Deutschland und Europa - ein herausragendes, kluges Buch zu einem der dringlichsten Themen unserer Zeit. Vom Spiegel-Bestsellerautor Andreas Rödder, der zu den bedeutendsten deutschen Historikern zählt.
Deutschland steckt in einem Dilemma. Allenthalben wird erwartet, dass es politische Führung übernimmt. Doch wenn es dies tut, ist der Vorwurf der deutschen Dominanz vorprogrammiert. Der renommierte Historiker Andreas Rödder erzählt die Geschichte, die dahintersteht: die Geschichte der »deutschen Stärke« in Europa, die alle Katastrophen des 20. Jahrhunderts überlebt hat, die Geschichte deutscher Selbstbilder als Kulturnation und die Geschichte der vielen zwiespältigen Gefühle der Nachbarn gegenüber Deutschland - die bis heute immer wieder präsent sind.
Wie kann Deutschland mit diesen Ambivalenzen umgehen? Wie lassen sich deutsche Stärke und europäisches Gemeinwohl vereinbaren? Und wie kann Deutschland zu einem starken Europa beitragen?
Mit seinem brillanten Blickin die Geschichte erklärt Andreas Rödder überzeugend auch das aktuelle Dilemma Deutschlands in Europa - und entwickelt Vorschläge, wie das Problem zu lösen ist. Ein großer politischer Essay, ein gewichtiger Beitrag zu einer höchst kontroversen Debatte.
Deutschland steckt in einem Dilemma. Allenthalben wird erwartet, dass es politische Führung übernimmt. Doch wenn es dies tut, ist der Vorwurf der deutschen Dominanz vorprogrammiert. Der renommierte Historiker Andreas Rödder erzählt die Geschichte, die dahintersteht: die Geschichte der »deutschen Stärke« in Europa, die alle Katastrophen des 20. Jahrhunderts überlebt hat, die Geschichte deutscher Selbstbilder als Kulturnation und die Geschichte der vielen zwiespältigen Gefühle der Nachbarn gegenüber Deutschland - die bis heute immer wieder präsent sind.
Wie kann Deutschland mit diesen Ambivalenzen umgehen? Wie lassen sich deutsche Stärke und europäisches Gemeinwohl vereinbaren? Und wie kann Deutschland zu einem starken Europa beitragen?
Mit seinem brillanten Blickin die Geschichte erklärt Andreas Rödder überzeugend auch das aktuelle Dilemma Deutschlands in Europa - und entwickelt Vorschläge, wie das Problem zu lösen ist. Ein großer politischer Essay, ein gewichtiger Beitrag zu einer höchst kontroversen Debatte.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.10.2018Wie soll wohlwollende Führung aussehen?
Europäische Querelen: Andreas Rödder zeigt, wie Selbstbild und Außenwahrnehmung der Deutschen sich unterscheiden, und gibt ein paar Ratschläge.
Von Günther Nonnenmacher
Vor drei Jahren hat Andreas Rödder, Mainzer Ordinarius für neueste Geschichte, mit dem Buch "21.0. Eine kurze Geschichte der Gegenwart" eine vielgelesene Studie vorgelegt, deren Ziel es ganz ausdrücklich war, Anregungen zur Bewältigung der Zukunft zu geben. Sein neues Buch, "Wer hat Angst vor Deutschland?", nennt sich im Untertitel zwar "Geschichte eines europäischen Problems", aber wieder geht es Rödder darum, die (in diesem Fall außenpolitische) Gegenwart zu verstehen und eine Anleitung zu geben, wie die europapolitische Rolle Deutschlands gestaltet werden sollte.
Rödder betritt damit kein Neuland. Die Probleme, welche die berühmt-berüchtigte deutsche "Mittellage" zusammen mit Deutschlands Größe und Macht aufwirft, sind von vielen Historikern und Politologen behandelt worden. Die Originalität von Rödders Ansatz liegt darin, dass er diese Probleme konsequent am Leitfaden der deutschen Selbstbilder und der Fremdwahrnehmung Deutschlands durch seine Nachbarn im Westen (Großbritannien und Frankreich, ab und an auch Griechenland sowie Italien) und im Osten (vornehmlich Polen, von Fall zu Fall Russland) rekonstruiert. Unter der Überschrift "Mehr als ein Jahrhundertproblem" führt Rödder die Leser in die Vorgeschichte ein.
Der entscheidende Einschnitt war zweifellos die Reichsgründung nach dem Deutsch-Französischen Krieg 1870/71. Damals etablierte sich Preußen-Deutschland unter Bismarcks Führung als politisch-militärische Großmacht und als dynamisch wachsende Wirtschaft in der Mitte Europas. Bismarck versuchte die "balance of power" unter Wahrung der deutschen Großmachtstellung mit einem Geflecht von außenpolitischen Verträgen abzusichern. Doch deren Kompliziertheit und innere Widersprüchlichkeit führten schon zu seinen Zeiten als Kanzler zu Krisen, unter seinen weniger virtuosen Nachfolgern brach das System dann zusammen.
Daran war nicht zuletzt die Rhetorik vom "Platz an der Sonne" (Reichskanzler von Bülow 1897) schuld, die unter dem forschen jungen Kaiser Wilhelm II. um sich griff. Neuere Bücher über den Ersten Weltkrieg haben gezeigt, dass 1914 im Grunde alle europäischen Länder einen Krieg für unvermeidlich hielten. Die Brutalität dieses Krieges und die mit ihm verbundene Propaganda (die Deutschen als "Hunnen") befestigten die Feindbilder im Ausland; im Inland tat dies der von den Deutschen als "Diktat" und Schmach empfundene Friedensvertrag von Versailles.
Die am tiefsten sitzenden Traumata bei den deutschen Nachbarn stammen aber aus der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft. Wie präsent sie fast ein halbes Jahrhundert nach dem Krieg und nach nahezu vierzig Jahren europäischer Integration noch waren, zeigte sich an den Widerständen europäischer Nachbarn gegen die deutsche Vereinigung zwischen 1989 und 1991. Dass die entsprechenden Ängste danach nicht einfach verschwanden, sondern jederzeit aktualisierbar blieben, erwies sich bald: Das begann mit der gespaltenen europäischen Reaktion auf den jugoslawischen Zerfallskrieg und griff dann in der Finanzkrise, bei der Euro-Rettung oder anlässlich der "Flüchtlingskrise" 2015 auf die EU über.
Der Autor beschreibt all dies dicht an den Quellen, und er kommentiert es mit wohltuender Ausgewogenheit, nimmt also die Fremdwahrnehmungen, auch wenn er sie für verfehlt (oder anachronistisch) hält, als Korrektiv der deutschen Selbstbilder ernst: "Stets neigten und neigen die Deutschen dazu, sich selbst als schwächer, harmloser und friedlicher anzusehen, als die anderen dies tun." Das ist, wenn man so will, eine pädagogische Stoßrichtung des Buches.
Doch Rödder will mit ihm mehr. Sein Buch wendet sich an alle, die an Europa-Politik interessiert sind, als deren begeisterte Verfechter oder engagierte Verächter. Zu seinen Einsichten gehört es, dass die Fremdwahrnehmungen oft Projektionen von Selbstbildern sind. Um nur ein Beispiel zu erwähnen: Während viele Franzosen unterstellen, die Deutschen hätten dieselbe ungebrochene Wahrnehmung des Nationalstaats wie sie selbst, denken manche Deutsche umgekehrt, andere Nationen seien genauso wie sie davon überzeugt, der hergebrachte Nationalstaat könne die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts nicht mehr bewältigen.
Rödder will Geschichte nicht nur betreiben, um zu zeigen, "wie es eigentlich gewesen" ist, sondern beharrt auf dem ersten Teil dieses Ranke-Satzes, dass es nämlich zum "Amt" des Historikers gehöre, "die Mitwelt zum Nutzen zukünftiger Jahre zu belehren". So schließt das Buch mit Thesen zur Europa-Politik, die Rödder als Handlungsanweisungen formuliert. Er fordert zunächst "mehr ,Empathie", also die Fähigkeit (und den Willen), die eigene Perspektive nicht absolut zu setzen, sondern Stereotype in Frage zu stellen, etwa "die kooperativen Absichten Deutschlands anzuerkennen, ohne ständig finstere deutsche Vormachtambitionen zu unterstellen".
Da wundert man sich ein wenig: Zeigt Rödder im historischen Teil seines Buches nicht gerade, weshalb diese Stereotype so tief verwurzelt sind, dass sie bis heute nachwirken? Und was heißt das im politischen Geschäft, wenn es etwa darum geht, wie strikt oder locker die Maastricht-Kriterien der Wirtschafts- und Währungsunion ausgelegt werden sollten? Rödder beschreibt in seinen Ausführungen zur Euro-Schulden-Krise, wie die in anderen Ländern verbreitete makroökonomische Sicht der Dinge sich an der ordoliberal geprägten Doktrin stößt, die in Deutschland vorherrscht. Da einen Kompromiss zu finden, der nicht von den einen oder den anderen als Verrat an der reinen Lehre verdammt wird, ist eben nicht nur eine Frage der Empathie, sondern ein Ergebnis politischen Verhandelns - und damit kommt unweigerlich die leidige (Vor-)Machtfrage ins Spiel.
Eine weiterer Ratschlag Rödders heißt, die anderen sollten von Deutschland "nicht erwarten, wozu auch sie selbst nicht bereit wären, nämlich europäische Interessen über die deutschen zu stellen". Das hört sich plausibel an. Aber wie sollte es überhaupt zu europäischen Entscheidungen kommen, wenn nicht alle bereit wären, Kompromisse zu finden, in denen eigene und europäische Interessen aufgehoben sind? Die Aufforderung, die Deutschen sollten mehr in die europäische Ordnung investieren, bezieht Rödder bezeichnenderweise auf die Asyl- und Migrationspolitik, wo er durchaus für großzügige deutsche Finanzierung plädiert. Wie aber lässt sich verhindern, dass andere dies eben nicht als "wohlwollende Führung" ansehen, sondern als eigennützige Lösung für ein selbstverschuldetes deutsches Dilemma?
Rödder plädiert für ein "Europa à la carte" statt der "ever closer union", zu der sich die Europäer in ihren Verträgen bekannt haben. Das läuft darauf hinaus, das bestimmte Integrationsschritte zurückgenommen werden könnten oder zumindest flexibilisiert würden - Rödder erwähnt ausdrücklich die Möglichkeit, aus der Währungsunion auszutreten. Das umgeht die eigentliche Frage: Soll ein Mitglied auch ausgeschlossen werden können, und wenn ja, mit welcher Mehrheit? Unter Flexibilität versteht Rödder, dass die EU künftig eine "Integration unterschiedlicher Dichte" akzeptieren sollte, was ja in der Währungsunion oder im Schengen-Vertrag heute schon praktiziert wird. Konzepte dafür und Reden darüber gibt es schon lange; daraus geworden ist nicht viel.
Der Autor ist viel zu versiert, um nicht zu wissen, warum das so ist. Da gibt es die Angst vieler Staaten vor einem Status- oder Prestigeverlust; es gibt aber auch die viel konkretere und realistische Befürchtung, dass man von Integrationsfolgen auch dann betroffen ist, wenn man einen Integrationsschritt nicht mitmacht, damit aber auch die Chance zum Mitentscheiden aufgegeben hat. Im Übrigen zeigen die Brexit-Verhandlungen gerade, welche Schwierigkeiten und Folgen, auch finanzielle, eine Rückabwicklung von Integrationsschritten hätte - und da geht es nur um ein Land, nicht um generelle Flexibilität.
Schließlich plädiert Rödder für eine britisch-deutsch-französische Kooperation als "konstruktive Form der politischen Führung in Europa". Das ist ein alter deutscher Wunsch; erfüllt hat er sich nie, nicht zuletzt weil weder Briten noch Franzosen das wirklich wollen - aus vielerlei Gründen, aber auch wegen ihrer historischen Erfahrungen und Prägungen, die Rödder in seinem Buch so kenntnisreich beschreibt.
Im Grunde ist die EWG/EG/EU eine Konstruktion, in welcher die Verflechtung von Interessen (Integration) das instabile europäische "Gleichgewicht der Mächte" domestiziert oder eingekapselt hat, auch wenn es noch weiter wirkt - bis in die Details von Verhandlungen hinein. Wird das Gewebe der Verflechtungen gelockert, erlebt das Denken in Kategorien der "balance of power" einen Aufschwung. Gerade in Zeiten des Populismus, der alte Stereotype willentlich instrumentalisiert, könnte das fatale Auswirkungen haben.
Alle deutschen Regierungen waren sich der europäischen Dimension des "deutschen Problems" bewusst - von Adenauer bis Merkel. Die deutsche Europa-Politik ist ein Ergebnis dieses Problembewusstseins, eine Lehre, die Deutschland aus seiner europäischen Geschichte gezogen hat. Rödders Vorschläge für eine andere Europa-Politik, die die unerlässliche deutsche Führung europäisch verträglicher machen sollen, sind allesamt nicht neu. Das zeigt, dass es, außer Mahnungen zu Klugheit, Vorsicht und Rücksicht, keinen Königsweg gibt, der aus diesem europäischen Problem herausführen könnte.
Andreas Rödder: "Wer hat Angst vor Deutschland?" Geschichte eines europäischen Problems.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2018. 368 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Europäische Querelen: Andreas Rödder zeigt, wie Selbstbild und Außenwahrnehmung der Deutschen sich unterscheiden, und gibt ein paar Ratschläge.
Von Günther Nonnenmacher
Vor drei Jahren hat Andreas Rödder, Mainzer Ordinarius für neueste Geschichte, mit dem Buch "21.0. Eine kurze Geschichte der Gegenwart" eine vielgelesene Studie vorgelegt, deren Ziel es ganz ausdrücklich war, Anregungen zur Bewältigung der Zukunft zu geben. Sein neues Buch, "Wer hat Angst vor Deutschland?", nennt sich im Untertitel zwar "Geschichte eines europäischen Problems", aber wieder geht es Rödder darum, die (in diesem Fall außenpolitische) Gegenwart zu verstehen und eine Anleitung zu geben, wie die europapolitische Rolle Deutschlands gestaltet werden sollte.
Rödder betritt damit kein Neuland. Die Probleme, welche die berühmt-berüchtigte deutsche "Mittellage" zusammen mit Deutschlands Größe und Macht aufwirft, sind von vielen Historikern und Politologen behandelt worden. Die Originalität von Rödders Ansatz liegt darin, dass er diese Probleme konsequent am Leitfaden der deutschen Selbstbilder und der Fremdwahrnehmung Deutschlands durch seine Nachbarn im Westen (Großbritannien und Frankreich, ab und an auch Griechenland sowie Italien) und im Osten (vornehmlich Polen, von Fall zu Fall Russland) rekonstruiert. Unter der Überschrift "Mehr als ein Jahrhundertproblem" führt Rödder die Leser in die Vorgeschichte ein.
Der entscheidende Einschnitt war zweifellos die Reichsgründung nach dem Deutsch-Französischen Krieg 1870/71. Damals etablierte sich Preußen-Deutschland unter Bismarcks Führung als politisch-militärische Großmacht und als dynamisch wachsende Wirtschaft in der Mitte Europas. Bismarck versuchte die "balance of power" unter Wahrung der deutschen Großmachtstellung mit einem Geflecht von außenpolitischen Verträgen abzusichern. Doch deren Kompliziertheit und innere Widersprüchlichkeit führten schon zu seinen Zeiten als Kanzler zu Krisen, unter seinen weniger virtuosen Nachfolgern brach das System dann zusammen.
Daran war nicht zuletzt die Rhetorik vom "Platz an der Sonne" (Reichskanzler von Bülow 1897) schuld, die unter dem forschen jungen Kaiser Wilhelm II. um sich griff. Neuere Bücher über den Ersten Weltkrieg haben gezeigt, dass 1914 im Grunde alle europäischen Länder einen Krieg für unvermeidlich hielten. Die Brutalität dieses Krieges und die mit ihm verbundene Propaganda (die Deutschen als "Hunnen") befestigten die Feindbilder im Ausland; im Inland tat dies der von den Deutschen als "Diktat" und Schmach empfundene Friedensvertrag von Versailles.
Die am tiefsten sitzenden Traumata bei den deutschen Nachbarn stammen aber aus der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft. Wie präsent sie fast ein halbes Jahrhundert nach dem Krieg und nach nahezu vierzig Jahren europäischer Integration noch waren, zeigte sich an den Widerständen europäischer Nachbarn gegen die deutsche Vereinigung zwischen 1989 und 1991. Dass die entsprechenden Ängste danach nicht einfach verschwanden, sondern jederzeit aktualisierbar blieben, erwies sich bald: Das begann mit der gespaltenen europäischen Reaktion auf den jugoslawischen Zerfallskrieg und griff dann in der Finanzkrise, bei der Euro-Rettung oder anlässlich der "Flüchtlingskrise" 2015 auf die EU über.
Der Autor beschreibt all dies dicht an den Quellen, und er kommentiert es mit wohltuender Ausgewogenheit, nimmt also die Fremdwahrnehmungen, auch wenn er sie für verfehlt (oder anachronistisch) hält, als Korrektiv der deutschen Selbstbilder ernst: "Stets neigten und neigen die Deutschen dazu, sich selbst als schwächer, harmloser und friedlicher anzusehen, als die anderen dies tun." Das ist, wenn man so will, eine pädagogische Stoßrichtung des Buches.
Doch Rödder will mit ihm mehr. Sein Buch wendet sich an alle, die an Europa-Politik interessiert sind, als deren begeisterte Verfechter oder engagierte Verächter. Zu seinen Einsichten gehört es, dass die Fremdwahrnehmungen oft Projektionen von Selbstbildern sind. Um nur ein Beispiel zu erwähnen: Während viele Franzosen unterstellen, die Deutschen hätten dieselbe ungebrochene Wahrnehmung des Nationalstaats wie sie selbst, denken manche Deutsche umgekehrt, andere Nationen seien genauso wie sie davon überzeugt, der hergebrachte Nationalstaat könne die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts nicht mehr bewältigen.
Rödder will Geschichte nicht nur betreiben, um zu zeigen, "wie es eigentlich gewesen" ist, sondern beharrt auf dem ersten Teil dieses Ranke-Satzes, dass es nämlich zum "Amt" des Historikers gehöre, "die Mitwelt zum Nutzen zukünftiger Jahre zu belehren". So schließt das Buch mit Thesen zur Europa-Politik, die Rödder als Handlungsanweisungen formuliert. Er fordert zunächst "mehr ,Empathie", also die Fähigkeit (und den Willen), die eigene Perspektive nicht absolut zu setzen, sondern Stereotype in Frage zu stellen, etwa "die kooperativen Absichten Deutschlands anzuerkennen, ohne ständig finstere deutsche Vormachtambitionen zu unterstellen".
Da wundert man sich ein wenig: Zeigt Rödder im historischen Teil seines Buches nicht gerade, weshalb diese Stereotype so tief verwurzelt sind, dass sie bis heute nachwirken? Und was heißt das im politischen Geschäft, wenn es etwa darum geht, wie strikt oder locker die Maastricht-Kriterien der Wirtschafts- und Währungsunion ausgelegt werden sollten? Rödder beschreibt in seinen Ausführungen zur Euro-Schulden-Krise, wie die in anderen Ländern verbreitete makroökonomische Sicht der Dinge sich an der ordoliberal geprägten Doktrin stößt, die in Deutschland vorherrscht. Da einen Kompromiss zu finden, der nicht von den einen oder den anderen als Verrat an der reinen Lehre verdammt wird, ist eben nicht nur eine Frage der Empathie, sondern ein Ergebnis politischen Verhandelns - und damit kommt unweigerlich die leidige (Vor-)Machtfrage ins Spiel.
Eine weiterer Ratschlag Rödders heißt, die anderen sollten von Deutschland "nicht erwarten, wozu auch sie selbst nicht bereit wären, nämlich europäische Interessen über die deutschen zu stellen". Das hört sich plausibel an. Aber wie sollte es überhaupt zu europäischen Entscheidungen kommen, wenn nicht alle bereit wären, Kompromisse zu finden, in denen eigene und europäische Interessen aufgehoben sind? Die Aufforderung, die Deutschen sollten mehr in die europäische Ordnung investieren, bezieht Rödder bezeichnenderweise auf die Asyl- und Migrationspolitik, wo er durchaus für großzügige deutsche Finanzierung plädiert. Wie aber lässt sich verhindern, dass andere dies eben nicht als "wohlwollende Führung" ansehen, sondern als eigennützige Lösung für ein selbstverschuldetes deutsches Dilemma?
Rödder plädiert für ein "Europa à la carte" statt der "ever closer union", zu der sich die Europäer in ihren Verträgen bekannt haben. Das läuft darauf hinaus, das bestimmte Integrationsschritte zurückgenommen werden könnten oder zumindest flexibilisiert würden - Rödder erwähnt ausdrücklich die Möglichkeit, aus der Währungsunion auszutreten. Das umgeht die eigentliche Frage: Soll ein Mitglied auch ausgeschlossen werden können, und wenn ja, mit welcher Mehrheit? Unter Flexibilität versteht Rödder, dass die EU künftig eine "Integration unterschiedlicher Dichte" akzeptieren sollte, was ja in der Währungsunion oder im Schengen-Vertrag heute schon praktiziert wird. Konzepte dafür und Reden darüber gibt es schon lange; daraus geworden ist nicht viel.
Der Autor ist viel zu versiert, um nicht zu wissen, warum das so ist. Da gibt es die Angst vieler Staaten vor einem Status- oder Prestigeverlust; es gibt aber auch die viel konkretere und realistische Befürchtung, dass man von Integrationsfolgen auch dann betroffen ist, wenn man einen Integrationsschritt nicht mitmacht, damit aber auch die Chance zum Mitentscheiden aufgegeben hat. Im Übrigen zeigen die Brexit-Verhandlungen gerade, welche Schwierigkeiten und Folgen, auch finanzielle, eine Rückabwicklung von Integrationsschritten hätte - und da geht es nur um ein Land, nicht um generelle Flexibilität.
Schließlich plädiert Rödder für eine britisch-deutsch-französische Kooperation als "konstruktive Form der politischen Führung in Europa". Das ist ein alter deutscher Wunsch; erfüllt hat er sich nie, nicht zuletzt weil weder Briten noch Franzosen das wirklich wollen - aus vielerlei Gründen, aber auch wegen ihrer historischen Erfahrungen und Prägungen, die Rödder in seinem Buch so kenntnisreich beschreibt.
Im Grunde ist die EWG/EG/EU eine Konstruktion, in welcher die Verflechtung von Interessen (Integration) das instabile europäische "Gleichgewicht der Mächte" domestiziert oder eingekapselt hat, auch wenn es noch weiter wirkt - bis in die Details von Verhandlungen hinein. Wird das Gewebe der Verflechtungen gelockert, erlebt das Denken in Kategorien der "balance of power" einen Aufschwung. Gerade in Zeiten des Populismus, der alte Stereotype willentlich instrumentalisiert, könnte das fatale Auswirkungen haben.
Alle deutschen Regierungen waren sich der europäischen Dimension des "deutschen Problems" bewusst - von Adenauer bis Merkel. Die deutsche Europa-Politik ist ein Ergebnis dieses Problembewusstseins, eine Lehre, die Deutschland aus seiner europäischen Geschichte gezogen hat. Rödders Vorschläge für eine andere Europa-Politik, die die unerlässliche deutsche Führung europäisch verträglicher machen sollen, sind allesamt nicht neu. Das zeigt, dass es, außer Mahnungen zu Klugheit, Vorsicht und Rücksicht, keinen Königsweg gibt, der aus diesem europäischen Problem herausführen könnte.
Andreas Rödder: "Wer hat Angst vor Deutschland?" Geschichte eines europäischen Problems.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2018. 368 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Mit seinem Buch liefert Rödder [...] einen Kompass für politisches Handeln. Edelgard von Abenstein Deutschlandfunk Kultur 20181119