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Produktdetails
  • Verlag: C.H.Beck
  • ISBN-13: 9783406459535
  • ISBN-10: 3406459536
  • Artikelnr.: 24951242
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 17.03.2003

Sand im Getriebe
Russland – das Zerrbild einer Demokratie
Es war, als würde der Dichter noch leben: Im Gefängnis von Odessa wetteiferten die Häftlinge, wer das schönste Gedicht über Puschkin verfasste; Umfragen ermittelten, ob sich die Bevölkerung Puschkin als Präsidenten vorstellen könne (50 Prozent konnten es). Zeitungsausgaben mit aktuellen Rezensionen seiner Gedichte beschworen im Puschkinjahr 1999 das Goldene Zeitalter und die Aktualität eines kulturellen Erbes, von dem das postkommunistische Russland so weit entfernt war wie der Dichter von einem friedlichen Lebensabend.
Der 200. Geburtstag Puschkins fiel in eine Phase der Desillusionierung und der Abkehr von Europa, dem man sich in der „romantischen” Phase kurz nach dem Zerfall der Sowjetunion so trügerisch nahe gefühlt hatte. Wieder einmal rang Russland um seine Identität. Wie einst stritten „Westler”, und „Eurasier” um die Rolle Russlands in der Welt, um die „russische Idee”, die, so Margareta Mommsen in ihrem Band „Wer herrscht in Russland?”, mit so vielen Hoffnungen und so wenig Inhalt gefüllt war. Das amtierende Regime jedenfalls konnte „keine eigenen positiven Werthorizonte” anbieten. Heute, nach der scharfen Westkurve Russlands, scheint diese Phase der Irritationen vorüber zu sein: Das Buch, das den Weg des postkommunistischen Landes als Suche nach Demokratie und nach einer nationalen Identität beschreibt, beweist, in welch atemberaubendem Tempo Regierungen und Krisen über Russland hereingebrochen sind.
Wer erinnert sich noch an Alexander Korschakow, Jelzins bulligen Bodyguard und vorübergehend einer der mächtigsten Männer des Landes? Wer kennt noch den Namen Sergej Kirijenkos, des 35jährigen Premierministers, der einen so eklatanten Mangel an Erfahrung erkennen ließ, dass ihn die Russen als „Kinderüberraschung” verspotteten? Er war der erste von fünf Premierministern, die Jelzin innerhalb von 18 Monaten austauschte, Wladimir Putin der letzte. Dabei fällt Mommsens Urteil über den „rationalen Modernisierer” Putin milde aus: Sein Ansehen in der Bevölkerung speise sich zwar aus Verzweiflung, seine plebiszitären Verlautbarungen widersprächen der realen Politik, doch habe Putins Europäisierung eine vorläufige Antwort auf die Frage gefunden: „Wohin gehen wir?”
Russland, so klagten Kritiker früh, sei eine „Demokratie ohne Demokraten”, und es ist eine „unreife Gesellschaft” geblieben. Margareta Mommsen seziert die Defekte und Irrtümer einer politischen Klasse, die den Gestus und die Institutionen des Westens gern imitiert, aber einen echten politischen Wettbewerb bis heute fürchtet. Sie verweist auf die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit, beschreibt die präsidiale Angewohnheit, je nach Bedarf immer neuen Ämter und Dienste zu erfinden; sie erinnert an die inzestuöse Nähe zu den Oligarchen und an die anhaltende Verwechslung von Populismus mit Demokratie: Zur Bildung einer Regierung für die neue Teilrepublik RSFSR im Sommer 1990 ließ Jelzin im Fernsehen eine Telefonnummer einblenden, unter der sich Kandidaten für einen Ministerposten bewerben sollten.
Die Analyse ruht auf einer breiten Basis zeitgenössischer russischer und deutscher Publizistik, ergänzt durch erste postkommunistische, politische Memoiren, und bündelt das disparate Material bemerkenswert schlüssig. Am Ende erkennt der Leser, dass sich Demokratie selbst nach siebzigjähriger Zwangsherrschaft nicht automatisch einstellt, und dass Marktwirtschaft und Demokratie entgegen verbreiteter Meinung durchaus unabhängig voneinander entstehen. Einem offenen Räderwerk gleich zeigt das russische Laboratorium, wie viele Scharniere ineinander greifen müssen, damit die Maschine Demokratie funktioniert. Dies immerhin kann der Westen von Russland lernen.
SONJA ZEKRI
MARGARETA MOMMSEN: Wer herrscht in Russland? Der Kreml und die Schatten der Macht. Becksche Reihe, München 2003. 260 Seiten, 14,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Russland im Schlingerkurs auf der Suche nach einer nationalen Identität: in atemberaubendem Tempo sind im letzten Jahrzehnt Regierungen und Krisen über das postkommunistische Russland hereingebrochen, stellt Sonka Zekri in ihrer Rezension fest. Wer weiß schon noch, fragt Zekri, dass Jelzin innerhalb von 18 Monaten fünf Premierminister verschlissen hat. Putin war der letzte dieser 5er-Riege, und mit ihm und seiner deutlichen Westorientierung sei nun wieder mehr Ruhe eingekehrt. Margareta Mommsens Analyse beruht auf einer breiten Lektüre zeitgenössischer russischer und deutscher Veröffentlichungen, berichtet Zekri, schlüssig gebündelt und ergänzt durch erste postkommunistische Memoiren. Die Autorin seziert das Selbstverständnis einer politischen Funktionärsklasse, die im Gestus gern den Westen imitiere, aber noch kein wirkliches Demokratieverständnis besitze und auch keinen echten politischen Wettbewerb zulasse, so Zekri. Ihre Erkenntnis aus dem Buch lautet: nach siebzig Jahren Diktatur stellt sich mit Einführung der Marktwirtschaft nicht automatisch auch Demokratie her.

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