Erster Akt der Revolte: sich den Anfang aneignen, die eigene Geburt. Wie? Lassen Sie sich überraschen! Zweiter Akt der Revolte: sich die Sprache aneignen, als was? Als Waffe gegen eine Welt von Egozentrikern, die ihre Kinder verwahrlosen lassen und die Bande der ach so heilen Familie nur umso enger um die Kehlen ihrer Sprösslinge knüpfen, als dass, 'unter uns', nichts, aber nun auch wirklich nichts, 'weiter schlimm' ist. Und so darf es quellen und gären und aufkeimen im Morast einer monströs normalen Familie: das uralte Grauen, das Ovid schon besang, als er in seinen 'Metamorphosen' Philomena gegen ihren Peiniger ausschreien ließ: "wenn nicht mit meiner Unschuld alles vor die Hunde ging!", bevor dieser sie ihrer Zunge entledigt - Kimberley, einst Titelheldin eines Songs von Patti Smith, hier nun wutentbrannte Stimme einer Heranwachsenden, die einen Spiegel vor unsere Augen schleudert, dessen Kristallsplitter Baudelaire, Hugo, Rimbaud, Verlaine aufblitzen lassen, diese Kimberley, sie wird zur Kronzeugin einer Kraft, die gegen alle Wucht des Schicksals mit der Sprache in der Hand sich ihre eigene Identität schöpfen wird: Und wenn die fragilste Stelle des Menschen seine sexuelle Identität ist, so ist dieser grandios zornige Roman ein überwältigender Aufschrei des Lebens, der auch dort widerhallt, wo der Abgrund der 'unerträglichen Grausamkeit des Seins' aufklafft. Zum Beispiel: im von Geburt an gespaltenen Gesicht der Mutter, Vorsicht, die Oberfläche der Körper! All ihre Narben!
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Einen solch "grandiosen" Roman über solch eine schreckliche Familie hat Lena Bopp noch nicht gelesen. Für sie gehört das Sittenbild der Familie Meuriant, das die französische Autorin Emmanuelle Bayamack-Tam hier zeichnet, zum Besten, was sie 2014 gelesen hat: Der Roman erzählt von einer Familie, in der Grausamkeit, Missbrauch und Vernachlässigung an der Tagesordnung stehen und aus der sich die junge Kim auch mit Hilfe der Poesie zu retten versucht. Absolut fasziniert verfolgt Bopp das Schicksal dieses Mädchens, das zwar nicht unbedingt sympathisch sei, aber doch mit Verstand und Schönheit gesegnet und von solch einer beeindruckenden Furchtlosigkeit, dass die Rezensentin lange nicht merkt, auf welch zweifelhaften Pfaden sie dem Mädchen eigentlich so lange und so überzeugt gefolgt ist.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.01.2015Von allen Motiven ist die Käuflichkeit das beste
Wenn die Umgebung nichts als Mittelmaß und Lügen bietet: Die französische Autorin Emmanuelle Bayamack-Tam hat einen grandiosen Roman über das Drama vom Erwachsenwerden geschrieben.
Schade eigentlich, dass die französische Schriftstellerin Emmanuelle Bayamack-Tam gar nicht sagen kann, aus welchem finsteren Loch sie die Hauptfigur ihres neuen Romans gezogen hat. Auf die Frage in einem Interview, wie Kimberley, genannt Kim, entstanden sei, antwortete sie jedenfalls: "Ich habe keine Ahnung." Sie habe einfach angefangen zu schreiben, von einer Hasenscharte zunächst, dann der Geburt eines Kindes und schließlich seiner Familie - und entstanden ist daraus nicht nur ein sagenhaftes Sittenbild dieser Familie Meuriant, sondern vor allem ein moderner Entwicklungsroman, der, das soll zum Anfang des neuen Jahres gesagt werden, zum Besten gehört, was man 2014 gelesen hat.
Das Buch heißt "Wenn mit meiner Unschuld nicht alles vor die Hunde ging" und überlässt der jugendlichen Ich-Erzählerin Kim das Wort. In ihrem Egoismus und der Absolutheit ihrer Urteile ist Kim eine typische Heranwachsende und eigentlich nur zu ertragen, weil ihre Überzeugungen nicht dumm sind. Niemand in der Familie entgeht ihrem eisklaren Blick: Die Mutter Gladys nicht, die einst mit einer Hasenscharte auf die Welt kam und beschloss, den Makel mit Willenskraft zu besiegen. "Allein, auf meine Mutter ist Verlass in Sachen völliger Realitätsferne bei gleichzeitiger Selbstüberschätzung, was zur Folge hat, dass sie mit neununddreißig Jahren Sweetie wird, eine burleske Künstlerin" - will sagen: eine Stripperin. An ihrer Seite lebt ein Ehemann, in dessen Natur es den Worten der Tochter zufolge vor allem liegt, "keinen Eindruck zu hinterlassen und niemanden zu interessieren".
Außerdem wohnen in dem Haus irgendwo im Südosten Frankreichs auch die Großeltern, Charlie, dessen Glücksgeheimnis in seiner Fähigkeit gründet, "alles auf sich zu beziehen", sowie die Großmutter Claudette, die, obwohl eigentlich immer zu Hause, nur selten wirklich zugegen ist: "Den Rest der Zeit lebt sie in ihrem Inneren, in Bann gezogen von algerischen Erinnerungen, die vor lauter Widerkäuen unvermittelbar geworden sind." Bleiben noch Kims Schwestern, mit denen die Erzählerin aber so wenig anfangen kann, dass sie am wenigsten Worte über sie verliert. Und ihre beiden kleinen Brüder Esteban und Lorenzo. Seiner roten Haaren wegen wird vor allem Lorenzo von sämtlichen Mitschülern gemobbt, erniedrigt und schikaniert - zu Hause provoziert seine Angst aber nur Vorwürfe, nicht so wehleidig zu sein: Warum wohl sein Bruder Esteban nie gefoppt werde, fragt man ihn beim Abendbrot. "In der Antwort auf diese Frage liegt die ganze Tragik von Lorenzos zartem Leben, aber dessen ist sich offensichtlich niemand bewusst."
Dabei bildet die Grausamkeit, der sich Lorenzo gleich doppelt ausgesetzt sieht, nur die Spitze eines Eisberges, dessen Fundament zusätzlich angereichert ist mit Eitelkeit, Missbrauch, Vernachlässigung und Gleichgültigkeit. Jedenfalls ist nichts gut in dieser Familie, deren Mitglieder sich doch oder gerade deswegen darauf versteift haben, einander die Treue zu halten: Wenn wir schon zum Abschaum zählen, dann wenigstens zusammen - so lautet ihre Überlebensstrategie. Und wenn es auch beinahe unnötig ist zu sagen, dass sie am Ende niemanden retten wird, so bildet sie in dem Roman von Emmanuelle Bayamack-Tam doch den erzählerischen Hintergrund, den Kim braucht, um ihre selbstverantwortete Errettung als tragischen Triumphzug beschreiben zu können. Denn darum geht es: Wie wird man erwachsen, wenn die Erwachsenen so wenig als Vorbilder taugen? Wohin sich wenden, wenn die Umgebung nichts bietet als Mittelmaß und Lügen?
Kim, die dank einer unerklärlichen göttlichen Fügung mit Schönheit und Verstand gesegnet ist, ruft bald ihre Hausgötter zu Hilfe: Neben Patti Smith und Bob Dylan sind das vor allem Charles Baudelaire und Victor Hugo, denen das Buch nicht nur eine lange Reihe von teils verfremdeten und lose eingestreuten Gedichtzeilen verdankt, sondern auch einen Ton, der bei all der krass formulierten Verachtung und Belustigung, die Kim vor allem ihrer Mutter gegenüber zeigt, stets Halt in der Poesie findet. Diese Verbindung von realistisch anmutender Abgrenzung und lyrisch inspirierter Zufluchtshoffnung führt zu einer Radikalität, die ihre thematische Entsprechung in der Sexualität findet, deren sich Kim irgendwann bedient, um eine Bresche hinaus aus dem familiären Dschungel zu schlagen. Sie lässt nichts aus: Nicht den heimlichen Kuss, den sie ihrer Turnlehrerin in der Toilette raubt. Nicht den ausdauernden Teenager-Sex mit ihrem ersten Freund Sven, dessen Elternhaus sie meist morgens in aller Frühe verlässt - "und ich liebe diesen Moment, wenn ich durch die Straßen meiner Stadt gehe, allein mit dem Geheimnis meiner Liebe, trunken und triumphierend ob meiner siebzehn Jahre". Auch nicht die Prostitution, zu der sie schließlich findet, als sie beschließt, dass "Käuflichkeit von allen Beweggründen der beste" sei.
Das Erstaunliche an der Darstellung dieses Werdegangs ist nun, dass man Kim als Leser so lange abnimmt, das Richtige zu tun. Ihre Eigenwilligkeit ist so entschieden und ihre Furchtlosigkeit so bemerkenswert, dass man erst auf den zweiten Blick wieder klarsieht und erkennt, in welch verwegenem Gegensatz die absolut wahrscheinlich wirkende Familiendramatik und die Unwahrscheinlichkeit von Kims Flucht aus ihr zueinander stehen. Tatsächlich setzt sich dieser Roman aus zwei stets miteinander verwobenen Teilen zusammen - einem realistischen dort, wo es um die Zerrüttung der Sippe geht, die, wie das bei Familien so ist, einer eigenen Dynamik folgt. Und einem zweiten Teil, der die Möglichkeiten der Heranwachsenden auslotet und sich um Realismus nicht mehr im Geringsten schert. Man höre an dieser Stelle Baudelaire, von Kim zitiert: "Liebe ist der Geschmack von Prostitution. Es gibt kein edles Vergnügen, das nicht zurückgeführt werden könnte auf die Prostitution."
Mit dieser Konstruktion zeigt die französische Autorin Bayamack-Tam, deren Werk, wenn auch nicht vollständig, so doch zumindest teilweise (und dankenswerterweise) vom Secession Verlag übersetzt wird, was sie meinte, als sie kürzlich sagte, dass für sie hinter dem Exzess und der Inkohärenz eine Wahrheit liege - "darüber besteht kein Zweifel". Das Ausloten dieser Grenzbereiche hat sie in ihren Romanen und Theaterstücken denn auch immer wieder zu den verschiedensten Spielarten der Sexualität geführt. Von der Inter-, der Homo- und der Bisexualität bis zu Eltern, die den ersten Sexpartner für ihre Tochter aussuchen, gab es bei ihr nichts, was es nicht gibt. Denn, so begründete Bayamack-Tam ihre Themenwahl für den neuen Roman in einem anderen Interview: "Ich denke an das Plakat von Coluche, 1981, als er Kandidat bei den Präsidentschaftswahlen war: ,Ich wende mich an die Faulenzer, die Schmutzfinken, Alkoholiker, Schwulen und Transvestiten ...' Meine Figuren befinden sich dort. Da, wo es instabil wird, ist das Leben." Und darüber mag man zwar durchaus geteilter Meinung sein. Der Geschichte von Kim erweist Bayamack-Tam mit dieser Sicht auf die Dinge einen schönen Dienst.
Nicht nur den seltsamen Versuchen des jungen Mädchens, sich im Labyrinth von Bedürfnissen, Sehnsüchten und Zwängen zu orientieren, folgt man gern. Auch zu beobachten, wie sie sich erst in die Grundsätzlichkeit wagt ("Übrigens wäre es besser gewesen, schon von Anfang an zu verzweifeln"), dann in die Gleichgültigkeit ("Das Leben der Leute ist vollkommen nervtötend und in Wahrheit nicht mitteilbar"), nur um schließlich in einer märchenhaften Volte alle Gewissheit umstandslos wieder zu kassieren ("Denn der Summe meiner Fehlurteile könnt ihr auch noch meine verworrene Theorie der einzigen Liebe hinzufügen, vom aufbrausenden Feuer, das sich nur einmal entzündet") - das klingt alles ebenso gruselig wie von ferne noch vertraut. Da müssen ein paar Exzesse schon sein.
LENA BOPP.
Emmanuelle Bayamack-Tam: "Wenn mit meiner Unschuld nicht alles vor die Hunde ging". Roman. Aus dem Französischen von Christian Ruzicska und Paul Sourzac. Secession Verlag, Zürich 2014. 345 S., geb., 24,95 [Euro].
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Wenn die Umgebung nichts als Mittelmaß und Lügen bietet: Die französische Autorin Emmanuelle Bayamack-Tam hat einen grandiosen Roman über das Drama vom Erwachsenwerden geschrieben.
Schade eigentlich, dass die französische Schriftstellerin Emmanuelle Bayamack-Tam gar nicht sagen kann, aus welchem finsteren Loch sie die Hauptfigur ihres neuen Romans gezogen hat. Auf die Frage in einem Interview, wie Kimberley, genannt Kim, entstanden sei, antwortete sie jedenfalls: "Ich habe keine Ahnung." Sie habe einfach angefangen zu schreiben, von einer Hasenscharte zunächst, dann der Geburt eines Kindes und schließlich seiner Familie - und entstanden ist daraus nicht nur ein sagenhaftes Sittenbild dieser Familie Meuriant, sondern vor allem ein moderner Entwicklungsroman, der, das soll zum Anfang des neuen Jahres gesagt werden, zum Besten gehört, was man 2014 gelesen hat.
Das Buch heißt "Wenn mit meiner Unschuld nicht alles vor die Hunde ging" und überlässt der jugendlichen Ich-Erzählerin Kim das Wort. In ihrem Egoismus und der Absolutheit ihrer Urteile ist Kim eine typische Heranwachsende und eigentlich nur zu ertragen, weil ihre Überzeugungen nicht dumm sind. Niemand in der Familie entgeht ihrem eisklaren Blick: Die Mutter Gladys nicht, die einst mit einer Hasenscharte auf die Welt kam und beschloss, den Makel mit Willenskraft zu besiegen. "Allein, auf meine Mutter ist Verlass in Sachen völliger Realitätsferne bei gleichzeitiger Selbstüberschätzung, was zur Folge hat, dass sie mit neununddreißig Jahren Sweetie wird, eine burleske Künstlerin" - will sagen: eine Stripperin. An ihrer Seite lebt ein Ehemann, in dessen Natur es den Worten der Tochter zufolge vor allem liegt, "keinen Eindruck zu hinterlassen und niemanden zu interessieren".
Außerdem wohnen in dem Haus irgendwo im Südosten Frankreichs auch die Großeltern, Charlie, dessen Glücksgeheimnis in seiner Fähigkeit gründet, "alles auf sich zu beziehen", sowie die Großmutter Claudette, die, obwohl eigentlich immer zu Hause, nur selten wirklich zugegen ist: "Den Rest der Zeit lebt sie in ihrem Inneren, in Bann gezogen von algerischen Erinnerungen, die vor lauter Widerkäuen unvermittelbar geworden sind." Bleiben noch Kims Schwestern, mit denen die Erzählerin aber so wenig anfangen kann, dass sie am wenigsten Worte über sie verliert. Und ihre beiden kleinen Brüder Esteban und Lorenzo. Seiner roten Haaren wegen wird vor allem Lorenzo von sämtlichen Mitschülern gemobbt, erniedrigt und schikaniert - zu Hause provoziert seine Angst aber nur Vorwürfe, nicht so wehleidig zu sein: Warum wohl sein Bruder Esteban nie gefoppt werde, fragt man ihn beim Abendbrot. "In der Antwort auf diese Frage liegt die ganze Tragik von Lorenzos zartem Leben, aber dessen ist sich offensichtlich niemand bewusst."
Dabei bildet die Grausamkeit, der sich Lorenzo gleich doppelt ausgesetzt sieht, nur die Spitze eines Eisberges, dessen Fundament zusätzlich angereichert ist mit Eitelkeit, Missbrauch, Vernachlässigung und Gleichgültigkeit. Jedenfalls ist nichts gut in dieser Familie, deren Mitglieder sich doch oder gerade deswegen darauf versteift haben, einander die Treue zu halten: Wenn wir schon zum Abschaum zählen, dann wenigstens zusammen - so lautet ihre Überlebensstrategie. Und wenn es auch beinahe unnötig ist zu sagen, dass sie am Ende niemanden retten wird, so bildet sie in dem Roman von Emmanuelle Bayamack-Tam doch den erzählerischen Hintergrund, den Kim braucht, um ihre selbstverantwortete Errettung als tragischen Triumphzug beschreiben zu können. Denn darum geht es: Wie wird man erwachsen, wenn die Erwachsenen so wenig als Vorbilder taugen? Wohin sich wenden, wenn die Umgebung nichts bietet als Mittelmaß und Lügen?
Kim, die dank einer unerklärlichen göttlichen Fügung mit Schönheit und Verstand gesegnet ist, ruft bald ihre Hausgötter zu Hilfe: Neben Patti Smith und Bob Dylan sind das vor allem Charles Baudelaire und Victor Hugo, denen das Buch nicht nur eine lange Reihe von teils verfremdeten und lose eingestreuten Gedichtzeilen verdankt, sondern auch einen Ton, der bei all der krass formulierten Verachtung und Belustigung, die Kim vor allem ihrer Mutter gegenüber zeigt, stets Halt in der Poesie findet. Diese Verbindung von realistisch anmutender Abgrenzung und lyrisch inspirierter Zufluchtshoffnung führt zu einer Radikalität, die ihre thematische Entsprechung in der Sexualität findet, deren sich Kim irgendwann bedient, um eine Bresche hinaus aus dem familiären Dschungel zu schlagen. Sie lässt nichts aus: Nicht den heimlichen Kuss, den sie ihrer Turnlehrerin in der Toilette raubt. Nicht den ausdauernden Teenager-Sex mit ihrem ersten Freund Sven, dessen Elternhaus sie meist morgens in aller Frühe verlässt - "und ich liebe diesen Moment, wenn ich durch die Straßen meiner Stadt gehe, allein mit dem Geheimnis meiner Liebe, trunken und triumphierend ob meiner siebzehn Jahre". Auch nicht die Prostitution, zu der sie schließlich findet, als sie beschließt, dass "Käuflichkeit von allen Beweggründen der beste" sei.
Das Erstaunliche an der Darstellung dieses Werdegangs ist nun, dass man Kim als Leser so lange abnimmt, das Richtige zu tun. Ihre Eigenwilligkeit ist so entschieden und ihre Furchtlosigkeit so bemerkenswert, dass man erst auf den zweiten Blick wieder klarsieht und erkennt, in welch verwegenem Gegensatz die absolut wahrscheinlich wirkende Familiendramatik und die Unwahrscheinlichkeit von Kims Flucht aus ihr zueinander stehen. Tatsächlich setzt sich dieser Roman aus zwei stets miteinander verwobenen Teilen zusammen - einem realistischen dort, wo es um die Zerrüttung der Sippe geht, die, wie das bei Familien so ist, einer eigenen Dynamik folgt. Und einem zweiten Teil, der die Möglichkeiten der Heranwachsenden auslotet und sich um Realismus nicht mehr im Geringsten schert. Man höre an dieser Stelle Baudelaire, von Kim zitiert: "Liebe ist der Geschmack von Prostitution. Es gibt kein edles Vergnügen, das nicht zurückgeführt werden könnte auf die Prostitution."
Mit dieser Konstruktion zeigt die französische Autorin Bayamack-Tam, deren Werk, wenn auch nicht vollständig, so doch zumindest teilweise (und dankenswerterweise) vom Secession Verlag übersetzt wird, was sie meinte, als sie kürzlich sagte, dass für sie hinter dem Exzess und der Inkohärenz eine Wahrheit liege - "darüber besteht kein Zweifel". Das Ausloten dieser Grenzbereiche hat sie in ihren Romanen und Theaterstücken denn auch immer wieder zu den verschiedensten Spielarten der Sexualität geführt. Von der Inter-, der Homo- und der Bisexualität bis zu Eltern, die den ersten Sexpartner für ihre Tochter aussuchen, gab es bei ihr nichts, was es nicht gibt. Denn, so begründete Bayamack-Tam ihre Themenwahl für den neuen Roman in einem anderen Interview: "Ich denke an das Plakat von Coluche, 1981, als er Kandidat bei den Präsidentschaftswahlen war: ,Ich wende mich an die Faulenzer, die Schmutzfinken, Alkoholiker, Schwulen und Transvestiten ...' Meine Figuren befinden sich dort. Da, wo es instabil wird, ist das Leben." Und darüber mag man zwar durchaus geteilter Meinung sein. Der Geschichte von Kim erweist Bayamack-Tam mit dieser Sicht auf die Dinge einen schönen Dienst.
Nicht nur den seltsamen Versuchen des jungen Mädchens, sich im Labyrinth von Bedürfnissen, Sehnsüchten und Zwängen zu orientieren, folgt man gern. Auch zu beobachten, wie sie sich erst in die Grundsätzlichkeit wagt ("Übrigens wäre es besser gewesen, schon von Anfang an zu verzweifeln"), dann in die Gleichgültigkeit ("Das Leben der Leute ist vollkommen nervtötend und in Wahrheit nicht mitteilbar"), nur um schließlich in einer märchenhaften Volte alle Gewissheit umstandslos wieder zu kassieren ("Denn der Summe meiner Fehlurteile könnt ihr auch noch meine verworrene Theorie der einzigen Liebe hinzufügen, vom aufbrausenden Feuer, das sich nur einmal entzündet") - das klingt alles ebenso gruselig wie von ferne noch vertraut. Da müssen ein paar Exzesse schon sein.
LENA BOPP.
Emmanuelle Bayamack-Tam: "Wenn mit meiner Unschuld nicht alles vor die Hunde ging". Roman. Aus dem Französischen von Christian Ruzicska und Paul Sourzac. Secession Verlag, Zürich 2014. 345 S., geb., 24,95 [Euro].
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