Goody Eisinger ist ein Philosoph, heißt es in der Stadt. Hier wurde er geboren, hier ist er mit dem Bruder zusammen aufgewachsen, hier Vorarbeiter in den städtischen Werkhöfen gewesen, hier Aufseher im Museum für Vorgeschichte geworden, hier geblieben und von hier weggegangen, ohne Abschied zu nehmen. Eines Tages ist er einfach verschwunden, tot oder untergetaucht; und seinem Bruder bleibt nichts anderes als das Unvermeidliche - von Goody zu erzählen. Und damit auch von sich. Goody ist einer, den die Leute mögen, weil er so erstaunliche und, wie er sagt, wahre Geschichten erfindet, in dessen Gegenwart sich jeder wohl fühlt und sogar »die Äpfel singen«. Nach Goodys Verschwinden nistet sich der Bruder in dessen Wohnung ein, hört Musik von Schostakowitsch und entwickelt das Bild einer spiegelbildlichen Realität, in der die Welt nur existiert, indem der Erzähler einem Zuhörer von ihr berichtet. Doch inwieweit verwandelt die Erinnerung an Liebe und Liebesverrat, je intensiver sie wird, den Erinnernden?
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.10.2000Grün ist die Farbe der Stille
Jörg Steiner führt mitten hinein in den Bruderkrieg
Aufseher in einem Schweizer Museum für Vorgeschichte - das klingt nicht gerade nach aufregenden Erfahrungen. Doch Jörg Steiner hat diesen Posten mit einer jener Figuren besetzt, die sein Werk auszeichnen. Steiners Schweiz ist bevölkert von nicht recht Seßhaften, von Immigranten, Trinkern und - noch schlimmer - von Arbeitslosen. Sie ziehen ihre unscheinbaren Bahnen und verschwinden dann: über die Grenze, in den Alkohol, in den Suizid.
Auch der Museumswärter Gottfried Eisinger, dem sein Bruder Niklaus den lächerlichen Namen Goody angehängt hat, wird zum Schluß verschwinden, aber bis dahin gibt es einiges zu erzählen. Goody weiß viele Geschichten, immer andere, immer anders wahre, denn: "Daß die Wahrheit eine Geschichte ist, heute anders als morgen, das ist nur natürlich." Goody gilt als Philosoph, obwohl er eigentlich bloß Vorarbeiter im Werkhof der Stadt gewesen war, ehe er ans Museum strafversetzt wurde. Goody begeistert nun Schulklassen mit extemporierten Vorträgen über die keltische Göttin der Kühe und gewinnt durch seinen Charme auch die Liebe der Amerikanerin Roma Saunders. Abends verkehrt er in einer Buchhandlung, spielt mit Dr. Amweg Schach oder feiert mit seinen ehemaligen Arbeitskollegen kleine Feste. Mit Urs, seinem engsten Freund, hört er nächtens Schostakowitsch, tanzt auf dem Balkongeländer, und die daraufhin anrückenden Gendarmen werden bei Rotwein in ein Gespräch über Sozialismus verwickelt. Um es mit den Worten des Bruders zu sagen: "Goody ermutigt jeden, den eigenen Legenden von der Wirklichkeit zu trauen."
Der Bruder hingegen ist Bereichsleiter bei einer Versicherung, "Abteilung Leben", und hat es fertiggebracht, die eigene Mutter zu versichern, auszahlbar im Todesfall. Daher ist auch die im Klappentext verheißene Bruderliebe eher Ansichtssache: Der Bruder knallte als Kind Goody mutwillig eine Krocket-Kugel an den Kopf und zeichnete ihn fürs Leben. Der Bruder weidete sich an Goodys Krankheiten, schlug ihn mit Fäusten, als er nach einem Sturz wehrlos am Boden lag. Der Bruder träumt mit Erleichterung von dessen Tod oder phantasiert beim Wein von einem Leben zu dritt in Amerika. Der Bruder wird von Goodys Freunden sofort verdächtigt, als es zu einem mysteriösen Bremsversagen mit glimpflichem Ausgang kommt. Und wenn der insgeheime Wunsch, dem großen Bruder einmal helfen zu können, Gestalt annimmt, dann wünscht der fünfundfünfzigjährige Kleine eine Leukämie herbei, die nur er als Knochenmarkspender heilen könnte. Dabei ist das einzige, was der Bruder tatsächlich besser kann, die Aussprache des amerikanisch zerquetschten Ä-Lautes.
Auf den ersten Blick sieht dieser Gegensatz etwas grob gestrickt aus, doch Steiner zurrt das Erzählnetz mit einem alten, aber gekonnten Kunstgriff fest. Der Bruder schreibt über Goody: "Alles, was Goody einfällt." Was wir vom lebensbegabten Eisinger lesen, lesen wir gespiegelt im Neid des Unbegabten. "Er ist es, der die Geschichte erzählt, Goodys Geschichte, und mit ihr seine eigene." Deren Thema: "Ich habe nichts zuzugeben, ich schreibe es nur auf, das Eisinger-Dilemma: Schuld und Unschuld, Zuflucht, Mangel und Überfluß, fast alles über die Liebe. Was für ein Durcheinander."
Als dann der wahre Eisinger - vermutlich zusammen mit der Amerikanerin - verschwindet, zieht der Bruder in die leerstehende Wohnung, um gleichsam dessen Leben anzunehmen: "Beim Schreiben steht Goody hinter ihm, schaut ihm über die Schulter und liest mit. Er gibt ihm recht. In allem, was der Bruder vorbringt, gibt Eisinger ihm jetzt recht." Dabei ist der Bruder am Ende, kann gar keine ganzen Sätze mehr sprechen: "Zusammenhänge ergeben sich nur mehr beim Schreiben." Als er dann die ersten plumpen Tanzschritte versucht, ertönt plötzlich der Schlußsatz: "Einfach anfangen, sagt Eisinger. Endlich einmal anfangen. So einfach ist das."
Da aber nicht mehr zu entscheiden ist, ob die Schleife in die Heilung oder ins Verrücktwerden mündet, können wir auch nicht mehr klären, wen Steiner zehn Seiten zuvor seinen schönsten Satz aufschreiben ließ: "Die Farbe der Stille sei grün, sagt Eisinger, und er sagt auch, auf der ganzen Welt gebe es keine schöneren Kastanienbäume als hier, in diesem Land, das fast zweihundert Jahre lang von Kriegen verschont geblieben sei - besonders keine schöneren Kastanienbäume im Frühling, wenn die Kerzen aufgehen und ihre bräunlich verfärbten Blüten auf den Gehweg fallen lassen, so, als sei das Aufblühen und das Verwelken ein- und derselbe Vorgang." In diesem beunruhigenden Idyll begeht Jörg Steiner heute seinen siebzigsten Geburtstag.
THOMAS POISS
Jörg Steiner: "Wer tanzt schon zu Musik von Schostakowitsch". Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2000. 104 S., geb., 32,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Jörg Steiner führt mitten hinein in den Bruderkrieg
Aufseher in einem Schweizer Museum für Vorgeschichte - das klingt nicht gerade nach aufregenden Erfahrungen. Doch Jörg Steiner hat diesen Posten mit einer jener Figuren besetzt, die sein Werk auszeichnen. Steiners Schweiz ist bevölkert von nicht recht Seßhaften, von Immigranten, Trinkern und - noch schlimmer - von Arbeitslosen. Sie ziehen ihre unscheinbaren Bahnen und verschwinden dann: über die Grenze, in den Alkohol, in den Suizid.
Auch der Museumswärter Gottfried Eisinger, dem sein Bruder Niklaus den lächerlichen Namen Goody angehängt hat, wird zum Schluß verschwinden, aber bis dahin gibt es einiges zu erzählen. Goody weiß viele Geschichten, immer andere, immer anders wahre, denn: "Daß die Wahrheit eine Geschichte ist, heute anders als morgen, das ist nur natürlich." Goody gilt als Philosoph, obwohl er eigentlich bloß Vorarbeiter im Werkhof der Stadt gewesen war, ehe er ans Museum strafversetzt wurde. Goody begeistert nun Schulklassen mit extemporierten Vorträgen über die keltische Göttin der Kühe und gewinnt durch seinen Charme auch die Liebe der Amerikanerin Roma Saunders. Abends verkehrt er in einer Buchhandlung, spielt mit Dr. Amweg Schach oder feiert mit seinen ehemaligen Arbeitskollegen kleine Feste. Mit Urs, seinem engsten Freund, hört er nächtens Schostakowitsch, tanzt auf dem Balkongeländer, und die daraufhin anrückenden Gendarmen werden bei Rotwein in ein Gespräch über Sozialismus verwickelt. Um es mit den Worten des Bruders zu sagen: "Goody ermutigt jeden, den eigenen Legenden von der Wirklichkeit zu trauen."
Der Bruder hingegen ist Bereichsleiter bei einer Versicherung, "Abteilung Leben", und hat es fertiggebracht, die eigene Mutter zu versichern, auszahlbar im Todesfall. Daher ist auch die im Klappentext verheißene Bruderliebe eher Ansichtssache: Der Bruder knallte als Kind Goody mutwillig eine Krocket-Kugel an den Kopf und zeichnete ihn fürs Leben. Der Bruder weidete sich an Goodys Krankheiten, schlug ihn mit Fäusten, als er nach einem Sturz wehrlos am Boden lag. Der Bruder träumt mit Erleichterung von dessen Tod oder phantasiert beim Wein von einem Leben zu dritt in Amerika. Der Bruder wird von Goodys Freunden sofort verdächtigt, als es zu einem mysteriösen Bremsversagen mit glimpflichem Ausgang kommt. Und wenn der insgeheime Wunsch, dem großen Bruder einmal helfen zu können, Gestalt annimmt, dann wünscht der fünfundfünfzigjährige Kleine eine Leukämie herbei, die nur er als Knochenmarkspender heilen könnte. Dabei ist das einzige, was der Bruder tatsächlich besser kann, die Aussprache des amerikanisch zerquetschten Ä-Lautes.
Auf den ersten Blick sieht dieser Gegensatz etwas grob gestrickt aus, doch Steiner zurrt das Erzählnetz mit einem alten, aber gekonnten Kunstgriff fest. Der Bruder schreibt über Goody: "Alles, was Goody einfällt." Was wir vom lebensbegabten Eisinger lesen, lesen wir gespiegelt im Neid des Unbegabten. "Er ist es, der die Geschichte erzählt, Goodys Geschichte, und mit ihr seine eigene." Deren Thema: "Ich habe nichts zuzugeben, ich schreibe es nur auf, das Eisinger-Dilemma: Schuld und Unschuld, Zuflucht, Mangel und Überfluß, fast alles über die Liebe. Was für ein Durcheinander."
Als dann der wahre Eisinger - vermutlich zusammen mit der Amerikanerin - verschwindet, zieht der Bruder in die leerstehende Wohnung, um gleichsam dessen Leben anzunehmen: "Beim Schreiben steht Goody hinter ihm, schaut ihm über die Schulter und liest mit. Er gibt ihm recht. In allem, was der Bruder vorbringt, gibt Eisinger ihm jetzt recht." Dabei ist der Bruder am Ende, kann gar keine ganzen Sätze mehr sprechen: "Zusammenhänge ergeben sich nur mehr beim Schreiben." Als er dann die ersten plumpen Tanzschritte versucht, ertönt plötzlich der Schlußsatz: "Einfach anfangen, sagt Eisinger. Endlich einmal anfangen. So einfach ist das."
Da aber nicht mehr zu entscheiden ist, ob die Schleife in die Heilung oder ins Verrücktwerden mündet, können wir auch nicht mehr klären, wen Steiner zehn Seiten zuvor seinen schönsten Satz aufschreiben ließ: "Die Farbe der Stille sei grün, sagt Eisinger, und er sagt auch, auf der ganzen Welt gebe es keine schöneren Kastanienbäume als hier, in diesem Land, das fast zweihundert Jahre lang von Kriegen verschont geblieben sei - besonders keine schöneren Kastanienbäume im Frühling, wenn die Kerzen aufgehen und ihre bräunlich verfärbten Blüten auf den Gehweg fallen lassen, so, als sei das Aufblühen und das Verwelken ein- und derselbe Vorgang." In diesem beunruhigenden Idyll begeht Jörg Steiner heute seinen siebzigsten Geburtstag.
THOMAS POISS
Jörg Steiner: "Wer tanzt schon zu Musik von Schostakowitsch". Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2000. 104 S., geb., 32,- DM.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
"Was für ein Durcheinander." Auch ein Zitat aus dem von Thomas Poiss besprochenen Band. Eins von vielen, das er uns zu lesen gibt. Und eigentlich ist das auch schon alles, was wir über dieses Buch erfahren. Außer noch: Der Kunstgriff des Autors ist ein alter Hut. Die Lebensgeschichte des vitalen Helden erzählt vom minderbegabten, neidzerknirschten Bruderherz... Ach ja, der Autor, natürlich. Der Autor nämlich... wird heute 70. Wir wünschen das Beste.
© Perlentaucher Medien GmbH
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