Eine weitgespannte Untersuchung über das Phänomen der Verachtung, ein lebensbejahendes Buch, das auf menschliche Defizite aufmerksam macht und für den konstruktiven Umgang mit Gefühlen plädiert.
"Das ist dein Problem". Im menschlichen Nahkampf ums Besserwissen und ums Bessersein ist dieser Spruch eine der wirkungsvollsten Waffen. Wer ihn von sich gibt, fühlt sich dumm und beschämt. Wenn Narziß Athena küßt ist eine interessante, unterhaltsame Untersuchung über das Phänomen der Verachtung. Anhand der Figuren Narziß (der der übergroßen Selbstliebe verfiel) und Athena (der Weisen, die glaubt, keine Schwäche kennen zu dürfen!) schildert Dagmar Hoffmann-Axthelm, wie alt bestimmte "menschliche Schwächen" sind, die mehr oder minder geschickt hinter nach außen gekehrter Verachtung verborgen werden. Verachtung führt - ob subtil oder offen angewandt - immer zu Überheblichkeits- oder Unterlegenheitsgefühlen, zu Deformationen der Persönlichkeit. Neben Narziß und Athena untersucht die Autorin anschaulich historische (Magda und Joseph Goebbels, Robert und Clara Schumann) und literarische (Ivan Iljitsch, Thomas Manns Joseph-Roman) Fallbeispiele.
"Das ist dein Problem". Im menschlichen Nahkampf ums Besserwissen und ums Bessersein ist dieser Spruch eine der wirkungsvollsten Waffen. Wer ihn von sich gibt, fühlt sich dumm und beschämt. Wenn Narziß Athena küßt ist eine interessante, unterhaltsame Untersuchung über das Phänomen der Verachtung. Anhand der Figuren Narziß (der der übergroßen Selbstliebe verfiel) und Athena (der Weisen, die glaubt, keine Schwäche kennen zu dürfen!) schildert Dagmar Hoffmann-Axthelm, wie alt bestimmte "menschliche Schwächen" sind, die mehr oder minder geschickt hinter nach außen gekehrter Verachtung verborgen werden. Verachtung führt - ob subtil oder offen angewandt - immer zu Überheblichkeits- oder Unterlegenheitsgefühlen, zu Deformationen der Persönlichkeit. Neben Narziß und Athena untersucht die Autorin anschaulich historische (Magda und Joseph Goebbels, Robert und Clara Schumann) und literarische (Ivan Iljitsch, Thomas Manns Joseph-Roman) Fallbeispiele.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.06.1998Narziß komponiert, Athena pariert
Dagmar Hoffmann-Axthelm analysiert berühmte Paare
Clara und Robert Schumann, Magda und Joseph Goebbels, die Geschwister Thomas und Julia, Heinrich und Carla Mann: Dagmar Hoffmann-Axthelm steckt berühmte Paare in ein Kostüm aus dem Fundus der griechischen Mythologie und schickt sie ins Theaterrund des Psychodramas. Narziß und Athena sind die Helden der Stunde, und das Stück, das sie aufführen, heißt "Über die Verachtung".
Die Musikwissenschaftlerin und Psychotherapeutin nimmt den Mythos beim Wort. Der Vater von Narziß, Kephissos, ist ein Fluß und damit kühl, unbestimmt, ohne feste Grenzen. "Und seine Mutter war eine Nymphe, ein junges, heiteres, leichtfüßiges und leichtlebiges Geschöpf, eher eine Lolita als eine erwachsene Frau." Ein abwesender Vater und eine unreife Kindfrau: Das kann nicht gutgehen. Leiriope macht den Sohn zum Ersatzehemann, um sich von ihm die Bestätigung zu holen, die der psychisch abwesende Vater nicht bietet. Äußerlich erfüllt Narziß das geforderte Rollenmuster, innerlich wehrt er sich gegen die Vereinnahmung und beschließt, sich nur noch auf sich selbst zu verlassen. Mit unstillbarem Ehrgeiz sucht er sein Leben lang nach Anerkennung.
Ähnlich das Schicksal von Narziß' Seelenschwester Athena. Zeus verschlang seine erste Gattin Metis, weil er die Übermacht der klugen Frau fürchtete. Die Tochter Athena, mit der Metis bereits schwanger gegangen war, entsprang später seinem Haupt. Athena-Töchter gehen mit ihrem Vater eine symbiotische Beziehung ein. Der dominante Vater drängt die Mutter zurück und wählt die Tochter zur Partnerin. Diese versucht es dem Vater in jedem Sinne recht zu machen. Um nicht die Stärke zu verlieren, die der Vater so schätzt, unterdrückt sie Schwäche und Hilflosigkeit. Sie beginnt alles Empfindsame und Weiche zu verachten. Athena-Töchter sind tatsächlich Kopfgeburten des Vaters und selbst etwas kopflastig. Das Fazit aus beiden Geschichten: Narziß-Männer werden um männliche Selbstsicherheit, Athena-Frauen um ihre weibliche Empfindsamkeit betrogen.
Was passiert, wenn Narziß und Athena sich zusammentun? Dagmar Hoffmann-Axthelm glaubt, daß dabei Ehen entstehen, wie Clara und Robert Schumann oder Magda und Joseph Goebbels sie geführt haben. In beiden Fällen versucht ein Mann, durch die Verachtung der Partnerin seine Selbstzweifel zu unterdrücken, eine Frau jedoch, durch völlige Anpassung an die Ideen des Mannes ihr Wertgefühl zu wahren.
Ähnliche Konstellationen sieht Hoffmann-Axthelm in der Beziehung von Thomas und Heinrich Mann zu ihren Schwestern am Werke. Die Mann-Brüder erscheinen in der Neuerzählung der Familienchronik als Zeus-Väter, die sich von ihren Schwestern bewundern ließen und deren Eigenständigkeit unterdrückten. Anhand eines Falles aus der eigenen psychotherapeutischen Praxis zeigt die Autorin, daß ein Minderwertigkeitskomplex und damit der Mechanismus der Verachtung über Generationen vererbt werden können.
Anhand von Tolstojs Novelle "Der Tod des Iwan Iljitsch" denkt Hoffmann-Axthelm schließlich über Alter und Tod nach: Sie machten den narzißtischen Lebensentwurf zunichte, weil sie dem Menschen die Endlichkeit seiner Existenz vor Augen führen. Die Autorin möchte den Tod zum Psychotherapeuten machen. Er lehre, die Entwicklung zum wahren Selbst als einen Prozeß zu begreifen und Liebe und Wärme als das eigentlich menschliche Wachstumspotential.
So plausibel ihre Psychologie des Narzißmus auch sein mag, so sorgfältig die Fallbeispiele untersucht und referiert sind: Der Tonfall der Herzenswärme und Nettigkeit, in welchem der Band dahinplätschert, stößt irgendwann sauer auf. Hoffmann-Axthelm läßt ihr Verachtungsdrama allein auf den Nebenschauplätzen des Privaten und Subjektiven spielen. Dabei stößt sie die von der klassischen Psychoanalyse favorisierten Gefühle der Schuld und Frustration zu Recht vom Sockel und setzt statt dessen Verachtung und Minderwertigkeit an deren Stelle.
Das ödipale Zeitalter ist vorbei, Autorität und Gehorsam sind nicht mehr die Ordnungsfaktoren, die sie zur Zeit Freuds noch waren. Wenn allenthalben nach Eigenverantwortung, Flexibilität und Originalität gerufen wird, hat der zwanghafte Charakter mit seinen unterdrückten Impulsen ausgedient. Der Alleskönner und Technokrat ist gefragt, ein Wesen, das Freude am eigenen Funktionieren hat, kurzum: ein Narziß. Und daß auf weiblicher Seite tatsächlich Athena eine neue Kultfigur sein könnte, begreift jeder, der einen Blick in die Vorstandsetagen oder Ministerien tut. Verletzlichkeit und Schwäche sind in der Welt der Macher verächtlich. Doch ist diese Verachtung nur das Produkt einer fatalen Familienkonstellation? Ist sie nicht auch das Ergebnis härter werdender Verteilungskämpfe und zunehmender Individualisierung? RÜDIGER BRAUN
Dagmar Hoffmann-Axthelm: "Wenn Narziß Athena küßt". Über die Verachtung. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1998. 320 S., br., 18,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Dagmar Hoffmann-Axthelm analysiert berühmte Paare
Clara und Robert Schumann, Magda und Joseph Goebbels, die Geschwister Thomas und Julia, Heinrich und Carla Mann: Dagmar Hoffmann-Axthelm steckt berühmte Paare in ein Kostüm aus dem Fundus der griechischen Mythologie und schickt sie ins Theaterrund des Psychodramas. Narziß und Athena sind die Helden der Stunde, und das Stück, das sie aufführen, heißt "Über die Verachtung".
Die Musikwissenschaftlerin und Psychotherapeutin nimmt den Mythos beim Wort. Der Vater von Narziß, Kephissos, ist ein Fluß und damit kühl, unbestimmt, ohne feste Grenzen. "Und seine Mutter war eine Nymphe, ein junges, heiteres, leichtfüßiges und leichtlebiges Geschöpf, eher eine Lolita als eine erwachsene Frau." Ein abwesender Vater und eine unreife Kindfrau: Das kann nicht gutgehen. Leiriope macht den Sohn zum Ersatzehemann, um sich von ihm die Bestätigung zu holen, die der psychisch abwesende Vater nicht bietet. Äußerlich erfüllt Narziß das geforderte Rollenmuster, innerlich wehrt er sich gegen die Vereinnahmung und beschließt, sich nur noch auf sich selbst zu verlassen. Mit unstillbarem Ehrgeiz sucht er sein Leben lang nach Anerkennung.
Ähnlich das Schicksal von Narziß' Seelenschwester Athena. Zeus verschlang seine erste Gattin Metis, weil er die Übermacht der klugen Frau fürchtete. Die Tochter Athena, mit der Metis bereits schwanger gegangen war, entsprang später seinem Haupt. Athena-Töchter gehen mit ihrem Vater eine symbiotische Beziehung ein. Der dominante Vater drängt die Mutter zurück und wählt die Tochter zur Partnerin. Diese versucht es dem Vater in jedem Sinne recht zu machen. Um nicht die Stärke zu verlieren, die der Vater so schätzt, unterdrückt sie Schwäche und Hilflosigkeit. Sie beginnt alles Empfindsame und Weiche zu verachten. Athena-Töchter sind tatsächlich Kopfgeburten des Vaters und selbst etwas kopflastig. Das Fazit aus beiden Geschichten: Narziß-Männer werden um männliche Selbstsicherheit, Athena-Frauen um ihre weibliche Empfindsamkeit betrogen.
Was passiert, wenn Narziß und Athena sich zusammentun? Dagmar Hoffmann-Axthelm glaubt, daß dabei Ehen entstehen, wie Clara und Robert Schumann oder Magda und Joseph Goebbels sie geführt haben. In beiden Fällen versucht ein Mann, durch die Verachtung der Partnerin seine Selbstzweifel zu unterdrücken, eine Frau jedoch, durch völlige Anpassung an die Ideen des Mannes ihr Wertgefühl zu wahren.
Ähnliche Konstellationen sieht Hoffmann-Axthelm in der Beziehung von Thomas und Heinrich Mann zu ihren Schwestern am Werke. Die Mann-Brüder erscheinen in der Neuerzählung der Familienchronik als Zeus-Väter, die sich von ihren Schwestern bewundern ließen und deren Eigenständigkeit unterdrückten. Anhand eines Falles aus der eigenen psychotherapeutischen Praxis zeigt die Autorin, daß ein Minderwertigkeitskomplex und damit der Mechanismus der Verachtung über Generationen vererbt werden können.
Anhand von Tolstojs Novelle "Der Tod des Iwan Iljitsch" denkt Hoffmann-Axthelm schließlich über Alter und Tod nach: Sie machten den narzißtischen Lebensentwurf zunichte, weil sie dem Menschen die Endlichkeit seiner Existenz vor Augen führen. Die Autorin möchte den Tod zum Psychotherapeuten machen. Er lehre, die Entwicklung zum wahren Selbst als einen Prozeß zu begreifen und Liebe und Wärme als das eigentlich menschliche Wachstumspotential.
So plausibel ihre Psychologie des Narzißmus auch sein mag, so sorgfältig die Fallbeispiele untersucht und referiert sind: Der Tonfall der Herzenswärme und Nettigkeit, in welchem der Band dahinplätschert, stößt irgendwann sauer auf. Hoffmann-Axthelm läßt ihr Verachtungsdrama allein auf den Nebenschauplätzen des Privaten und Subjektiven spielen. Dabei stößt sie die von der klassischen Psychoanalyse favorisierten Gefühle der Schuld und Frustration zu Recht vom Sockel und setzt statt dessen Verachtung und Minderwertigkeit an deren Stelle.
Das ödipale Zeitalter ist vorbei, Autorität und Gehorsam sind nicht mehr die Ordnungsfaktoren, die sie zur Zeit Freuds noch waren. Wenn allenthalben nach Eigenverantwortung, Flexibilität und Originalität gerufen wird, hat der zwanghafte Charakter mit seinen unterdrückten Impulsen ausgedient. Der Alleskönner und Technokrat ist gefragt, ein Wesen, das Freude am eigenen Funktionieren hat, kurzum: ein Narziß. Und daß auf weiblicher Seite tatsächlich Athena eine neue Kultfigur sein könnte, begreift jeder, der einen Blick in die Vorstandsetagen oder Ministerien tut. Verletzlichkeit und Schwäche sind in der Welt der Macher verächtlich. Doch ist diese Verachtung nur das Produkt einer fatalen Familienkonstellation? Ist sie nicht auch das Ergebnis härter werdender Verteilungskämpfe und zunehmender Individualisierung? RÜDIGER BRAUN
Dagmar Hoffmann-Axthelm: "Wenn Narziß Athena küßt". Über die Verachtung. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1998. 320 S., br., 18,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main