»An meine Kindheit habe ich keine einzige glückliche Erinnerung«, lautet der erste Satz in Édouard Louis' Roman »Das Ende von Eddy«. In seinem Buch »Wer hat meinen Vater umgebracht« sieht Louis das anders, mittlerweile versteht er die Wutausbrüche seines Vaters, der unter der sozialen Ungerechtigkeit einer Gesellschaft leidet, die für Menschen wie ihn keinen Platz hat. Louis erinnert sich an einen liebevollen und fürsorglichen Vater, der seinem Sohn wünscht, aus den einfachen Verhältnissen auszubrechen. Édouard Louis hat es geschafft. Eine überwältigende Hommage an den eigenen Vater und dessen gescheiterte Träume.
zugleich eine zärtliche Liebeserklärung, eine heftige Abrechnung und eine Art offener Brief Romain Leick Der Spiegel 20190121
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.01.2019Die Rückkehr
Édouard Louis' eindrucksvoller Text über seinen Vater
Als im Oktober 2017 Frankreich Gastland der Frankfurter Buchmesse war, trat im Anschluss an die Eröffnungsfeier, bei der der französische Staatspräsident Emmanuel Macron und Bundeskanzlerin Angela Merkel zugegen gewesen waren, im "NM57" der Schriftsteller Édouard Louis zusammen mit seinem Übersetzer Hinrich Schmidt-Henkel auf. "Wer hat meinen Vater umgebracht" hieß der Text, aus dem er hier zum ersten Mal las und dabei eine Weile brauchte, um sich Gehör zu verschaffen. Denn unter den Zuschauern des von der Buchmesse und der F.A.S. veranstalteten Abends waren an einem Tisch auch Gäste der offiziellen Eröffnungsfeier versammelt, die offenbar eher mit Macron persönlich als mit einem Macron-Gegner gerechnet hatten: Ulrich Wickert, der Schauspieler Sebastian Koch und die Literaturwissenschaftlerin Barbara Vinken. Einige von ihnen schenkten Louis jedenfalls keine besondere Aufmerksamkeit, bis ein kleiner Mann mit kahlem Kopf und wütendem Gesicht, der sich als der weltberühmte amerikanische Literaturagent Andrew Wylie herausstellte, laut "Shut up, shut up!" durch den Raum schrie.
Édouard Louis, inzwischen 26 Jahre alt und durch seine Auftritte mit den Soziologen Didier Eribon und Geoffroy de Lagasnerie in Deutschland vielleicht sogar noch berühmter als in Frankreich, hat diesen Text, der sich wie ein Brief an den Vater liest, eine Anklage und eine gleichzeitige Verteidigungsschrift, jetzt als Buch veröffentlicht. Es ist nicht das erste Mal, dass Louis' Leser von diesem Vater hören. In seinem literarischen Debüt, "Das Ende von Eddy" erzählte er 2014, wie er sich von dem Arbeitermilieu, in dem er in der Provinz in Nordfrankreich aufwuchs, löste und als schwuler Intellektueller neu erfand. "Meine ganze Kindheit über hoffte ich, du würdest verschwinden", heißt es im neuen Buch, das von dem "Männlichkeitswahn" eines Vaters Zeugnis ablegt, der dem Sohn einschärft, als Mann dürfe man sich niemals wie eine Frau verhalten: "Ein Mann sein, das heißt, sich nicht wie ein Mädchen, wie eine Schwuchtel aufführen."
"Wer hat meinen Vater umgebracht" unternimmt nun eine Rückkehr nach Hause und wechselt den Blick. Nicht mehr nur um die Abgrenzung vom Vater geht es, die es Louis ermöglicht hat, eine eigene Identität zu finden. Es geht zugleich darum, dessen Perspektive einzunehmen, sich in ihn einzufühlen, ihn zu verstehen: "Letzten Monat habe ich dich in der kleinen Stadt besucht, wo du jetzt wohnst. Als du die Tür aufmachtest, erkannte ich dich erst nicht wieder."
Édouard Louis changiert in seinem Buch zwischen politischem Aufruf und eindrucksvoller literarischer Annäherung. "Jeder, der eine ,Gelbweste' beschimpft, beschimpft meinen Vater", hieß neulich ein Text von ihm, den er in der französischen Kulturzeitschrift "Les Inrockuptibles" veröffentlicht hat. Und wo diese politische Verteidigung der "Gelbwesten"-Bewegung und die Parteinahme für Jean-Luc Mélenchon bei Louis oft allzu pathetisch und plakativ ausfällt, sind sein Blick auf den Vater und die Sprache, die er dafür findet, umso einnehmender und machen ihn, gerade in dieser Widersprüchlichkeit, zum interessantesten französischen Schriftsteller seiner Generation.
Julia Encke
Édouard Louis: "Wer hat meinen Vater umgebracht". Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel. S. Fischer, 80 Seiten, 16 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Édouard Louis' eindrucksvoller Text über seinen Vater
Als im Oktober 2017 Frankreich Gastland der Frankfurter Buchmesse war, trat im Anschluss an die Eröffnungsfeier, bei der der französische Staatspräsident Emmanuel Macron und Bundeskanzlerin Angela Merkel zugegen gewesen waren, im "NM57" der Schriftsteller Édouard Louis zusammen mit seinem Übersetzer Hinrich Schmidt-Henkel auf. "Wer hat meinen Vater umgebracht" hieß der Text, aus dem er hier zum ersten Mal las und dabei eine Weile brauchte, um sich Gehör zu verschaffen. Denn unter den Zuschauern des von der Buchmesse und der F.A.S. veranstalteten Abends waren an einem Tisch auch Gäste der offiziellen Eröffnungsfeier versammelt, die offenbar eher mit Macron persönlich als mit einem Macron-Gegner gerechnet hatten: Ulrich Wickert, der Schauspieler Sebastian Koch und die Literaturwissenschaftlerin Barbara Vinken. Einige von ihnen schenkten Louis jedenfalls keine besondere Aufmerksamkeit, bis ein kleiner Mann mit kahlem Kopf und wütendem Gesicht, der sich als der weltberühmte amerikanische Literaturagent Andrew Wylie herausstellte, laut "Shut up, shut up!" durch den Raum schrie.
Édouard Louis, inzwischen 26 Jahre alt und durch seine Auftritte mit den Soziologen Didier Eribon und Geoffroy de Lagasnerie in Deutschland vielleicht sogar noch berühmter als in Frankreich, hat diesen Text, der sich wie ein Brief an den Vater liest, eine Anklage und eine gleichzeitige Verteidigungsschrift, jetzt als Buch veröffentlicht. Es ist nicht das erste Mal, dass Louis' Leser von diesem Vater hören. In seinem literarischen Debüt, "Das Ende von Eddy" erzählte er 2014, wie er sich von dem Arbeitermilieu, in dem er in der Provinz in Nordfrankreich aufwuchs, löste und als schwuler Intellektueller neu erfand. "Meine ganze Kindheit über hoffte ich, du würdest verschwinden", heißt es im neuen Buch, das von dem "Männlichkeitswahn" eines Vaters Zeugnis ablegt, der dem Sohn einschärft, als Mann dürfe man sich niemals wie eine Frau verhalten: "Ein Mann sein, das heißt, sich nicht wie ein Mädchen, wie eine Schwuchtel aufführen."
"Wer hat meinen Vater umgebracht" unternimmt nun eine Rückkehr nach Hause und wechselt den Blick. Nicht mehr nur um die Abgrenzung vom Vater geht es, die es Louis ermöglicht hat, eine eigene Identität zu finden. Es geht zugleich darum, dessen Perspektive einzunehmen, sich in ihn einzufühlen, ihn zu verstehen: "Letzten Monat habe ich dich in der kleinen Stadt besucht, wo du jetzt wohnst. Als du die Tür aufmachtest, erkannte ich dich erst nicht wieder."
Édouard Louis changiert in seinem Buch zwischen politischem Aufruf und eindrucksvoller literarischer Annäherung. "Jeder, der eine ,Gelbweste' beschimpft, beschimpft meinen Vater", hieß neulich ein Text von ihm, den er in der französischen Kulturzeitschrift "Les Inrockuptibles" veröffentlicht hat. Und wo diese politische Verteidigung der "Gelbwesten"-Bewegung und die Parteinahme für Jean-Luc Mélenchon bei Louis oft allzu pathetisch und plakativ ausfällt, sind sein Blick auf den Vater und die Sprache, die er dafür findet, umso einnehmender und machen ihn, gerade in dieser Widersprüchlichkeit, zum interessantesten französischen Schriftsteller seiner Generation.
Julia Encke
Édouard Louis: "Wer hat meinen Vater umgebracht". Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel. S. Fischer, 80 Seiten, 16 Euro
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Perlentaucher-Notiz zur Dlf Kultur-Rezension
Rezensentin Sigrid Brinkmann liest Edouard Louis' neues Buch als "Anklageschrift der französischen Bourgeoisie". Während sie den Prolog, in dem Louis das Wiedersehen mit seinem kranken, einst die Mutter prügelnden Vater schildert, "feinfühlig poetisch" findet, erscheinen ihr die sonstigen fragmentarischen Erinnerungen des Autors, der Einblicke in familiäre Konflikte und emotionale Abgründe gewährt, präzise und pathosfrei. Wenn der Autor, der Literatur erklärtermaßen als Mittel betrachtet, "um Scham in der Welt zu verbreiten", Chirac, Bertrand, Hollande oder Macron mit Mördern vergleicht, "die nie für ihre Morde bekannt geworden sind", geht er für Brinkmann dann doch ein wenig zu weit. Vielleicht sollte er von der Literatur in die Politik wechseln, meint sie.
© Perlentaucher Medien GmbH
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