Werner Tübke teilte seine Selbstbefragung in einer Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs mit dem Kunstkritiker Eduard Beaucamp. Die Briefe an den Freund sind zeit- und kunstgeschichtliche Fragmente, aber auch als persönliche Konfession zu lesen.Die Kunst Werner Tübkes (1929 -2004) fand ihren stärksten Ausdruck im Bauernkriegspanorama in Bad Frankenhausen. Besondere Einblicke in die Zeit seiner Vollendung eröffnen die Briefe an den befreundeten Kunstkritiker Eduard Beaucamp, die - erstmals insgesamt veröffentlicht - auch persönliche Reaktionen auf die politischen Ereignisse 1989/90 umfassen. Die Frage »Wer bin ich?« ist das Leitmotiv Tübkes, vertrauensvoll enthüllt in einem Klima zunehmend politischer und emotionaler Anfeindung seiner Kunst. Die Briefe bieten eine radikale Infragestellung der eigenen Person. Die existentiellen Suchbewegungen greifen die gesellschaftliche Gegenwart auf, aber überschreiten diese in vielfältigen Bewusstseinsspiegelungen. Essays ergänzen die Briefe Werner Tübkes. Von Eduard Beaucamp selbst eingeleitet erscheinen sie als Bruchstücke einer persönlichen Konfession.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Eckart J. Gillen verfolgt aufmerksam die spannungsreiche Freundschaft zwischen dem FAZ-Kunstkritiker Eduard Beaucamp und dem Leipziger Maler Werner Tübke, nachzulesen in Tübkes Briefen an den Kritiker, in seinen Tagebuchauszügen und in Beaucamps ebenfalls im Band enthaltenen Texten über den Künstler. Wie sich Arroganz und Missverständnis in Interesse und schließlich in jahrzehntelange Beziehung und Begleitung verwandeln, liest sich für Gillen ebenso aufschlussreich wie die Etappen der künstlerischen Entwicklung Tübkes vom neuen Realisten zum Nihilisten.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.01.2022Die neue Kunst wurde doch noch gefunden
Der Maler und sein Leibgardist: Werner Tübkes Briefe an den Kunstkritiker und Freund Eduard Beaucamp
Die im Titel dieses Bandes gestellte Frage "Wer bin ich?" geht zurück auf eine, die der Leipziger Künstler Werner Tübke 1988 dem langjährigen Kunstkritiker dieser Zeitung Eduard Beaucamp stellte: "Also, Eduard, wer bin ich?" Seit der ersten Begegnung des renommierten Kritikers mit dem Künstler 1968 in Leipzig hatte sich da in weniger als zwei Jahrzehnten eine ungewöhnlich große Vertrautheit entwickelt. Beaucamp war bald für den scheuen, in sich zurückgezogenen Maler zum treuen "Leibgardisten" geworden, der dessen Arbeiten mit Leidenschaft begleitete: in Artikeln, Eröffnungsreden, mit einer Monografie über das Leipziger Universitätswandbild "Arbeiterklasse und Intelligenz", bis hin zu einer Totenrede. Beaucamp ist auch einer der Herausgeber von Tübkes Tagebüchern, die unter dem Titel "Mein Herz empfindet optisch" erschienen sind (F.A.Z. vom 13. Oktober 2017.
Die Geschichte dieser Annäherung inmitten des Kalten Krieges wird in dem vorliegenden Band in Texten von Beaucamp über Tübke und vor allem in den siebzehn Briefen des Malers an seinen Kritikerfreund, von dem leider nur ein Antwortschreiben verfügbar war, erzählt. Zwei sachkundige Essays der Herausgeber über die Tagebücher und die Selbstporträts des Künstlers schließen den Band ab.
Freimütig erinnert sich Beaucamp an die anfängliche "Arroganz des westdeutschen Kunstkritikers", der sich überzeugt zeigte, dass die Ästhetik sich "heute im ironischen Recycling der Pop-Art und im Design" erfülle. Nach seinem ersten Besuch in der DDR im Jahr 1966 hatte er noch festgestellt: "Weder das neue Menschenbild noch die neue Kunst wurde gefunden." Doch zwei Jahre später überraschte ihn das erste Treffen im Wohnatelier von Tübke und weckte erstmals seine Neugier auf die Kunst der Leipziger Schule. Ihm begegnete eine ungewöhnliche Erscheinung im "weißen Kittel eines Architekten oder Laboranten, dazu auf dem Kopf ein exotisches, usbekisches Käppchen . . . Er wirkte streng, distanziert, skeptisch, ein wenig hochmütig und ironisch, aber auch sehr verletzlich."
In seinem Bericht nach Frankfurt spricht Beaucamp von der Entdeckung eines "neuen phantastischen Realismus, der von wenigen hochbegabten und bis zur Krankhaftigkeit sensiblen Künstlern vertreten wird. Sie ziehen sich in altmeisterliche Stile zurück, die für sie nicht nur Vorwand zur virtuosen formalen Entfaltung sind, sondern auch ein vielschichtiges Medium für Anspielungen, hintergründige Reflexionen und Erfahrungen bieten." Gemeint war natürlich Tübke, der darum gebeten hatte, seinen Namen nicht zu nennen, weil er selbst damals zu den umstrittenen Künstlern der späten Ulbricht-Jahre zählte.
Diese Wandlung des der westlichen Moderne müden Saulus in einen Paulus des neuen Leipziger Realismus folgt tatsächlich einer postmodernen Logik. Nach der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges galt die Abstraktion, das gegenstandslose Bild, als Königsweg und Gipfel der Moderne. Mit dem Zusammenbruch dieser Konstruktion Ende der Fünfzigerjahre ergaben sich dann auch Möglichkeiten für Rückgriffe und retrospektive Stile. Der konservative Soziologe Arnold Gehlen schrieb 1965: "Die Abstraktion . . . hatte ein Maximum an Bewegungsfreiheit und Experiment erreicht, und zwar auf dem Minimum des geistigen Anspruchs; schließlich balancierte das riesige Gebäude . . . wie eine umgekehrte Pyramide nur noch auf der Sensibilität der Netzhäute. Jetzt mußte es kippen."
Nachdem Beaucamps enthusiastische Berichterstattung zur Rehabilitierung des umstrittenen Künstlers in der DDR und zu seiner internationalen Anerkennung in den Siebzigerjahren nicht unerheblich beigetragen hatte, entwickelte sich seine Begleitung der mehr als zwölfjährigen Arbeit am großen Bauernkriegspanorama in Bad Frankenhausen zum Höhepunkt der Verbundenheit mit dem Maler.
In Beaucamps Texten kommt beklemmend zum Ausdruck, dass es aus Tübkes apokalyptischen Marionettentheater eines unsichtbaren Spielers kein Entrinnen gibt. Tübke ersetzte das innerweltliche Erlösungsmodell des Sozialismus durch die fatalistische Vorstellung einer sinnlos gewordenen Geschichte, die sich im Kreise dreht. Nach Abschluss des Panoramas, mit dem sich der untergehende Staat unfreiwillig sein eigenes Mausoleum errichtete, wollte der atheistische Künstler 1988 vom Kritiker aus dem Westen wissen: "Religiosität, Gottlosigkeit, wo ist eigentlich der Quell dieses Zeichners?"
Als in den westdeutschen Feuilletons Anfang der Neunzigerjahre der deutsch-deutsche Bilderstreit losbrach, blieb das nicht ohne Folgen für den höchst irritierten Tübke. In einem Brief an Beaucamp von 1995 findet sich die Wendung: "Was Du schreibst ist wunderbar formuliert. Aber es ist völlig falsch. Dein alter Malerfreund denkt an nichts." ECKHART J. GILLEN
Werner Tübke: "Wer bin ich?" Briefe an einen Freund. Mit Essays von Eduard Beaucamp und Golo Mann.
Hrsg. von M. Bormuth und A. Michalski. Wallstein Verlag, Göttingen 2021. 224 S., Abb., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Maler und sein Leibgardist: Werner Tübkes Briefe an den Kunstkritiker und Freund Eduard Beaucamp
Die im Titel dieses Bandes gestellte Frage "Wer bin ich?" geht zurück auf eine, die der Leipziger Künstler Werner Tübke 1988 dem langjährigen Kunstkritiker dieser Zeitung Eduard Beaucamp stellte: "Also, Eduard, wer bin ich?" Seit der ersten Begegnung des renommierten Kritikers mit dem Künstler 1968 in Leipzig hatte sich da in weniger als zwei Jahrzehnten eine ungewöhnlich große Vertrautheit entwickelt. Beaucamp war bald für den scheuen, in sich zurückgezogenen Maler zum treuen "Leibgardisten" geworden, der dessen Arbeiten mit Leidenschaft begleitete: in Artikeln, Eröffnungsreden, mit einer Monografie über das Leipziger Universitätswandbild "Arbeiterklasse und Intelligenz", bis hin zu einer Totenrede. Beaucamp ist auch einer der Herausgeber von Tübkes Tagebüchern, die unter dem Titel "Mein Herz empfindet optisch" erschienen sind (F.A.Z. vom 13. Oktober 2017.
Die Geschichte dieser Annäherung inmitten des Kalten Krieges wird in dem vorliegenden Band in Texten von Beaucamp über Tübke und vor allem in den siebzehn Briefen des Malers an seinen Kritikerfreund, von dem leider nur ein Antwortschreiben verfügbar war, erzählt. Zwei sachkundige Essays der Herausgeber über die Tagebücher und die Selbstporträts des Künstlers schließen den Band ab.
Freimütig erinnert sich Beaucamp an die anfängliche "Arroganz des westdeutschen Kunstkritikers", der sich überzeugt zeigte, dass die Ästhetik sich "heute im ironischen Recycling der Pop-Art und im Design" erfülle. Nach seinem ersten Besuch in der DDR im Jahr 1966 hatte er noch festgestellt: "Weder das neue Menschenbild noch die neue Kunst wurde gefunden." Doch zwei Jahre später überraschte ihn das erste Treffen im Wohnatelier von Tübke und weckte erstmals seine Neugier auf die Kunst der Leipziger Schule. Ihm begegnete eine ungewöhnliche Erscheinung im "weißen Kittel eines Architekten oder Laboranten, dazu auf dem Kopf ein exotisches, usbekisches Käppchen . . . Er wirkte streng, distanziert, skeptisch, ein wenig hochmütig und ironisch, aber auch sehr verletzlich."
In seinem Bericht nach Frankfurt spricht Beaucamp von der Entdeckung eines "neuen phantastischen Realismus, der von wenigen hochbegabten und bis zur Krankhaftigkeit sensiblen Künstlern vertreten wird. Sie ziehen sich in altmeisterliche Stile zurück, die für sie nicht nur Vorwand zur virtuosen formalen Entfaltung sind, sondern auch ein vielschichtiges Medium für Anspielungen, hintergründige Reflexionen und Erfahrungen bieten." Gemeint war natürlich Tübke, der darum gebeten hatte, seinen Namen nicht zu nennen, weil er selbst damals zu den umstrittenen Künstlern der späten Ulbricht-Jahre zählte.
Diese Wandlung des der westlichen Moderne müden Saulus in einen Paulus des neuen Leipziger Realismus folgt tatsächlich einer postmodernen Logik. Nach der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges galt die Abstraktion, das gegenstandslose Bild, als Königsweg und Gipfel der Moderne. Mit dem Zusammenbruch dieser Konstruktion Ende der Fünfzigerjahre ergaben sich dann auch Möglichkeiten für Rückgriffe und retrospektive Stile. Der konservative Soziologe Arnold Gehlen schrieb 1965: "Die Abstraktion . . . hatte ein Maximum an Bewegungsfreiheit und Experiment erreicht, und zwar auf dem Minimum des geistigen Anspruchs; schließlich balancierte das riesige Gebäude . . . wie eine umgekehrte Pyramide nur noch auf der Sensibilität der Netzhäute. Jetzt mußte es kippen."
Nachdem Beaucamps enthusiastische Berichterstattung zur Rehabilitierung des umstrittenen Künstlers in der DDR und zu seiner internationalen Anerkennung in den Siebzigerjahren nicht unerheblich beigetragen hatte, entwickelte sich seine Begleitung der mehr als zwölfjährigen Arbeit am großen Bauernkriegspanorama in Bad Frankenhausen zum Höhepunkt der Verbundenheit mit dem Maler.
In Beaucamps Texten kommt beklemmend zum Ausdruck, dass es aus Tübkes apokalyptischen Marionettentheater eines unsichtbaren Spielers kein Entrinnen gibt. Tübke ersetzte das innerweltliche Erlösungsmodell des Sozialismus durch die fatalistische Vorstellung einer sinnlos gewordenen Geschichte, die sich im Kreise dreht. Nach Abschluss des Panoramas, mit dem sich der untergehende Staat unfreiwillig sein eigenes Mausoleum errichtete, wollte der atheistische Künstler 1988 vom Kritiker aus dem Westen wissen: "Religiosität, Gottlosigkeit, wo ist eigentlich der Quell dieses Zeichners?"
Als in den westdeutschen Feuilletons Anfang der Neunzigerjahre der deutsch-deutsche Bilderstreit losbrach, blieb das nicht ohne Folgen für den höchst irritierten Tübke. In einem Brief an Beaucamp von 1995 findet sich die Wendung: "Was Du schreibst ist wunderbar formuliert. Aber es ist völlig falsch. Dein alter Malerfreund denkt an nichts." ECKHART J. GILLEN
Werner Tübke: "Wer bin ich?" Briefe an einen Freund. Mit Essays von Eduard Beaucamp und Golo Mann.
Hrsg. von M. Bormuth und A. Michalski. Wallstein Verlag, Göttingen 2021. 224 S., Abb., geb., 22,- Euro.
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»Ein Buch wie eine Flaschenpost, unter dem Titel 'Wer bin ich?' in die Gegenwart gespült.« (Christian Eger, Mitteldeutsche Zeitung, 12.11.2021) »Als Auftakt ein wunderbar, spannend und romantisch zu lesender Essay von Eduard Beaucamp.« (Ulrike Thielmann, MDR Kultur, 12.10.2021)