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Pünktlich zur Jahrtausendwende haben Zukunftsvisionen Hochkonjunktur, Hoffnungen auf eine neue Weltära ebenso wie apokalyptische Untergangsvisionen. Reine "Zeit"- Verschwendung, sagt der Historiker Dr. Heribert Illig, der spätestens seit seinem Bestseller "Das erfundene Mittelalter" einem großen Publikum bekannt ist. In seinem neuen Buch ist er zahllosen Widersprüchen und Fälschungen der Geschichtsschreibung auf den Grund gegangen und kommt zu einem ebenso abenteuerlichen wie stichhaltigen Fazit: Fast 300 "erfundene" Jahre wurden nachträglich in unseren Kalender eingefügt, und wenn die…mehr

Produktbeschreibung
Pünktlich zur Jahrtausendwende haben Zukunftsvisionen Hochkonjunktur, Hoffnungen auf eine neue Weltära ebenso wie apokalyptische Untergangsvisionen. Reine "Zeit"- Verschwendung, sagt der Historiker Dr. Heribert Illig, der spätestens seit seinem Bestseller "Das erfundene Mittelalter" einem großen Publikum bekannt ist. In seinem neuen Buch ist er zahllosen Widersprüchen und Fälschungen der Geschichtsschreibung auf den Grund gegangen und kommt zu einem ebenso abenteuerlichen wie stichhaltigen Fazit: Fast 300 "erfundene" Jahre wurden nachträglich in unseren Kalender eingefügt, und wenn die Sektkorken für die große Zeitwende knallen, befinden wir uns eigentlich erst im Jahre 1703 n. Chr.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.02.2000

Seltene Münzen sind nur selten, wenn sie selten sind
Neues aus der Fälscherwerkstatt: Mit dem numismatischen Befund hat Heribert Illig nicht gerechnet

Das schwarze Loch von fast drei Jahrhunderten, das Heribert Illig in unserem historischen Universum entdeckt hat, gähnt weiter. Wer bis jetzt konsterniert diesen Abgrund bestaunte, kann sich jetzt sagen lassen, von wem er gegraben wurde. Bisher lag der Schwerpunkt von Illigs Bemühungen bei Karl dem Großen: Der Mann und sein Umkreis seien viel zu innovativ, um glaubhaft zu sein; die Schrifturkunden der Zeit seien Falsifikate, die Aachener Pfalzkapelle, Karls bedeutendstes Baudenkmal, sei rund 200 Jahre zu früh datiert. Soweit Illigs Bestseller "Das erfundene Mittelalter" (F.A.Z. vom 1. Oktober 1996). 297 Jahre Geschichte - eine Phantomzeit.

In seinem neuen Buch fügt Illig zunächst chronologische Argumente hinzu. Papst Gregor XIII. hätte bei seiner Kalenderreform von 1582 dreizehn Tage streichen müssen, um den seit Cäsar summierten Vorlauf des julianischen Kalenders gegenüber dem siderischen Jahr zu kompensieren - doch zehn Tage reichten aus. Das lag nach Illig nicht daran, dass das Konzil von Nicäa im Jahr 325 mit der Festlegung des Frühlingspunktes auf den 21. (statt 24.) März bereits eine Vorkorrektur verfügt hatte, sondern weil auf das Jahr 614 unmittelbar das Jahr 911 gefolgt sei. Die dazwischen hineingefälschte Zeit bedurfte keiner Kalender-Berichtigung.

Jetzt macht Illig die Anstifter dieses Einschubes dingfest: im Westen den Sachsenkaiser Otto III. (886 bis 1002), der sich mit Hilfe seines gelehrten Freundes, des Papstes Silvester II., durch den Zeitensprung zum Endkaiser des Millenniums "hochstilisieren" wollte, in Byzanz Kaiser Konstantin der Siebte Prophyrogennetos (913 bis 959). Dieser, vielleicht ein Sohn des blutrünstigen Usurpators Phokdas (602 bis 610), habe lange Jahre erzwungener Muße genutzt, um seine Vorfahren, die glorreiche makedonische Dynastie, zu erdichten. Auf Grund der gleichzeitigen Einführung neuer Zeitrechnungen, im Abendland die nach Christi Geburt, im Osten die griechische Weltära, fiel der künstliche Zeitsprung den Zeitgenossen kaum auf. Da die Geschichte Europas mit der des nahen Orients verzahnt ist, werden auch dort drei Jahrhunderte eingespart. Dabei fallen Entstehung und Expansion des Islam ins schwarze Loch. Das führt Illig zu erstaunlichen Spekulationen. Die Perserfeldzüge des großen Kaisers Herakleios (614 bis 642) sind Erfindung. Seine Gegner, die persischen Sassaniden, die tatsächlich zwischen 611 und 619 Syrien und Ägypten erobert haben, befreunden sich dort mit dem Koran und lernen Arabisch, sind 911 (über den Zeitsprung hinweg) in Libyen und 920 in Spanien. Die vier ersten Kalifen, die Omaijaden in Syrien und Spanien, die Abbassiden in Bagdad mit Harun al Raschid - alles Fiktion.

Diese Enthüllungskampagne bietet viel Kurzweil. Kunstvoll jongliert Illig mit den Knifflichkeiten von Komputistik und Chronologie. In vielen Streitfragen der Mediävistik kennt er sich aus. Jede Unstimmigkeit der Quellen, jeder Widerspruch in der Überlieferung und namentlich der Sekundärliteratur (davon gibt es natürlich die Fülle), jede ungewöhnliche Leistung in der Zeit von 614 bis 911 wird für ihn zum Beleg für deren Nichtexistenz. Beda Venerabilis (675 bis 735)? - viel zu kenntnisreich für das achte Jahrhundert. Die quadergefügten, gewölbten Kirchen Asturiens? Trotz einer Bauinschrift König Reccesvinths von 661 in Baos fehldatiert. Die Wikingerstürme im Abendland, Alfred der Große, das Reich der Charzaren - alles zu streichen.

Um die These richtig zu würdigen, muss man sich in die Rolle der Fälscher versetzen. Was musste die Hofkapelle des blutjungen Otto III., was mussten Konstantin VII. und seine Helfer alles zurechtschreiben, wie viele fremde Herrscher und Gelehrte mussten sie dazu bringen, dasselbe zu tun? Zehntausende von Schriftzeugnissen mussten erfunden und aufeinander abgestimmt werden. Das waren nicht nur Herrscherurkunden, von denen wir wenig Originale haben, sondern alle Geschichtswerke, Heiligenviten, Annalen. Es durfte ja keine einzige Chronik übrig bleiben, in der die Ereignisse um 911 direkt auf die von 614 folgten.

Ein Beispiel: Das Ringen um die mediterrane Seeherrschaft und die arabische Eroberung Siziliens von 827 bis 902 sind aus byzantinischen, abendländischen und arabischen Quellen zugleich belegt; alles greift ineinander. Also musste auch noch die arabische Historiographie der Epoche, weit reichhaltiger als die griechische und lateinische, erfunden werden. Die großen Geschichtswerke des Tabari (gestorben 923), Masudi (gestorben 956) und des Kopten Eutychius (gestorben 940) waren zu fälschen. Und weiter: Ganze Korrespondenzen, eine weitläufige theologische Streitliteratur, etwa Karls des Großen Libri Carolini, der ganze Bilderstreit mit seinen Konzilsbeschlüssen, die christologischen Debatten in Ost und West mussten in Latein und Griechisch bezeugt werden. Und es musste mehr als die Hälfte unseres lateinischen Erbes aus der Antike in karolingischer Schreibweise zu Pergament gebracht werden! Wie weit mussten der Blick, der Einfluss, die Sprachkenntnisse des Fälscherrings reichen! Denn auch in den christlichen Außenräumen gab es historisches Schrifttum; man musste irische, georgische und armenische Quellen fabrizieren, in Sprache und Stil der erfundenen Zeit. Nicht zu vergessen die angelsächsische Chronistik und Dichtung. Was eigentlich sollte all diese fremden Federn samt den arabischen Schulen von Bagdad bis Córdoba veranlasst haben, an diesem universalen Verwirrspiel mitzuwirken?

Immer wieder führt Heribert Illig Bau- und Bodenzeugnisse gegen Schriftquellen an. So kann man mit Baudenkmälern des frühen Mittelalters trefflich streiten, denn sie sind selten in Stein datiert. Wie steht es da mit den Münzfunden? Von den zwanzig byzantinischen Kaisern der 297 Jahre kennen wir mehr als 600 verschiedene Prägungen. Auf jeder von ihnen sind Kaisernamen und -jahr und eine der dreizehn oströmischen Münzstätten von Karthago bis Konstantinopel, von Alexandrien bis Ravenna zu lesen. Abertausende Exemplare davon waren herzustellen und im ganzen Mittelmeerraum zu verteilen, und zwar mehr Prägungen von Antiochia in Syrien, mehr aus Rom in Unteritalien und so weiter. Auch die - schmalere - abendländische und die gesamte arabische Numismatik dieser Zeit musste ersonnen, geprägt und ausgestreut werden. Vor dieser Aufgabe wäre wohl selbst ein Bündnis von KGB, CIA und Konrad Kujau verzagt. Dagegen Heribert Illig: "Wir haben gesehen, dass es relativ einfach war, die Uhr vorzustellen, wenn die beiden großen weltlichen Herrscher (Otto III. und Konstantin VII.) und der Papst dahinter standen."

EKKEHARD EICKHOFF

Heribert Illig: "Wer hat an der Uhr gedreht?" Wie 300 Jahre Geschichte erfunden wurden. Econ & List Taschenbuchverlag, Düsseldorf 1999. 286 S., Abb., br., 17,90 DM.

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