Augen, Ohren, Nüstern, um lästige Insekten fernzuhalten.
Im Buch übernimmt der Erzähler Maximilian den Part des Knochen- und Geschichtensammlers. Nüchtern rapportiert er die Sterbensgeschichten seiner Verwandtschaft und der Dorfbewohner. Tod reiht sich an Tod; gestorben wird an Krebs, durch Traktorenräder oder durch die eigene Hand. Ist ein Schicksal zu Ende erzählt, legt der Erzähler die Knochen der Verstorbenen in den Tonkrug. Noch nie hat Josef Winkler die Lebensgeschichten seines Dorfes vom Ende her, als Sterbensgeschichten, so souverän, dringlich und formvollendet erzählt: Wenn es soweit ist.
Im Buch übernimmt der Erzähler Maximilian den Part des Knochen- und Geschichtensammlers. Nüchtern rapportiert er die Sterbensgeschichten seiner Verwandtschaft und der Dorfbewohner. Tod reiht sich an Tod; gestorben wird an Krebs, durch Traktorenräder oder durch die eigene Hand. Ist ein Schicksal zu Ende erzählt, legt der Erzähler die Knochen der Verstorbenen in den Tonkrug. Noch nie hat Josef Winkler die Lebensgeschichten seines Dorfes vom Ende her, als Sterbensgeschichten, so souverän, dringlich und formvollendet erzählt: Wenn es soweit ist.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.11.1998Fegefeuer im Küchenherd
Josef Winklers Gebetsmühle zerkleinert das Katholische zu Literatur / Von Thomas Wirtz
Pulsnitz in Kärnten, irgendwann vor Einführung des Fernsehapparats.
Noch flimmert nur das Abendlicht in der Bauernstube, und rauschen darf alleine der Gebirgsbach vor der Tür. Es ist die Zeit, wo Tagesnachrichten aus aller Welt ausblieben. Sie müßten dem Mythos gehören, der die Welt mit Wahrnehmungen von längerer Dauer beruhigte.
Obwohl die Kärntner Welt von Josef Winkler von einem solchen Mythos hörte, geriet sie aus den Fugen. Die Erzählgewichte haben sich zum Tod hin verschoben. Bleischwer lasten sie auf Figuren, die darunter nach Luft zum Leben und Sprechen schnappen. Reicht es zu einem Wort, so war es höchstens das Amen nach der Letzten Ölung. Wovon andere Autoren nicht genug bekommen können, das gibt es bei Winkler nur zum letzten Mal: Sprechen seine stumm in sich verbohrten Figuren zueinander, so tauschen sie letzte Worte. Kommen sie im Trott ihres Alltags zu einem Entschluß, so darf man ihn ihren Letzten Willen nennen.
Winklers neues Buch arbeitet weiter am Todesarten-Projekt. Wieder liest man im Friedhofs-Baedeker durch eine Totenwelt, unternimmt eine Besichtigung der Moribunden, die sich karg von denen verabschieden, die man kaum als Mitlebende bezeichnen mag. Die Stationen des Erzählens ähneln einem Leidenszug, der diesmal durch das Kärntner Dorf in Richtung Verwesung wandert. Doch so viel Vertrautheit täuscht. Denn es änderte sich der Ton der kontrollierten Besessenheit, der den Leser auf seinem Gang durch die Kreise dieses Danteschen Dorf-Infernos begleitet. Winkler beschränkte sich durch die Geographie, und er legte an Intensität zu. Das kleine Pulsnitz und der Tod bilden den Trichter, durch den er auf die Welt blickt. Verengt er sich an seinem Ende, so steigert das nur die Schwärze der Aussicht. Das Licht, das sich am Ende dieses Erzähltunnels verbreitet, stammt von einer Grablampe.
Gegliedert wird Winklers Dorfgang nicht durch das chronikalische Nacheinander einer gemütlichen Saga, sondern durch die Verästelungen der Stammbäume. Bis in das Reich der Urgroßväter steigt der Geschichtensammler Maximilian hinab, um den Verschlingungen der Familien Kirchheimer, Rosenfelder oder Felsenberger nachzuspüren. Labyrinthisch sind die Irrwege durch diese Dorfdynastien. Jede neue Verwandtschaft führt sie näher an die inzestuöse Verblödung. Man bleibt unter sich, weil Erbschäden für die Zukunft erwartbar, die Vermehrung des Viehbestandes aber sicher ist. Geschlossen werden diese Dorfehen im Himmel und auf dem Katasteramt.
Doch behält der Leser auf andere Weise den Überblick. Hat er den Platz einer Figur im Familientableau vergessen, so verhilft ihm die Art ihres Todes zur Erinnerung. Winklers Genealogien sind Zwangseinrichtungen zum Sterben. Die letzte Stunde macht an den Figuren den Vaterschaftstest. Denn nur vorläufig sind dem Sohn eines "Schlossers und Trinkers" auch sein Beruf und die Freizeitgestaltung vorherbestimmt. Erst in der Stunde seines Todes offenbart sich, ob es bei seiner Zeugung mit rechten Dingen zuging. So vererbt der Vater Hasslacher den Söhnen seine Rachitis und den Griff zum Kälberstrick, mit dem sie in der Scheune nacheinander ihrem Leben ein Ende setzen. Am Balken baumelnd, bezeugen sie Familienzugehörigkeit. Als reiche die Wahl einer natürlichen Krankheit zum Tode nicht aus und bringe der Herzinfarkt einen ins Gerede, vereinzeln sich die Familien über den exzentrischen Tod. Wählen die einen den Strick, ziehen die anderen den Verkehrsunfall vor. Aller Verhängnis ist es, bis in den Tod an Familienbande geknüpft zu sein.
Bitterböse und leichenschwarz kann ein Buch nur sein, wenn es konsequent ist. Winkler weicht keinen Sargnagel breit von seinem Gang durchs Gräberfeld ab. Sein Erzählen ist poetisch strenger als das Leben der Knechte, seine Arbeit am Tode kälter als der Winter. Denn der Lakonie, mit der er einen Mann ungewarnt vor den Landbus laufen läßt, entspricht die Auslöschung seiner Vergangenheit. Nicht einmal eine Lebensgeschichte wird dem Toten in den Sarg gelegt.
Wie Winklers Buch erzählen viele Romane vom Tod her. Das hat einen guten Grund. Das Ableben einer Figur ist ihnen ein schöner Anlaß, auf das Leben zurückzuschauen. Nur was tot genug ist, kann historisch interessieren, liest man bei Hans-Georg Gadamer. Das Verstehen beginnt, wenn das Leben endet. Wer jemand war, so behaupten diese testamentarischen Romane, ist erst an seinem Grab zu ermitteln. Wie Detektive untersuchen sie die Vorgeschichte nur, wenn die Leiche vor ihnen liegt.
Winkler aber ist kein Detektiv, sondern ein Bestatter, ein "Leichenheini". Er bringt die Figuren unter die Erde, nicht aber ins erzählte Leben zurück. Der Titel seines Buches nennt den Moment, für den sich sein Schreiben interessiert: bedingungslos, unprätentiös, ohne voyeuristische Entblößungssucht. "Wenn es soweit ist" und die Figur ums Leben kommt, ist Winkler bei ihr. Für den Sterbensaugenblick strengt er seine Sprache an, versagt sich aber das Mitleid, das auch die Trauergäste den Hinterbliebenen in diesem Dorf nicht aussprechen. Vergeblich verbessert der Pfarrer den letzten Gruß der Kärntner: Vom Beileid will keiner lassen, zum Mitleid keiner hin. Deshalb sucht der Leser an diesem dörflichen Massengrab vergeblich nach Identifikation. Winkler will beerdigen, nicht verstehen.
Unter diesen Ablebensumständen ist mit Psychologie nicht zu rechnen. Warum die Bauern ihr Heil am Balken suchen oder Verhängnis den Bus zu schnell fahren ließ, ist für diese Erzählung keine nebensächliche, sondern eine unmögliche Frage. Der Tod braucht kein Motiv. Winklers suggestive Kunst der verweigerten Illusion entzieht den Figuren nicht alleine ihre Biographie. Auch das Dorf lebt ohne Geschichte. Man kann das Buch keine Chronik nennen, weil es Jahreszahlen verschluckt und in seinem Totentanz zwischen den Generationen springt. Beiläufig zieht die Elektrizität nur deshalb ins Dorf ein, damit die Grablampen verläßlicher brennen. Auch der erste Fernseher stellt nur seine Besitzerin mit Namen vor, die den Brustkrebs in sich trägt. Mag die Weltgeschichte auch mit Vernunft zu sich kommen, so bleibt der Tod, was er ist.
Im Tonkrug, in dem aus den Gebeinen geschlachteter Tiere der nach Verwesung riechende Knochensud gewonnen, der den Pferden zum Schutz vor Fliegen, Bremsen und Mücken mit einer Krähenfeder um die Augen, auf die Ohren, die Nüstern und auf den Bauch gepinselt wurde, liegen zuunterst die auf einem Kriegsschlachtfeld in einem Schützengraben vom Körper gerissenen Armknochen eines Mannes, der vor dem Zweiten Weltkrieg eine mannsgroße Jesusstatue in den Wald geschleppt und über einen Wasserfall geworfen hatte."
Krumm wie ein Dorfweg schleicht dieser Satz. Irgendwann verliert man die Orientierung in ihm, stolpert über eine grammatikalische Schwelle und liest verständnislos weiter. Dies ist der Moment, wo das Buch an seinem Ziel ist und die Litanei beginnt. Es murmelt vom Sterben wie ein endloses Gebet, klappert mit den Sätzen wie die Zähne eines Totengerippes. Seine Konzentration liegt in der Beschwörung dieser Monotonie. Jedesmal wiederholt Winkler diese Satzschlange vom Tonkrug, wenn er neue Knochen der Überfahrenen oder Erhängten zum Verwesungssud einkocht. Die Miniaturaufnahmen der Dorftoten reiht er aneinander wie Perlen an einen Rosenkranz. Die Sprechformen des Gebets bewahren ihn vor einem Mitleid, das unmögliche Worte des Verstehens vor dem Unverständlichen erfinden müßte. Eingedickt im Massengrab des Tonkrugs, nimmt der Ritus den Toten ihre letzte Einmaligkeit. Ihre knöchernen Reliquien verschwinden langsam im Verwesungsteer. Was aber Fliegen vertreibt, zieht geduldige Leser an.
Seit Thomas Bernhard weiß man, daß es Baupläne für eine solche Totenwelt nur im Österreichischen geben kann. Winkler mauert die Gruft um seine Figuren aus Mosaiksteinchen, die er aus dem katholischen Zentralmassiv gebrochen hat. Sein Dorf Pulsnitz baut er "kreuzförmig", um Nägel durch jedes Haus zu treiben. Mitten auf dem Dorfplatz und im Zentrum des Buches steht ein Bildstock, an dem Winkler seine Figuren vorbeitreibt. In den grellen Farben der katholischen Bilderlust hat der Pfarrer eigenhändig seine Höllenversion daraufgepinselt: den unbekannten Schänder der Jesus-Statue, dem Satan eimerweise Galle eintrichtert. Damit ist das Inferno in ihre Mitte gekommen. Jeder Vorbeigehende schaut diesen Albtraum an, bis im eigenen Küchenherd das Fegefeuer brennt. Wenn der unscheinbare Großvater sich als praktizierender Nationalsozialist entpuppt, dann zitiert er diesen Satan auf dem Dorfplatz: Beide pflanzen ihre Blumen des Bösen in den Alltagsacker, beide agieren unter dem Zwang der rituellen Wiederholung. Der Schrecken grundiert die Heiligenbildchen.
Wer dem Buch seine Überraschungslosigkeit vorwirft, hat sich der Schönheit seines Klagegesangs verschlossen. Seine Meditationen beschwören Einübungen ins Gleiche und konzentrieren sich im haargenauen Wort. Winklers Gebetsmühle zerkleinert das Katholische zu Literatur. Auch diese jüngste Erzählung ist Teil einer intensiven Gräber-Literatur, einer katholischen Psychedelik, zu der sich sein Gesamtwerk zusammensetzt. Daß Totengeschichten aus dem 1990 erschienenen "Friedhof der bitteren Orangen" wiedererzählt werden, belegt nur diese repetitive Schreibbewegung. Mit der Beschränkung auf das Kärntner Dorf Pulsnitz bohrt sie sich um so tiefer durch den Sargdeckel, der über der Geschichte liegt. Man muß solche Beharrlichkeit gegenüber dem Verwesenden nicht mögen - Respekt wird man ihr nicht versagen können.
Josef Winkler: "Wenn es soweit ist". Erzählung. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1998. 191 S., geb., 38,- DM.
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Josef Winklers Gebetsmühle zerkleinert das Katholische zu Literatur / Von Thomas Wirtz
Pulsnitz in Kärnten, irgendwann vor Einführung des Fernsehapparats.
Noch flimmert nur das Abendlicht in der Bauernstube, und rauschen darf alleine der Gebirgsbach vor der Tür. Es ist die Zeit, wo Tagesnachrichten aus aller Welt ausblieben. Sie müßten dem Mythos gehören, der die Welt mit Wahrnehmungen von längerer Dauer beruhigte.
Obwohl die Kärntner Welt von Josef Winkler von einem solchen Mythos hörte, geriet sie aus den Fugen. Die Erzählgewichte haben sich zum Tod hin verschoben. Bleischwer lasten sie auf Figuren, die darunter nach Luft zum Leben und Sprechen schnappen. Reicht es zu einem Wort, so war es höchstens das Amen nach der Letzten Ölung. Wovon andere Autoren nicht genug bekommen können, das gibt es bei Winkler nur zum letzten Mal: Sprechen seine stumm in sich verbohrten Figuren zueinander, so tauschen sie letzte Worte. Kommen sie im Trott ihres Alltags zu einem Entschluß, so darf man ihn ihren Letzten Willen nennen.
Winklers neues Buch arbeitet weiter am Todesarten-Projekt. Wieder liest man im Friedhofs-Baedeker durch eine Totenwelt, unternimmt eine Besichtigung der Moribunden, die sich karg von denen verabschieden, die man kaum als Mitlebende bezeichnen mag. Die Stationen des Erzählens ähneln einem Leidenszug, der diesmal durch das Kärntner Dorf in Richtung Verwesung wandert. Doch so viel Vertrautheit täuscht. Denn es änderte sich der Ton der kontrollierten Besessenheit, der den Leser auf seinem Gang durch die Kreise dieses Danteschen Dorf-Infernos begleitet. Winkler beschränkte sich durch die Geographie, und er legte an Intensität zu. Das kleine Pulsnitz und der Tod bilden den Trichter, durch den er auf die Welt blickt. Verengt er sich an seinem Ende, so steigert das nur die Schwärze der Aussicht. Das Licht, das sich am Ende dieses Erzähltunnels verbreitet, stammt von einer Grablampe.
Gegliedert wird Winklers Dorfgang nicht durch das chronikalische Nacheinander einer gemütlichen Saga, sondern durch die Verästelungen der Stammbäume. Bis in das Reich der Urgroßväter steigt der Geschichtensammler Maximilian hinab, um den Verschlingungen der Familien Kirchheimer, Rosenfelder oder Felsenberger nachzuspüren. Labyrinthisch sind die Irrwege durch diese Dorfdynastien. Jede neue Verwandtschaft führt sie näher an die inzestuöse Verblödung. Man bleibt unter sich, weil Erbschäden für die Zukunft erwartbar, die Vermehrung des Viehbestandes aber sicher ist. Geschlossen werden diese Dorfehen im Himmel und auf dem Katasteramt.
Doch behält der Leser auf andere Weise den Überblick. Hat er den Platz einer Figur im Familientableau vergessen, so verhilft ihm die Art ihres Todes zur Erinnerung. Winklers Genealogien sind Zwangseinrichtungen zum Sterben. Die letzte Stunde macht an den Figuren den Vaterschaftstest. Denn nur vorläufig sind dem Sohn eines "Schlossers und Trinkers" auch sein Beruf und die Freizeitgestaltung vorherbestimmt. Erst in der Stunde seines Todes offenbart sich, ob es bei seiner Zeugung mit rechten Dingen zuging. So vererbt der Vater Hasslacher den Söhnen seine Rachitis und den Griff zum Kälberstrick, mit dem sie in der Scheune nacheinander ihrem Leben ein Ende setzen. Am Balken baumelnd, bezeugen sie Familienzugehörigkeit. Als reiche die Wahl einer natürlichen Krankheit zum Tode nicht aus und bringe der Herzinfarkt einen ins Gerede, vereinzeln sich die Familien über den exzentrischen Tod. Wählen die einen den Strick, ziehen die anderen den Verkehrsunfall vor. Aller Verhängnis ist es, bis in den Tod an Familienbande geknüpft zu sein.
Bitterböse und leichenschwarz kann ein Buch nur sein, wenn es konsequent ist. Winkler weicht keinen Sargnagel breit von seinem Gang durchs Gräberfeld ab. Sein Erzählen ist poetisch strenger als das Leben der Knechte, seine Arbeit am Tode kälter als der Winter. Denn der Lakonie, mit der er einen Mann ungewarnt vor den Landbus laufen läßt, entspricht die Auslöschung seiner Vergangenheit. Nicht einmal eine Lebensgeschichte wird dem Toten in den Sarg gelegt.
Wie Winklers Buch erzählen viele Romane vom Tod her. Das hat einen guten Grund. Das Ableben einer Figur ist ihnen ein schöner Anlaß, auf das Leben zurückzuschauen. Nur was tot genug ist, kann historisch interessieren, liest man bei Hans-Georg Gadamer. Das Verstehen beginnt, wenn das Leben endet. Wer jemand war, so behaupten diese testamentarischen Romane, ist erst an seinem Grab zu ermitteln. Wie Detektive untersuchen sie die Vorgeschichte nur, wenn die Leiche vor ihnen liegt.
Winkler aber ist kein Detektiv, sondern ein Bestatter, ein "Leichenheini". Er bringt die Figuren unter die Erde, nicht aber ins erzählte Leben zurück. Der Titel seines Buches nennt den Moment, für den sich sein Schreiben interessiert: bedingungslos, unprätentiös, ohne voyeuristische Entblößungssucht. "Wenn es soweit ist" und die Figur ums Leben kommt, ist Winkler bei ihr. Für den Sterbensaugenblick strengt er seine Sprache an, versagt sich aber das Mitleid, das auch die Trauergäste den Hinterbliebenen in diesem Dorf nicht aussprechen. Vergeblich verbessert der Pfarrer den letzten Gruß der Kärntner: Vom Beileid will keiner lassen, zum Mitleid keiner hin. Deshalb sucht der Leser an diesem dörflichen Massengrab vergeblich nach Identifikation. Winkler will beerdigen, nicht verstehen.
Unter diesen Ablebensumständen ist mit Psychologie nicht zu rechnen. Warum die Bauern ihr Heil am Balken suchen oder Verhängnis den Bus zu schnell fahren ließ, ist für diese Erzählung keine nebensächliche, sondern eine unmögliche Frage. Der Tod braucht kein Motiv. Winklers suggestive Kunst der verweigerten Illusion entzieht den Figuren nicht alleine ihre Biographie. Auch das Dorf lebt ohne Geschichte. Man kann das Buch keine Chronik nennen, weil es Jahreszahlen verschluckt und in seinem Totentanz zwischen den Generationen springt. Beiläufig zieht die Elektrizität nur deshalb ins Dorf ein, damit die Grablampen verläßlicher brennen. Auch der erste Fernseher stellt nur seine Besitzerin mit Namen vor, die den Brustkrebs in sich trägt. Mag die Weltgeschichte auch mit Vernunft zu sich kommen, so bleibt der Tod, was er ist.
Im Tonkrug, in dem aus den Gebeinen geschlachteter Tiere der nach Verwesung riechende Knochensud gewonnen, der den Pferden zum Schutz vor Fliegen, Bremsen und Mücken mit einer Krähenfeder um die Augen, auf die Ohren, die Nüstern und auf den Bauch gepinselt wurde, liegen zuunterst die auf einem Kriegsschlachtfeld in einem Schützengraben vom Körper gerissenen Armknochen eines Mannes, der vor dem Zweiten Weltkrieg eine mannsgroße Jesusstatue in den Wald geschleppt und über einen Wasserfall geworfen hatte."
Krumm wie ein Dorfweg schleicht dieser Satz. Irgendwann verliert man die Orientierung in ihm, stolpert über eine grammatikalische Schwelle und liest verständnislos weiter. Dies ist der Moment, wo das Buch an seinem Ziel ist und die Litanei beginnt. Es murmelt vom Sterben wie ein endloses Gebet, klappert mit den Sätzen wie die Zähne eines Totengerippes. Seine Konzentration liegt in der Beschwörung dieser Monotonie. Jedesmal wiederholt Winkler diese Satzschlange vom Tonkrug, wenn er neue Knochen der Überfahrenen oder Erhängten zum Verwesungssud einkocht. Die Miniaturaufnahmen der Dorftoten reiht er aneinander wie Perlen an einen Rosenkranz. Die Sprechformen des Gebets bewahren ihn vor einem Mitleid, das unmögliche Worte des Verstehens vor dem Unverständlichen erfinden müßte. Eingedickt im Massengrab des Tonkrugs, nimmt der Ritus den Toten ihre letzte Einmaligkeit. Ihre knöchernen Reliquien verschwinden langsam im Verwesungsteer. Was aber Fliegen vertreibt, zieht geduldige Leser an.
Seit Thomas Bernhard weiß man, daß es Baupläne für eine solche Totenwelt nur im Österreichischen geben kann. Winkler mauert die Gruft um seine Figuren aus Mosaiksteinchen, die er aus dem katholischen Zentralmassiv gebrochen hat. Sein Dorf Pulsnitz baut er "kreuzförmig", um Nägel durch jedes Haus zu treiben. Mitten auf dem Dorfplatz und im Zentrum des Buches steht ein Bildstock, an dem Winkler seine Figuren vorbeitreibt. In den grellen Farben der katholischen Bilderlust hat der Pfarrer eigenhändig seine Höllenversion daraufgepinselt: den unbekannten Schänder der Jesus-Statue, dem Satan eimerweise Galle eintrichtert. Damit ist das Inferno in ihre Mitte gekommen. Jeder Vorbeigehende schaut diesen Albtraum an, bis im eigenen Küchenherd das Fegefeuer brennt. Wenn der unscheinbare Großvater sich als praktizierender Nationalsozialist entpuppt, dann zitiert er diesen Satan auf dem Dorfplatz: Beide pflanzen ihre Blumen des Bösen in den Alltagsacker, beide agieren unter dem Zwang der rituellen Wiederholung. Der Schrecken grundiert die Heiligenbildchen.
Wer dem Buch seine Überraschungslosigkeit vorwirft, hat sich der Schönheit seines Klagegesangs verschlossen. Seine Meditationen beschwören Einübungen ins Gleiche und konzentrieren sich im haargenauen Wort. Winklers Gebetsmühle zerkleinert das Katholische zu Literatur. Auch diese jüngste Erzählung ist Teil einer intensiven Gräber-Literatur, einer katholischen Psychedelik, zu der sich sein Gesamtwerk zusammensetzt. Daß Totengeschichten aus dem 1990 erschienenen "Friedhof der bitteren Orangen" wiedererzählt werden, belegt nur diese repetitive Schreibbewegung. Mit der Beschränkung auf das Kärntner Dorf Pulsnitz bohrt sie sich um so tiefer durch den Sargdeckel, der über der Geschichte liegt. Man muß solche Beharrlichkeit gegenüber dem Verwesenden nicht mögen - Respekt wird man ihr nicht versagen können.
Josef Winkler: "Wenn es soweit ist". Erzählung. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1998. 191 S., geb., 38,- DM.
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