Der Universaldilettant Wense wandert so, wie er forscht, übersetzt und komponiert: ekstatisch. Deutsche Landschaften sind ihm ebenso heilig wie die Sagen und Mythen der Cherusker, Maya oder Osmanen, wie Sterne, Steine und Tiere und all das andere, was es zu entdecken gilt. Allerdings herrscht Krieg, sein geliebtes Kassel wurde schon zerbombt, und in Göttingen muss er neuerdings Sonden für den militärischen Wetterdienst prüfen ...Angelehnt an die historische Person Hans Jürgen von der Wense erzählt Christian Schulteisz von einem allwissenden Taugenichts, der plötzlich taugen soll. Ein tragischkomischer Roman über Poesie und Irrsinn einer staunenden, zweckfreien Sicht auf die Welt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.04.2020Was es heißt, dem eigenen forteilenden Geist hinterherzusehen
Freies Denken in der Diktatur und Hitlers miserables Horoskop: Christian Schulteisz erzählt in seinem Debütroman vom Naturphilosophen Hans Jürgen von der Wense
"Wenn ich sterbe, ist die Welt in meinem Zimmer", schreibt der Musiker, Schriftsteller und Naturphilosoph Hans Jürgen von der Wense (1894 bis 1966) zehn Jahre vor seinem Tod. Zu Lebzeiten veröffentlicht der exzentrische Geist kaum fünfzig Seiten. Das Gros seines Mammutwerks landete im Nachlass: Rund 30 000 beidseitig beschriebene Blätter, vierzig Tagebücher, zahlreiche Kompositionen, Collagen, dreitausend Kleinbildfotografien und Hunderte Briefe. 1932, ein Jahr vor der "Machtergreifung" der Nationalsozialisten, beginnt Wense, ausgerüstet mit Zeiss-Kamerabox und Messtischblättern, Deutschlands Mitte zu erwandern und zu erforschen. 42 000 Kilometer, also einmal rund um den Globus, will er so zwischen Kaufunger Wald, Habichtswald und Eichsfeld zurückgelegt haben.
Wense lebt ohne festen Wohnsitz, als Untermieter in möblierten Zimmern. Er gilt als Sonderling, seine Zuneigung zu jungen Männern wird argwöhnisch beäugt. Zu allem Überfluss collagiert er heimlich den Ungeist der Zeiten im Fokus der geifernden Lokalpresse: eine LTI, selbstgebastelt mit Schere und Leimtopf. 1941 zieht er, angezogen von der Universitätsbibliothek Georgia Augusta, nach Göttingen. 1943 wird er zum Arbeitsdienst in den Physikalischen Werkstätten verpflichtet; die kriegswichtige Firma stellt Radiosonden für die militärische Wettervorhersage her. Die Einschläge kommen näher.
Genau in dieser Spannung zwischen der totalen Kriegsrealität des NS-Staates, die immer stärker alle Alltagsbereiche der Bevölkerung durchdringt, und Wenses staunend-zweckfreiem Blick auf die Welt entwickelt der 1985 geborene Christian Schulteisz seinen Roman. In short cuts, aneinandergereiht in dreizehn Kapiteln, kondensiert er biographische Motive aus Wenses Leben in den Jahren 1943/44. Wie überlebt ein freier musischer Geist, für den Karten "Partituren der Landschaft" sind, in einer Zeit, als es vorrangig "um Nutzflächen und Befahrbarkeit, um Hindernisse und Deckung, ums Einkesseln und Abriegeln" geht und Orientierung zur "soldatischen Pflicht" geworden ist? Noch kann der Sonderling im zerschlissenen Gehrock, der liebend gern seine "Geoästhetik" begründet hätte, durch Wald und Flur stromern. Doch zwischen Kohlenmeilern und Waldweiden drängt sich ein Flakgeschütz in den Blick, ein Lazarettzug voller Verwundeter und Krüppel, das geliebte, im Oktober 1943 zerbombte Kassel.
Die Gefahr, im engmaschigen Überwachungsnetz der Diktatur hängenzubleiben, wächst täglich. Als Wense seine Papiere aus der Universitätsbibliothek räumen muss und die Mappen beim Umzug einem Blockwart vor die Nase fliegen, stockt das Herz: Der Hobbyastrologe hat auch Hitlers unfreundliches Horoskop archiviert. In diesen Zeiten sind andere schon für weniger weggesperrt worden. "Wer überleben will, muss ungenießbar sein", meint Wense mit Blick auf Heckenrose, Schlehe und Disteln.
Eindrücklich die Szenen, die Wenses Arbeit in den Physikalischen Werkstätten schildern. Seiner Korrektheit wegen hat er es auch als Ungelernter zum Leiter einer Abteilung gebracht, die Eichkurven der Radiosonden zur Temperaturmessung in großen Höhen kontrolliert. Wir erleben Wense als widersprüchliche Figur: Eigentlich loyal gegenüber den ihm unterstellten Zwangsarbeitern, meldet er die Russinnen Nadja und Galina wegen kommunistischer Propaganda. Zum französischen Physiker Roger entwickelt sich eine Freundschaft, wohl auch heimliches Begehren - wie gut, dass Wenses Mutter nicht genauer nachfragt. Der ebenfalls dienstverpflichtete Göttinger Pädagoge Herman Nohl, der nach 1933 noch mit nationalsozialistischem Gedankengut flirtete, erinnert subtil daran, dass der Komplettausstieg aus gesellschaftlichen Zwängen kaum möglich ist: Klebt nicht an den regelmäßigen Zuwendungen, die Wense von der Nichte des Reeders Adolph Woermann bezieht, das Blut der Hereros? Zu alldem kommen Hunger, Krankheit, Schinderei bei der "Stadtwacht", einer paramilitärischen Volkssturmtruppe, die Schützengräben für den Endkampf ausheben muss. "Als er schließlich zuhause in seinem Zimmer ist, kommt er sich wie eine Sonde vor: mit pulsierenden Schmerzen als Morsezeichen. Ihm fehlt bloß noch die Formel, um die Geschwindigkeit zu errechnen, mit der er sich von sich selbst entfernt."
Glücklicherweise baut Christian Schulteisz, der bislang Kurzhörspiele und dramatische Texte veröffentlicht hat, nicht den spätexpressionistisch-ekstatischen und manchmal etwas nervenden O-Ton Wenses nach. Für sein nur gut 120 Seiten umfassendes, aber sorgfältig durchkomponiertes Romandebüt findet er stattdessen eine eigene Sprache; die Hörspielerfahrung kommt ihm hier zweifellos zupass. Wie sein Protagonist, der nur gelegentlich innehalten kann, um "seinem forteilenden Geist hinterherzusehen", ist der Text in ständiger Bewegung. Mit wenigen Strichen evoziert Schulteisz eine Atmosphäre der Bedrohung; wenn Wense "mit vorgestreckter Aktentasche" einen Zug entert, hüpfen mitreisende Damen schon mal beiseite "als wärs ein Messer".
Daneben, immer wieder, großartige Naturschilderungen, etwa wenn Wense hungrig durch dunklen Tann stapft: "Der Wald liegt dampfend da wie frisch gekochtes Gemüse, Prellsteine im Nebel wie heiße Kartoffeln, der Teich ein Teller Suppe mit eingebrocktem Mond. Nur das Fleisch, die Enten fehlen." Ein Mond, der wie vieles in diesem Buch schwer an Arno Schmidt erinnert, aber vielleicht ist man durch all die Messtischblätter und Zettel-Kästen auf diesen Trip gekommen?
Wie Schmidt kann Schulteisz auch sehr lustig sein, bis an die Slapstick-Grenze: Grandios, wie sich Wense, auf der verzweifelten Suche nach seinem Dackel, völlig gehen lässt und purzelbaumschlagend vor die Füße eines bierernsten Volksgenossen rollt. Uns Lesern bleibt "Wense" nachhaltig als Skizze eines existentiell Gefährdeten im Sinn, der es wohl auch in heutigen Zeiten stetiger Selbstoptimierung nicht leicht hätte: "Er steht am Rand, wie er immer steht, immer auf der Kippe."
NILS KAHLEFENDT.
Christian Schulteisz: "Wense". Roman.
Berenberg Verlag, Berlin 2020. 128 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Freies Denken in der Diktatur und Hitlers miserables Horoskop: Christian Schulteisz erzählt in seinem Debütroman vom Naturphilosophen Hans Jürgen von der Wense
"Wenn ich sterbe, ist die Welt in meinem Zimmer", schreibt der Musiker, Schriftsteller und Naturphilosoph Hans Jürgen von der Wense (1894 bis 1966) zehn Jahre vor seinem Tod. Zu Lebzeiten veröffentlicht der exzentrische Geist kaum fünfzig Seiten. Das Gros seines Mammutwerks landete im Nachlass: Rund 30 000 beidseitig beschriebene Blätter, vierzig Tagebücher, zahlreiche Kompositionen, Collagen, dreitausend Kleinbildfotografien und Hunderte Briefe. 1932, ein Jahr vor der "Machtergreifung" der Nationalsozialisten, beginnt Wense, ausgerüstet mit Zeiss-Kamerabox und Messtischblättern, Deutschlands Mitte zu erwandern und zu erforschen. 42 000 Kilometer, also einmal rund um den Globus, will er so zwischen Kaufunger Wald, Habichtswald und Eichsfeld zurückgelegt haben.
Wense lebt ohne festen Wohnsitz, als Untermieter in möblierten Zimmern. Er gilt als Sonderling, seine Zuneigung zu jungen Männern wird argwöhnisch beäugt. Zu allem Überfluss collagiert er heimlich den Ungeist der Zeiten im Fokus der geifernden Lokalpresse: eine LTI, selbstgebastelt mit Schere und Leimtopf. 1941 zieht er, angezogen von der Universitätsbibliothek Georgia Augusta, nach Göttingen. 1943 wird er zum Arbeitsdienst in den Physikalischen Werkstätten verpflichtet; die kriegswichtige Firma stellt Radiosonden für die militärische Wettervorhersage her. Die Einschläge kommen näher.
Genau in dieser Spannung zwischen der totalen Kriegsrealität des NS-Staates, die immer stärker alle Alltagsbereiche der Bevölkerung durchdringt, und Wenses staunend-zweckfreiem Blick auf die Welt entwickelt der 1985 geborene Christian Schulteisz seinen Roman. In short cuts, aneinandergereiht in dreizehn Kapiteln, kondensiert er biographische Motive aus Wenses Leben in den Jahren 1943/44. Wie überlebt ein freier musischer Geist, für den Karten "Partituren der Landschaft" sind, in einer Zeit, als es vorrangig "um Nutzflächen und Befahrbarkeit, um Hindernisse und Deckung, ums Einkesseln und Abriegeln" geht und Orientierung zur "soldatischen Pflicht" geworden ist? Noch kann der Sonderling im zerschlissenen Gehrock, der liebend gern seine "Geoästhetik" begründet hätte, durch Wald und Flur stromern. Doch zwischen Kohlenmeilern und Waldweiden drängt sich ein Flakgeschütz in den Blick, ein Lazarettzug voller Verwundeter und Krüppel, das geliebte, im Oktober 1943 zerbombte Kassel.
Die Gefahr, im engmaschigen Überwachungsnetz der Diktatur hängenzubleiben, wächst täglich. Als Wense seine Papiere aus der Universitätsbibliothek räumen muss und die Mappen beim Umzug einem Blockwart vor die Nase fliegen, stockt das Herz: Der Hobbyastrologe hat auch Hitlers unfreundliches Horoskop archiviert. In diesen Zeiten sind andere schon für weniger weggesperrt worden. "Wer überleben will, muss ungenießbar sein", meint Wense mit Blick auf Heckenrose, Schlehe und Disteln.
Eindrücklich die Szenen, die Wenses Arbeit in den Physikalischen Werkstätten schildern. Seiner Korrektheit wegen hat er es auch als Ungelernter zum Leiter einer Abteilung gebracht, die Eichkurven der Radiosonden zur Temperaturmessung in großen Höhen kontrolliert. Wir erleben Wense als widersprüchliche Figur: Eigentlich loyal gegenüber den ihm unterstellten Zwangsarbeitern, meldet er die Russinnen Nadja und Galina wegen kommunistischer Propaganda. Zum französischen Physiker Roger entwickelt sich eine Freundschaft, wohl auch heimliches Begehren - wie gut, dass Wenses Mutter nicht genauer nachfragt. Der ebenfalls dienstverpflichtete Göttinger Pädagoge Herman Nohl, der nach 1933 noch mit nationalsozialistischem Gedankengut flirtete, erinnert subtil daran, dass der Komplettausstieg aus gesellschaftlichen Zwängen kaum möglich ist: Klebt nicht an den regelmäßigen Zuwendungen, die Wense von der Nichte des Reeders Adolph Woermann bezieht, das Blut der Hereros? Zu alldem kommen Hunger, Krankheit, Schinderei bei der "Stadtwacht", einer paramilitärischen Volkssturmtruppe, die Schützengräben für den Endkampf ausheben muss. "Als er schließlich zuhause in seinem Zimmer ist, kommt er sich wie eine Sonde vor: mit pulsierenden Schmerzen als Morsezeichen. Ihm fehlt bloß noch die Formel, um die Geschwindigkeit zu errechnen, mit der er sich von sich selbst entfernt."
Glücklicherweise baut Christian Schulteisz, der bislang Kurzhörspiele und dramatische Texte veröffentlicht hat, nicht den spätexpressionistisch-ekstatischen und manchmal etwas nervenden O-Ton Wenses nach. Für sein nur gut 120 Seiten umfassendes, aber sorgfältig durchkomponiertes Romandebüt findet er stattdessen eine eigene Sprache; die Hörspielerfahrung kommt ihm hier zweifellos zupass. Wie sein Protagonist, der nur gelegentlich innehalten kann, um "seinem forteilenden Geist hinterherzusehen", ist der Text in ständiger Bewegung. Mit wenigen Strichen evoziert Schulteisz eine Atmosphäre der Bedrohung; wenn Wense "mit vorgestreckter Aktentasche" einen Zug entert, hüpfen mitreisende Damen schon mal beiseite "als wärs ein Messer".
Daneben, immer wieder, großartige Naturschilderungen, etwa wenn Wense hungrig durch dunklen Tann stapft: "Der Wald liegt dampfend da wie frisch gekochtes Gemüse, Prellsteine im Nebel wie heiße Kartoffeln, der Teich ein Teller Suppe mit eingebrocktem Mond. Nur das Fleisch, die Enten fehlen." Ein Mond, der wie vieles in diesem Buch schwer an Arno Schmidt erinnert, aber vielleicht ist man durch all die Messtischblätter und Zettel-Kästen auf diesen Trip gekommen?
Wie Schmidt kann Schulteisz auch sehr lustig sein, bis an die Slapstick-Grenze: Grandios, wie sich Wense, auf der verzweifelten Suche nach seinem Dackel, völlig gehen lässt und purzelbaumschlagend vor die Füße eines bierernsten Volksgenossen rollt. Uns Lesern bleibt "Wense" nachhaltig als Skizze eines existentiell Gefährdeten im Sinn, der es wohl auch in heutigen Zeiten stetiger Selbstoptimierung nicht leicht hätte: "Er steht am Rand, wie er immer steht, immer auf der Kippe."
NILS KAHLEFENDT.
Christian Schulteisz: "Wense". Roman.
Berenberg Verlag, Berlin 2020. 128 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Hans-Peter Kunisch goutiert die Entscheidung von Christian Schulteisz, mit einem Roman über den Schriftsteller, Komponisten und Übersetzer Jürgen von der Wense zu debütieren. Den 1894 in Ostpreußen geborenen Wense, der quer durch Deutschland wanderte, lernt der Kritiker hier als "verschrobenen Einzelgänger" kennen, der sich meist in die Bibliothek zurückzog. Vor allem aber folgt Kunisch Wense durch die vierziger Jahre, die der homosexuelle Schriftsteller als Abteilungsleiter in den Physikalischen Werkstätten in Göttingen und nebenbei mit dem Verfassen von Essays und mit Übersetzertätigkeiten verbrachte. Das notgedrungene Arrangement Wenses mit den Nazis kann Schulteisz dem Rezensenten vermitteln, weshalb jener aber zwei polnische Zwangsarbeiterinnen, die kommunistische Flugblätter verteilten, verriet, versteht Kunisch im Roman nicht. Hier erkennt er ein Problem des Debüts: Schulteisz recherchierte offenbar exakt, Quellenhinweise zum genaueren Verständnis fehlen dem Rezensenten allerdings.
© Perlentaucher Medien GmbH
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