Produktdetails
- Verlag: C.H.Beck
- ISBN-13: 9783406445538
- ISBN-10: 3406445535
- Artikelnr.: 23924728
- Herstellerkennzeichnung Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.04.1999Und kein Knecht hieß Malchus
Die Wissenschaft nimmt die erfüllte Prophetie zurück: John Dominic Crossan treibt der Passionsgeschichte die Geschichte aus
Der amerikanische Neutestamentler John Dominic Crossan ist hierzulande vor allem durch seine umfangreiche Jesus-Biographie (F.A.Z. vom 21. November 1994) bekannt geworden. In seinem jüngsten Buch nimmt er sich viel, vielleicht zuviel vor: fachgelehrte Auseinandersetzung und allgemeinverständliche, ethisch angestrengte Aufklärung, historisch-kritische Detailarbeit und methodische Grundsatzdebatte.
Gegenstand der Untersuchung ist die Passions- und Auferstehungsgeschichte Jesu. Anstoß ist, wie so oft in der Jesus-Literatur der vergangenen Jahre, die Berücksichtigung einer neuen oder wenig bekannten Quelle. Über das Petrus-Evangelium sind sporadische Nachrichten seit dem zweiten Jahrhundert nach Christus überliefert. Doch erst durch die Entdeckung einer Pergamenthandschrift im Winter 1886/87 hat die Wissenschaft eine genauere Vorstellung von seinem Inhalt gewinnen können. Das sogenannte Akhmim-Fragment wird auf das siebte bis neunte Jahrhundert datiert und enthält in Form eines Ich-Berichtes des Petrus die Passion Jesu in einer von den kanonischen Evangelien abweichenden Gestalt. Hervorgehoben sind die Verantwortung des Herodes Antipas und der Juden für den Tod Jesu und der Schriftbezug der Passion. Im Gegensatz zu den kanonischen Evangelien beschreibt das Petrus-Evangelium den Vorgang der Auferstehung vor Zeugen. 1981 und 1993 machte Dieter Lührmann auf Papyrusfragmente aus dem zweiten oder dritten Jahrhundert aus Oxyrhynchos aufmerksam, die ebenfalls zum Petrus-Evangelium gehören dürften. Durch Lührmanns Zuweisungen wäre klargestellt, daß das Petrus-Evangelium sich nicht auf Leiden und Auferstehung Jesu beschränkt hätte.
In der Forschung herrscht die Auffassung vor, das Petrus-Evangelium kenne die synoptischen oder sogar alle vier kanonischen Evangelien; nur ergänzend träten mündliche Traditionen hinzu. Crossan hat dagegen nachzuweisen versucht, daß den literarisch ältesten Kern des uns bekannten Petrus-Evangeliums ein in die vierziger Jahre des ersten Jahrhunderts zu datierendes "Cross Gospel" bilde, das von den kanonischen Evangelien benutzt worden sei. Diese These will Crossan in dem vorliegenden Band gegen Einwände verteidigen, wie sie insbesondere Pater Raymond E. Brown geltend gemacht hat.
Nun scheint es neuerdings exegetische Mode zu sein, bisher als gesichert geltende Abhängigkeitsverhältnisse umzukehren. Öfter verbindet sich in solchen Analysen ein hohes Maß von Scharfsinn im Detail mit einem gewissen Mangel an Überblick. Im Falle des Petrus-Evangeliums ist der Ausgang der Debatte allerdings tatsächlich durchaus offen, wie etwa Éric Junod, der Bearbeiter der Petrus-Evangeliums in der neuen französischen Ausgabe der neutestamentlichen Apokryphen (Paris 1997), feststellt. Crossans Buch wird dazu beitragen, die Frage offenzuhalten.
Es geht dem Verfasser aber nicht primär um eine Detailkorrektur der Literaturgeschichte. Wenn als gesichert gelten kann, daß die Passionsgeschichten der kanonischen Evangelien auf eine im Textbestand noch erhaltene, wenn auch überarbeitete literarische Quelle zurückgreifen, läßt sich die Entwicklung der Tradition studieren. Das Interesse verlagert sich von der Frage nach dem wirklich Geschehenen auf diejenigen nach den theologischen Akzenten der Tradition in den verschiedenen Stadien ihrer Überlieferung - Geschichte einer Legende statt Geschichte Jesu. Crossan stellt pointiert die Fragen, mit denen der Historiker beginnen muß, die man aber in vielen pseudo-aufklärerischen Veröffentlichungen vermißt: Welchen Charakter haben die zur Verfügung stehenden Quellen? Welchen Umgang mit mündlichen oder schriftlichen Traditionen lassen sie erkennen? Welches Interesse motiviert sie? Die gegenwärtig auch in der seriösen Forschung spürbare Tendenz, die in früheren Jahrzehnten gewiß einseitig akzentuierte sogenannte Redaktionskritik zugunsten der historischen Rückfrage ganz in den Hintergrund zu stellen, gebiert neue Einseitigkeiten. Crossan setzt hier bewußt andere Akzente und fragt: Haben wir es bei der Passionsüberlieferung im wesentlichen mit erinnerter Geschichte oder mit in Geschichte umgesetzter Prophetie zu tun?
"Die Frage ist, ob es die Erfüllung von Prophezeiungen war, was die ersten Christen interessierte, und ob sie also dafür sorgten, daß es dazu kam." Will man diese Grundsatzfrage klären, muß man zum einen die Entwicklung der Tradition beachten, ihre ausdrücklichen und impliziten Bezugnahmen auf die erinnerte Prophetie. Zum anderen muß die Frage nach der historischen Plausibilität eigens gestellt werden. Denn "erinnerte Geschichte" und "in Geschichte überführte Prophetie" schließen einander nicht aus. "Geschichte" als Geschichtsschreibung ist in jedem Falle Fiktion, subjektive Auswahl, Arrangement nach vom Geschichtsschreiber eingebrachten Deutungsmustern und Bezügen. Crossans Untersuchung neigt dazu, die beschriebene Alternative als ausschließenden Gegensatz zu behandeln.
Verbirgt sich hinter dieser scheinbaren methodischen Strenge und wissenschaftlich-ethischen Redlichkeit nicht aber eine dem Gegenstand, der menschlichen Überlieferung von Geschichte, unangemessene Konsequenzmacherei? Mit einem anderen, so prägnanten wie logisch verkürzenden Satz des Autors formuliert: "Die Bibel liefert mir keine Informationen über die physischen Tatsachen des Anfanges oder des Endes der Welt. Sie liefert mir auch keine Informationen über die physischen Tatsachen des Anfangs und des Endes vom Leben Jesu." So kann Crossan kaum unvoreingenommen urteilen, wenn er die Frage nach dem historisch Plausiblen und Wahrscheinlichen für die einzelnen Abschnitte der Passion zu beantworten versucht.
Von der Passionsgeschichte bleibt historisch nicht viel übrig; Crossan geht hier noch weiter als die Mehrheit seiner ohnedies skeptischen Zukunftskollegen. Einzelne für die Handlung wichtige Personen wie Barabbas, die zwei Schächer am Kreuz oder Josef von Arimathäa sind ebenso frei erfunden wie die Namen von Nebengestalten wie Simon von Kyrene oder Malchus. Die Gestaltung der großen Szenen erklärt sich aus der Absicht der Erzähler, erfüllte Prophetie darzustellen. Was zum Beispiel von Jesus in der Nacht des Verrates in Gethsemane berichtet wird, ist zu einem großen Teil Nachbildung der Erzählungen von der Verschwörung gegen den großen König David im zweiten Buch Samuel. Die Berichte von der Gerichtsverhandlung vor Kaiphas und Pilatus wurden laut Crossan aus dem als Prophetie aufgefaßten Psalm 2, der von der Verschwörung der Mächtigen gegen den Gesalbten Gottes spricht, entwickelt. Das historische Wahrscheinlichkeitsurteil lautet: "Eines einfachen bäuerlichen Störers wie Jesus wegen hätte es der Konsultationen auf höchster Ebene nicht bedurft." So erübrigen sich alle weiteren Überlegungen zu den Kompetenzen jüdischer und römischer Gerichtsbarkeit.
Die Verspottung Jesu vor seiner Kreuzigung ist historisch gut möglich. "Jesus mag sehr wohl ausgepeitscht worden sein, wie das bei den Römern zur Vorbereitung der Verurteilten auf die Kreuzigung üblich war." Was die Evangelienüberlieferung darüber hinaus berichtet - Anspeien, Stoßen, Geißeln, Bekränzen und so weiter -, sei jedoch historisierte Prophetie, übernommen aus dem alttestamentlichen Sündenbockritual am großen Versöhnungstag aus Leviticus 16, aus Jesaja 50,6 oder verschiedenen Passagen des Sacharja-Buches. Gerade in diesem für Crossans These zentralen Kapitel "Beschimpfung" wird das Fragwürdige seiner methodischen Grundentscheidung besonders deutlich. Denn als eines der Vorbilder der Verspottungsszene im "Kreuzesevangelium" zitiert Crossan einen Ausschnitt aus der Klageschrift des jüdischen Philosophen Philo von Alexandrien gegen den römischen Statthalter Flaccus. Geschildert wird dort, wie im Rahmen der Unruhen beim Besuch des jüdischen Königs Agrippa I. in Alexandrien ein Verrückter mit Namen Carabas in das Gymnasium der Stadt getrieben und dort als König mit Krone und Szepter aus Papyrus verhöhnt wird. Da Crossan Analogien im Sinne literarischer oder traditionsgeschichtlicher Abhängigkeiten interpretiert, kommt er zu der Behauptung, der Verfasser des Petrus-Evangeliums habe schriftgelehrte Prophetien "nach dem Muster eines Berichts wie dem, den man in Philos Klageschrift findet, in eine Passionserzählung übertragen". Viel näher liegt doch die Annahme einer tatsächlichen historischen Analogie, was eine Stilisierung durch den jeweiligen Berichterstatter nicht ausschließt.
Während für Crossan die Ausmalung der Kreuzigungsszene wieder historisierte Prophetie - insbesondere von Psalm 22 - ist, läßt sich dies von den Erzählungen über die Grablegung nicht feststellen: "Denn welche Prophezeiungen gab es hierzu, die in Geschichte hätten umgesetzt werden können? Bei den Grablegungsgeschichten handelt es sich vielmehr um die Erfüllung von Wunschträumen mit apologetischer und polemischer Tendenz."
Crossans Analysen enden nicht mit dem Tod Jesu. Die Berichte der Evangelisten über die Passion gehören zusammen mit denjenigen über die Entdeckung des leeren Grabes und die Auferstehung. Der Versuchung, sich mit dem Verweis auf das "ganz andere" der Ostergeschichten aus der Affäre zu ziehen, erliegt er nicht. Gegen manche laue binnentheologische Sprachregelung stellt er fest: "Kein Evangelium hält am verschlossenen Grab inne und sagt praktisch, der Rest sei unbeschreibliches Geheimnis und gemeinsamer Glauben. Die Geschichte geht weiter, und es gibt nicht den mindesten offenen Hinweis, der uns warnte zu bedenken, daß wir nun das normale Raum-Zeit-Kontinuum verließen."
Die Berichte vom leeren Grab und der Auferstehung setzen in Geschichte um, was das Alte Testament verheißt, die Rechtfertigung des unschuldig Leidenden und Verfolgten. Verfolgungs- und Rechtfertigungsprophezeiung gehören zusammen, die "Texte aus den Büchern der Propheten und den Psalmen, in denen die ersten Christen Jesu Passion vorgezeichnet fanden, enthielten gewöhnlich beide Elemente. Auferstehung und Parusie sind Sonderfälle der Rechtfertigung, aber im Kern der Passionsprophetie findet man die Vorstellung von der Rechtfertigung der Unschuld." Der Osterglaube ist deutlich vor Ostern entstanden: "Er begann unter jenen ersten Nachfolgern Jesu in Galiläa lange vor seinem Tod, und gerade, weil es Glaube als Ermächtigung und nicht als Beherrschung war, konnte dieser Glaube überleben und faktisch schließlich sogar die Hinrichtung Jesu negieren." Weil Crossan den Evangelien historisch insgesamt wenig zutraut, gelingt es ihm, die Ostergeschichten ohne methodischen oder interpretativen Bruch zu integrieren, sie sind "vollkommen gültige Gleichnisse, ähnlich wie die Geschichte vom guten Samariter".
Wo es einen unschuldig Getöteten gibt, muß es Schuldige geben. Die Passionserzählungen behaupten übereinstimmend, "daß der römische Statthalter Pilatus Jesus für unschuldig hielt und daß dieser auf Betreiben der Juden hingerichtet wurde". In Geschichte umgesetzte Prophetie ist hier nicht zu entdecken - handelt es sich also um historische Fakten? Vergleicht man die Fassung des Petrus-Evangeliums mit derjenigen des Matthäus, so ergeben sich markante Differenzen. Einerseits ist Pilatus nur im Petrus-Evangelium wirklich unschuldig an Jesu Tod, ja, er reagiert auf die Berichte von seiner Auferstehung mit einer Art Bekenntnis, während er bei Matthäus als mitverantwortlicher Heuchler erscheint. Andererseits schiebt Matthäus viel deutlicher "dem ganzen Volk" der Juden die fortdauernde Schuld am Tode Jesu zu, während sie nach Petrus angesichts der Wunder beim Tod Jesu ihr Tun schon bereuen. Ein Befund, der aus dem postulierten historischen Kontext der jeweiligen Quelle erklärt wird. Der Historiker wechselt die Ebene.
Schon der Untertitel des Bandes rückt die Frage nach der Verantwortung am Tod Jesu in eine wirkungsgeschichtliche Perspektive. Und mit Macht drängt es Crossan aus dem exegetischen Elfenbeinturm, wenn er schreibt: "Solange die Christen eine unterprivilegierte Randgruppe waren, schadeten ihre Passionserzählungen, welche die Juden als schuldig am Tode Jesu hinstellten, die Römer aber von jeder Schuld daran entlasteten, im Grunde niemandem. Doch als dann das römische Reich christlich wurde, wurde die Fabel mörderisch", die ursprünglich innerjüdische Propagandalüge zeitigte schreckliche Wirkungen. Christlicher Antijudaismus und Antisemitismus geben der historischen Arbeit ihren besonderen ethischen Ernst. Leider unterläßt es der Verfasser aber ganz und gar, dem Vorwurf des Christus-Mordes und seiner antijüdischen Ausbeutung durch die Jahrhunderte genauer nachzugehen. So findet an diesem Punkt keine wirkliche Aufklärung statt, sondern es bleibt bei bloßen Behauptungen und rhetorischen Fragen: "Man bedenke nun, wie jene Erzählungen von der Passion und Auferstehung Jesu in einer vorwiegend christlichen Welt wirken mußten. Haben diese Erzählungen gewisse Leute aufgehetzt zum Morden?"
Die historische Rückfrage "Wer hat Jesus getötet?" erhält bei Crossan eine in der Sache wissenschaftlich mehrheitlich konsensfähige, aber angesichts der entwickelten Perspektive ernüchternde Antwort. Sie findet sich schon bei Flavius Josephus, dem Historiker aus einer Jerusalemer Priesterfamilie, der im ersten jüdischen Krieg in das feindliche Lager überwechselte und seinen Lebensabend in Rom verbrachte: Jesus wurde "von Pilatus auf Betreiben der Vornehmsten unseres Volkes zum Kreuzestod" verurteilt. Auch wer "nur" die kanonischen Evangelien und das christliche Credo kennt, kann von dieser Einsicht nicht wirklich überrascht sein.
HERMUT LÖHR
John Dominic Crossan: "Wer tötete Jesus?" Die Ursprünge des christlichen Antisemitismus in den Evangelien. Aus dem Englischen von Peter Hahlbrock. C. H. Beck Verlag, München 1999. 281 S., geb., 48,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Wissenschaft nimmt die erfüllte Prophetie zurück: John Dominic Crossan treibt der Passionsgeschichte die Geschichte aus
Der amerikanische Neutestamentler John Dominic Crossan ist hierzulande vor allem durch seine umfangreiche Jesus-Biographie (F.A.Z. vom 21. November 1994) bekannt geworden. In seinem jüngsten Buch nimmt er sich viel, vielleicht zuviel vor: fachgelehrte Auseinandersetzung und allgemeinverständliche, ethisch angestrengte Aufklärung, historisch-kritische Detailarbeit und methodische Grundsatzdebatte.
Gegenstand der Untersuchung ist die Passions- und Auferstehungsgeschichte Jesu. Anstoß ist, wie so oft in der Jesus-Literatur der vergangenen Jahre, die Berücksichtigung einer neuen oder wenig bekannten Quelle. Über das Petrus-Evangelium sind sporadische Nachrichten seit dem zweiten Jahrhundert nach Christus überliefert. Doch erst durch die Entdeckung einer Pergamenthandschrift im Winter 1886/87 hat die Wissenschaft eine genauere Vorstellung von seinem Inhalt gewinnen können. Das sogenannte Akhmim-Fragment wird auf das siebte bis neunte Jahrhundert datiert und enthält in Form eines Ich-Berichtes des Petrus die Passion Jesu in einer von den kanonischen Evangelien abweichenden Gestalt. Hervorgehoben sind die Verantwortung des Herodes Antipas und der Juden für den Tod Jesu und der Schriftbezug der Passion. Im Gegensatz zu den kanonischen Evangelien beschreibt das Petrus-Evangelium den Vorgang der Auferstehung vor Zeugen. 1981 und 1993 machte Dieter Lührmann auf Papyrusfragmente aus dem zweiten oder dritten Jahrhundert aus Oxyrhynchos aufmerksam, die ebenfalls zum Petrus-Evangelium gehören dürften. Durch Lührmanns Zuweisungen wäre klargestellt, daß das Petrus-Evangelium sich nicht auf Leiden und Auferstehung Jesu beschränkt hätte.
In der Forschung herrscht die Auffassung vor, das Petrus-Evangelium kenne die synoptischen oder sogar alle vier kanonischen Evangelien; nur ergänzend träten mündliche Traditionen hinzu. Crossan hat dagegen nachzuweisen versucht, daß den literarisch ältesten Kern des uns bekannten Petrus-Evangeliums ein in die vierziger Jahre des ersten Jahrhunderts zu datierendes "Cross Gospel" bilde, das von den kanonischen Evangelien benutzt worden sei. Diese These will Crossan in dem vorliegenden Band gegen Einwände verteidigen, wie sie insbesondere Pater Raymond E. Brown geltend gemacht hat.
Nun scheint es neuerdings exegetische Mode zu sein, bisher als gesichert geltende Abhängigkeitsverhältnisse umzukehren. Öfter verbindet sich in solchen Analysen ein hohes Maß von Scharfsinn im Detail mit einem gewissen Mangel an Überblick. Im Falle des Petrus-Evangeliums ist der Ausgang der Debatte allerdings tatsächlich durchaus offen, wie etwa Éric Junod, der Bearbeiter der Petrus-Evangeliums in der neuen französischen Ausgabe der neutestamentlichen Apokryphen (Paris 1997), feststellt. Crossans Buch wird dazu beitragen, die Frage offenzuhalten.
Es geht dem Verfasser aber nicht primär um eine Detailkorrektur der Literaturgeschichte. Wenn als gesichert gelten kann, daß die Passionsgeschichten der kanonischen Evangelien auf eine im Textbestand noch erhaltene, wenn auch überarbeitete literarische Quelle zurückgreifen, läßt sich die Entwicklung der Tradition studieren. Das Interesse verlagert sich von der Frage nach dem wirklich Geschehenen auf diejenigen nach den theologischen Akzenten der Tradition in den verschiedenen Stadien ihrer Überlieferung - Geschichte einer Legende statt Geschichte Jesu. Crossan stellt pointiert die Fragen, mit denen der Historiker beginnen muß, die man aber in vielen pseudo-aufklärerischen Veröffentlichungen vermißt: Welchen Charakter haben die zur Verfügung stehenden Quellen? Welchen Umgang mit mündlichen oder schriftlichen Traditionen lassen sie erkennen? Welches Interesse motiviert sie? Die gegenwärtig auch in der seriösen Forschung spürbare Tendenz, die in früheren Jahrzehnten gewiß einseitig akzentuierte sogenannte Redaktionskritik zugunsten der historischen Rückfrage ganz in den Hintergrund zu stellen, gebiert neue Einseitigkeiten. Crossan setzt hier bewußt andere Akzente und fragt: Haben wir es bei der Passionsüberlieferung im wesentlichen mit erinnerter Geschichte oder mit in Geschichte umgesetzter Prophetie zu tun?
"Die Frage ist, ob es die Erfüllung von Prophezeiungen war, was die ersten Christen interessierte, und ob sie also dafür sorgten, daß es dazu kam." Will man diese Grundsatzfrage klären, muß man zum einen die Entwicklung der Tradition beachten, ihre ausdrücklichen und impliziten Bezugnahmen auf die erinnerte Prophetie. Zum anderen muß die Frage nach der historischen Plausibilität eigens gestellt werden. Denn "erinnerte Geschichte" und "in Geschichte überführte Prophetie" schließen einander nicht aus. "Geschichte" als Geschichtsschreibung ist in jedem Falle Fiktion, subjektive Auswahl, Arrangement nach vom Geschichtsschreiber eingebrachten Deutungsmustern und Bezügen. Crossans Untersuchung neigt dazu, die beschriebene Alternative als ausschließenden Gegensatz zu behandeln.
Verbirgt sich hinter dieser scheinbaren methodischen Strenge und wissenschaftlich-ethischen Redlichkeit nicht aber eine dem Gegenstand, der menschlichen Überlieferung von Geschichte, unangemessene Konsequenzmacherei? Mit einem anderen, so prägnanten wie logisch verkürzenden Satz des Autors formuliert: "Die Bibel liefert mir keine Informationen über die physischen Tatsachen des Anfanges oder des Endes der Welt. Sie liefert mir auch keine Informationen über die physischen Tatsachen des Anfangs und des Endes vom Leben Jesu." So kann Crossan kaum unvoreingenommen urteilen, wenn er die Frage nach dem historisch Plausiblen und Wahrscheinlichen für die einzelnen Abschnitte der Passion zu beantworten versucht.
Von der Passionsgeschichte bleibt historisch nicht viel übrig; Crossan geht hier noch weiter als die Mehrheit seiner ohnedies skeptischen Zukunftskollegen. Einzelne für die Handlung wichtige Personen wie Barabbas, die zwei Schächer am Kreuz oder Josef von Arimathäa sind ebenso frei erfunden wie die Namen von Nebengestalten wie Simon von Kyrene oder Malchus. Die Gestaltung der großen Szenen erklärt sich aus der Absicht der Erzähler, erfüllte Prophetie darzustellen. Was zum Beispiel von Jesus in der Nacht des Verrates in Gethsemane berichtet wird, ist zu einem großen Teil Nachbildung der Erzählungen von der Verschwörung gegen den großen König David im zweiten Buch Samuel. Die Berichte von der Gerichtsverhandlung vor Kaiphas und Pilatus wurden laut Crossan aus dem als Prophetie aufgefaßten Psalm 2, der von der Verschwörung der Mächtigen gegen den Gesalbten Gottes spricht, entwickelt. Das historische Wahrscheinlichkeitsurteil lautet: "Eines einfachen bäuerlichen Störers wie Jesus wegen hätte es der Konsultationen auf höchster Ebene nicht bedurft." So erübrigen sich alle weiteren Überlegungen zu den Kompetenzen jüdischer und römischer Gerichtsbarkeit.
Die Verspottung Jesu vor seiner Kreuzigung ist historisch gut möglich. "Jesus mag sehr wohl ausgepeitscht worden sein, wie das bei den Römern zur Vorbereitung der Verurteilten auf die Kreuzigung üblich war." Was die Evangelienüberlieferung darüber hinaus berichtet - Anspeien, Stoßen, Geißeln, Bekränzen und so weiter -, sei jedoch historisierte Prophetie, übernommen aus dem alttestamentlichen Sündenbockritual am großen Versöhnungstag aus Leviticus 16, aus Jesaja 50,6 oder verschiedenen Passagen des Sacharja-Buches. Gerade in diesem für Crossans These zentralen Kapitel "Beschimpfung" wird das Fragwürdige seiner methodischen Grundentscheidung besonders deutlich. Denn als eines der Vorbilder der Verspottungsszene im "Kreuzesevangelium" zitiert Crossan einen Ausschnitt aus der Klageschrift des jüdischen Philosophen Philo von Alexandrien gegen den römischen Statthalter Flaccus. Geschildert wird dort, wie im Rahmen der Unruhen beim Besuch des jüdischen Königs Agrippa I. in Alexandrien ein Verrückter mit Namen Carabas in das Gymnasium der Stadt getrieben und dort als König mit Krone und Szepter aus Papyrus verhöhnt wird. Da Crossan Analogien im Sinne literarischer oder traditionsgeschichtlicher Abhängigkeiten interpretiert, kommt er zu der Behauptung, der Verfasser des Petrus-Evangeliums habe schriftgelehrte Prophetien "nach dem Muster eines Berichts wie dem, den man in Philos Klageschrift findet, in eine Passionserzählung übertragen". Viel näher liegt doch die Annahme einer tatsächlichen historischen Analogie, was eine Stilisierung durch den jeweiligen Berichterstatter nicht ausschließt.
Während für Crossan die Ausmalung der Kreuzigungsszene wieder historisierte Prophetie - insbesondere von Psalm 22 - ist, läßt sich dies von den Erzählungen über die Grablegung nicht feststellen: "Denn welche Prophezeiungen gab es hierzu, die in Geschichte hätten umgesetzt werden können? Bei den Grablegungsgeschichten handelt es sich vielmehr um die Erfüllung von Wunschträumen mit apologetischer und polemischer Tendenz."
Crossans Analysen enden nicht mit dem Tod Jesu. Die Berichte der Evangelisten über die Passion gehören zusammen mit denjenigen über die Entdeckung des leeren Grabes und die Auferstehung. Der Versuchung, sich mit dem Verweis auf das "ganz andere" der Ostergeschichten aus der Affäre zu ziehen, erliegt er nicht. Gegen manche laue binnentheologische Sprachregelung stellt er fest: "Kein Evangelium hält am verschlossenen Grab inne und sagt praktisch, der Rest sei unbeschreibliches Geheimnis und gemeinsamer Glauben. Die Geschichte geht weiter, und es gibt nicht den mindesten offenen Hinweis, der uns warnte zu bedenken, daß wir nun das normale Raum-Zeit-Kontinuum verließen."
Die Berichte vom leeren Grab und der Auferstehung setzen in Geschichte um, was das Alte Testament verheißt, die Rechtfertigung des unschuldig Leidenden und Verfolgten. Verfolgungs- und Rechtfertigungsprophezeiung gehören zusammen, die "Texte aus den Büchern der Propheten und den Psalmen, in denen die ersten Christen Jesu Passion vorgezeichnet fanden, enthielten gewöhnlich beide Elemente. Auferstehung und Parusie sind Sonderfälle der Rechtfertigung, aber im Kern der Passionsprophetie findet man die Vorstellung von der Rechtfertigung der Unschuld." Der Osterglaube ist deutlich vor Ostern entstanden: "Er begann unter jenen ersten Nachfolgern Jesu in Galiläa lange vor seinem Tod, und gerade, weil es Glaube als Ermächtigung und nicht als Beherrschung war, konnte dieser Glaube überleben und faktisch schließlich sogar die Hinrichtung Jesu negieren." Weil Crossan den Evangelien historisch insgesamt wenig zutraut, gelingt es ihm, die Ostergeschichten ohne methodischen oder interpretativen Bruch zu integrieren, sie sind "vollkommen gültige Gleichnisse, ähnlich wie die Geschichte vom guten Samariter".
Wo es einen unschuldig Getöteten gibt, muß es Schuldige geben. Die Passionserzählungen behaupten übereinstimmend, "daß der römische Statthalter Pilatus Jesus für unschuldig hielt und daß dieser auf Betreiben der Juden hingerichtet wurde". In Geschichte umgesetzte Prophetie ist hier nicht zu entdecken - handelt es sich also um historische Fakten? Vergleicht man die Fassung des Petrus-Evangeliums mit derjenigen des Matthäus, so ergeben sich markante Differenzen. Einerseits ist Pilatus nur im Petrus-Evangelium wirklich unschuldig an Jesu Tod, ja, er reagiert auf die Berichte von seiner Auferstehung mit einer Art Bekenntnis, während er bei Matthäus als mitverantwortlicher Heuchler erscheint. Andererseits schiebt Matthäus viel deutlicher "dem ganzen Volk" der Juden die fortdauernde Schuld am Tode Jesu zu, während sie nach Petrus angesichts der Wunder beim Tod Jesu ihr Tun schon bereuen. Ein Befund, der aus dem postulierten historischen Kontext der jeweiligen Quelle erklärt wird. Der Historiker wechselt die Ebene.
Schon der Untertitel des Bandes rückt die Frage nach der Verantwortung am Tod Jesu in eine wirkungsgeschichtliche Perspektive. Und mit Macht drängt es Crossan aus dem exegetischen Elfenbeinturm, wenn er schreibt: "Solange die Christen eine unterprivilegierte Randgruppe waren, schadeten ihre Passionserzählungen, welche die Juden als schuldig am Tode Jesu hinstellten, die Römer aber von jeder Schuld daran entlasteten, im Grunde niemandem. Doch als dann das römische Reich christlich wurde, wurde die Fabel mörderisch", die ursprünglich innerjüdische Propagandalüge zeitigte schreckliche Wirkungen. Christlicher Antijudaismus und Antisemitismus geben der historischen Arbeit ihren besonderen ethischen Ernst. Leider unterläßt es der Verfasser aber ganz und gar, dem Vorwurf des Christus-Mordes und seiner antijüdischen Ausbeutung durch die Jahrhunderte genauer nachzugehen. So findet an diesem Punkt keine wirkliche Aufklärung statt, sondern es bleibt bei bloßen Behauptungen und rhetorischen Fragen: "Man bedenke nun, wie jene Erzählungen von der Passion und Auferstehung Jesu in einer vorwiegend christlichen Welt wirken mußten. Haben diese Erzählungen gewisse Leute aufgehetzt zum Morden?"
Die historische Rückfrage "Wer hat Jesus getötet?" erhält bei Crossan eine in der Sache wissenschaftlich mehrheitlich konsensfähige, aber angesichts der entwickelten Perspektive ernüchternde Antwort. Sie findet sich schon bei Flavius Josephus, dem Historiker aus einer Jerusalemer Priesterfamilie, der im ersten jüdischen Krieg in das feindliche Lager überwechselte und seinen Lebensabend in Rom verbrachte: Jesus wurde "von Pilatus auf Betreiben der Vornehmsten unseres Volkes zum Kreuzestod" verurteilt. Auch wer "nur" die kanonischen Evangelien und das christliche Credo kennt, kann von dieser Einsicht nicht wirklich überrascht sein.
HERMUT LÖHR
John Dominic Crossan: "Wer tötete Jesus?" Die Ursprünge des christlichen Antisemitismus in den Evangelien. Aus dem Englischen von Peter Hahlbrock. C. H. Beck Verlag, München 1999. 281 S., geb., 48,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main