Ingeborg Bachmann ist ein Mythos der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur. Die divenhaften Auftritte und die frühe Berühmtheit, die Beziehungen mit Paul Celan und Max Frisch und nicht zuletzt ihr rätselhafter, tragischer Tod sorgen für ein glamouröses Bild.
Ina Hartwig schaut hinter die Fassade und entdeckt in zahlreichen Gesprächen mit Zeitzeugen wie Hans Magnus Enzensberger, Martin Walser oder Henry Kissinger eine andere Persönlichkeit: Ingeborg Bachmann als politisch denkende Intellektuelle und Medienprofi, als Dichterin, die trotz all ihrer Gefährdungen überrascht mit Witz und lebenspraktischer Klugheit.
Ina Hartwig schaut hinter die Fassade und entdeckt in zahlreichen Gesprächen mit Zeitzeugen wie Hans Magnus Enzensberger, Martin Walser oder Henry Kissinger eine andere Persönlichkeit: Ingeborg Bachmann als politisch denkende Intellektuelle und Medienprofi, als Dichterin, die trotz all ihrer Gefährdungen überrascht mit Witz und lebenspraktischer Klugheit.
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Wie schreibt man über eine Dichterin, deren umfassende Biografie vor gerade mal vier Jahren von Andrea Stoll veröffentlicht wurde, ohne nur bereits bekanntes Terrain abzuschreiten, fragt sich Rezensent Stephan Wackwitz. Ina Hartwig tut dies, indem sie sich die Frage "Wer war Ingeborg Bachmann?" im gleichnamigen Buch in essayistischer Form widmet und nicht eine auf die andere Lebensstation in chronologischer Reihenfolge abgeht. Das Biografische tritt hier also in den Hintergrund, wird sensibel interpretiert und mit den Eindrücken eigener Begegnungen aufgearbeitet, erzählt der Rezensent, der das höchst gelungen findet: Die entschieden als solche konzipierten Fragmente ergeben für ihn eine intelligente und stellenweise geradezu beeindruckende psychoanalytische Arbeit, welche die Stärken der Methode untermale.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.01.2018Hingetrimmt zum Typus neuer Weiblichkeit
Ina Hartwigs Annäherung an Ingeborg Bachmann ist mehr eigener Erfahrungsbericht als Biographie
Das Buch beginnt am Ende: beim "Krieg am Sterbebett". Ingeborg Bachmann hat ihr Kunststoffnachthemd mit einer Zigarette versengt und liegt mit Brandverletzungen auf einer Intensivstation des römischen Hospitals Sant'Eugenio. Gespräche mit der Patientin, um die sich Ärzte bemühen, können per Telefon geführt werden. Die Verbrennungen sind schwer, aber vielleicht doch nicht lebensgefährlich. Informationen über die Drogenabhängigkeit der Patientin fließen spät und nur spärlich. Vielleicht hätte die Behandlung besser auf den vom Entzug geplagten Körper eingestellt werden müssen. Nach einiger Zeit fällt Bachmann ins Koma und stirbt am 17. Oktober 1973. Zu diesem Zeitpunkt tobt bereits der Kampf um die Deutungshoheit zwischen Bekannten, Freunden und Familienmitgliedern, der sich in der Öffentlichkeit und Forschung fortsetzt. Bachmann hatte sich jahrelang mit dem "Todesarten"-Projekt befasst, zu dem auch das Flammeninferno des Romans "Malina" (1972) zählt. War es da nicht konsequent, dass Leben und Werk in einem tödlichen Feuer miteinander verschmelzen? Was aber hätte es für den Mythos "Bachmann" bedeutet, wenn sie nicht den Flammen zum Opfer gefallen wäre, sondern lediglich ihrer Drogensucht?
Ina Hartwig, lange Jahre als Journalistin tätig, seit 2016 Kulturdezernentin in Frankfurt, wertet die schriftlichen Quellen kenntnisreich aus. Vor allem aber verschafft sie sich ein lebendiges Bild vom Schicksal Ingeborg Bachmanns. Auf einer Berliner Party etwa unterhält sie sich zufällig mit einer Schriftstellerin, die als Kind in der Nachbarschaft von Heidi Auer lebte - über die Arztgattin konnte Bachmann ihre Tablettensucht befriedigen. "Und so ergab sich eines aus dem anderen": Im Telefongespräch bestätigt die Tochter Heidi Auers, wie "maßlos" und "freizügig" die Eltern mit Medikamenten umgegangen waren. Dann ein Schnitt: In Rom fährt Hartwig die Strecke ab, die der Krankenwagen mit der verletzten Ingeborg Bachmann genommen hatte. Im Krankenhaus entdeckt sie die alten Wandtelefone, mit denen man einst in den Krankenzimmern anrufen konnte. Ihre Begleiterin, Ruth Beckermann, stellt ohne Erlaubnis eine Kamera auf. Polizisten greifen ein. Sie befinden sich in Alarmbereitschaft, weil eine Woche zuvor in Paris das islamistische Attentat auf die Redaktion von "Charlie Hebdo" stattgefunden hat. Beckermann hat ihren Ausweis im Hotel vergessen, wird abgeführt und von einem Kommissariat ins nächste verfrachtet. Das eigentliche Delikt, die unerlaubten Filmaufnahmen, spielen keine Rolle mehr. "Die Aufnahmen hatten wir".
Für die Frage, wer den "Krieg am Sterbebett" gewonnen hat, folgt daraus nichts. Unmerklich driftet Hartwig von einer Szene zur anderen, von der Vergangenheit in die Gegenwart. Sie nutzt die Gunst der Stunde, zufällige Begegnungen, Funde bei Gelegenheit. Bisweilen vertieft sie ihre Analyse, bohrt sich in eine Fragestellung. Bachmanns politische Einstellung wird genauer durchleuchtet oder das zwiespältige Verhältnis zum Vater, einem NSDAP-Mitglied und Wehrmachtsoffizier. Manchmal begnügt Hartwig sich mit einem klugen Arrangement von Gerüchten, Meinungen und Erinnerungen, stellt die richtigen Fragen, lässt die Antwort jedoch offen.
Einige Recherchen belegen lediglich, wie unzuverlässig die Informationen sind. Bei der Suche etwa nach dem Berliner Domizil Ingeborg Bachmanns erinnert sich Peter Härtling genau an eine Wohnung im Parterre, Adolf Opel an eine im ersten Obergeschoss, und eine Nachbarin ist sich sicher, dass Ingeborg Bachmann im zweiten Stock gewohnt hat. Diese Angabe wird von einer Nachmieterin bestätigt. In den "Gesprächen mit Zeitzeugen", die sich häufig spontan am "Rand einer Party oder einer Veranstaltung" ergeben, verraten Enzensberger, Martin Walser oder Peter Handke womöglich mehr über sich als über Ingeborg Bachmann. Dieser locker-lose Zugriff verleiht der ganzen Darstellung etwas unaufdringlich Leichtes selbst dort, wo die Analyse in die seelischen Abgründe Bachmanns blickt. Ina Hartwig beherrscht die große Kunst der Beiläufigkeit.
Wer also war Ingeborg Bachmann? Eine drogensüchtige Diva, mit einem Hang zu erotischen Exzessen, die unter ihrer verblassenden körperlichen Attraktivität litt? Eine Autorin, die ihren Vaterkomplex emotional und intellektuell ungenügend verarbeitet, ihre privaten Probleme aufgebläht und sich daher - auch literarisch - zum Opfer der deutschen Geschichte überhöht hat? Eine Entertainerin mit einem erstaunlichen "Talent für versöhnlerische Seifenopern"? Eine schüchterne Frau, die ihre Unsicherheit hinter Allüren verbarg? Oder eine kühle Strategin, die männliche Eitelkeiten für sich nutzte und sich in der Dichterkonkurrenz - auch mit ihrem geliebten Paul Celan - behauptete? Für eine Variante interessieren sich die "Bruchstücke einer Biographie" bemerkenswert wenig: für Ingeborg Bachmann als eine der bedeutendsten deutschsprachigen Lyrikerinnen, die die Sprachnot ihrer Zeit in Worte gefasst und den literarischen Nachkriegssound geprägt hat.
Ingeborg Bachmann machte öffentlich ganz unterschiedlich Eindruck. Die von ihr kursierenden Fotos sagen vor allem etwas über die "Bildermaschine" aus, die Eindrücke von Bachmann nach außen projizierte, weniger über das Innenleben der Person. Daher erzählt Hartwig immer auch über die Milieus, in denen sich Bachmann bewegt hat, und über den Zustand der literarischen Öffentlichkeit. Als etwa Bachmanns Gesicht mit dem legendären "Spiegel"-Titel vom 18. August 1954 ins bundesrepublikanische Kulturpublikum "geschleudert" wurde, richtete das Nachrichtenmagazin die kunstvolle Fotografie Herbert Lists noch einmal zu. Spiegelverkehrt und aus dem Kontext gelöst blickt Bachmann "irr verdreht" irgendwohin. Die grobe Physiognomie und die achtlos drapierte Kurzhaarfrisur, der dunkel geschminkte Mund und der im Ansatz gerade noch erkennbare schwarze Rollkragenpullover: alles provoziert die geläufigen Frauenbilder und zielt auf einen "Typus neuer Weiblichkeit", ungeschönt und irritierend. Der Autor der Titelgeschichte kommt mit dieser Zumutung nicht zurecht und ergeht sich in despektierlichen Bemerkungen. Dass er dann auch noch Paul Celan in eine Reihe mit dem "SS-Soldaten" George Forestier stellt, zeigt nur besonders deutlich, wie die "Verdrängung und Geschichtsklitterung der fünfziger Jahre" darin den Ton angeben - "eine Zeitkapsel öffnet sich".
Ähnlich aufschlussreich behandelt Hartwig den Berlin-Besuch Bachmanns als Stipendiatin der Ford Foundation in den sechziger Jahren. Mit Feingefühl zerlegt sie die Selbstinszenierung der Dichterin, die sich - staatlich aufs beste alimentiert - dem Leid am hässlichen Deutschland und seinen Bewohnern hingab. Ihr Alkohol- und Tablettenkonsum war immens. Sie fühlte sich einsam, allein aber lebte sie gewiss nicht, denn Günter Grass, Uwe Johnson, Hans-Werner Richter oder Peter Szondi nahmen sich für Bachmann viel Zeit. Noch einmal entstanden große Gedichte, wie etwa "Böhmen liegt am Meer", vor allem aber kristallisierte sich in diesen Jahren das "Todesarten"-Projekt heraus. Die Lyrikerin wurde zur Romanautorin.
Die Rede zur Verleihung des Büchner-Preises, den Bachmann 1964 erhielt, liest Hartwig kunstvoll als Arbeit an jenem düster-schweren Motivreservoir, das auf den berühmten letzten Satz von "Malina" zuläuft: "Es war Mord." Hartwig zeigt in einer luziden Analyse, wie sich das Finale auf das "Unbewusste einer Frau" bezieht, "das in sich selbst mörderisch ist". Die Kernidee des Romans sieht sie darin, "dass die beschädigten Seelen der Frauen den äußeren Krieg, den Krieg der männlichen Welt, in sich aufgenommen haben und deshalb - sterben müssen". Umso geheimnisvoller, dass sich während der biographischen Recherche ausgerechnet die Beziehung Bachmanns zu Henry Kissinger, dem "konservativen, gnadenlosen Machtpolitiker", zum heimlichen roten Faden entwickelt hat. Ina Hartwig lässt solche überraschenden Wendungen zu. Darin zeigt sich die "Zeitgenossenschaft Ingeborg Bachmanns" in "ihrer vollen abenteuerlichen Dimension".
STEFFEN MARTUS
Ina Hartwig: "Wer war Ingeborg Bachmann?" Eine Biographie in Bruchstücken.
Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2017. 320 S., Abb., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ina Hartwigs Annäherung an Ingeborg Bachmann ist mehr eigener Erfahrungsbericht als Biographie
Das Buch beginnt am Ende: beim "Krieg am Sterbebett". Ingeborg Bachmann hat ihr Kunststoffnachthemd mit einer Zigarette versengt und liegt mit Brandverletzungen auf einer Intensivstation des römischen Hospitals Sant'Eugenio. Gespräche mit der Patientin, um die sich Ärzte bemühen, können per Telefon geführt werden. Die Verbrennungen sind schwer, aber vielleicht doch nicht lebensgefährlich. Informationen über die Drogenabhängigkeit der Patientin fließen spät und nur spärlich. Vielleicht hätte die Behandlung besser auf den vom Entzug geplagten Körper eingestellt werden müssen. Nach einiger Zeit fällt Bachmann ins Koma und stirbt am 17. Oktober 1973. Zu diesem Zeitpunkt tobt bereits der Kampf um die Deutungshoheit zwischen Bekannten, Freunden und Familienmitgliedern, der sich in der Öffentlichkeit und Forschung fortsetzt. Bachmann hatte sich jahrelang mit dem "Todesarten"-Projekt befasst, zu dem auch das Flammeninferno des Romans "Malina" (1972) zählt. War es da nicht konsequent, dass Leben und Werk in einem tödlichen Feuer miteinander verschmelzen? Was aber hätte es für den Mythos "Bachmann" bedeutet, wenn sie nicht den Flammen zum Opfer gefallen wäre, sondern lediglich ihrer Drogensucht?
Ina Hartwig, lange Jahre als Journalistin tätig, seit 2016 Kulturdezernentin in Frankfurt, wertet die schriftlichen Quellen kenntnisreich aus. Vor allem aber verschafft sie sich ein lebendiges Bild vom Schicksal Ingeborg Bachmanns. Auf einer Berliner Party etwa unterhält sie sich zufällig mit einer Schriftstellerin, die als Kind in der Nachbarschaft von Heidi Auer lebte - über die Arztgattin konnte Bachmann ihre Tablettensucht befriedigen. "Und so ergab sich eines aus dem anderen": Im Telefongespräch bestätigt die Tochter Heidi Auers, wie "maßlos" und "freizügig" die Eltern mit Medikamenten umgegangen waren. Dann ein Schnitt: In Rom fährt Hartwig die Strecke ab, die der Krankenwagen mit der verletzten Ingeborg Bachmann genommen hatte. Im Krankenhaus entdeckt sie die alten Wandtelefone, mit denen man einst in den Krankenzimmern anrufen konnte. Ihre Begleiterin, Ruth Beckermann, stellt ohne Erlaubnis eine Kamera auf. Polizisten greifen ein. Sie befinden sich in Alarmbereitschaft, weil eine Woche zuvor in Paris das islamistische Attentat auf die Redaktion von "Charlie Hebdo" stattgefunden hat. Beckermann hat ihren Ausweis im Hotel vergessen, wird abgeführt und von einem Kommissariat ins nächste verfrachtet. Das eigentliche Delikt, die unerlaubten Filmaufnahmen, spielen keine Rolle mehr. "Die Aufnahmen hatten wir".
Für die Frage, wer den "Krieg am Sterbebett" gewonnen hat, folgt daraus nichts. Unmerklich driftet Hartwig von einer Szene zur anderen, von der Vergangenheit in die Gegenwart. Sie nutzt die Gunst der Stunde, zufällige Begegnungen, Funde bei Gelegenheit. Bisweilen vertieft sie ihre Analyse, bohrt sich in eine Fragestellung. Bachmanns politische Einstellung wird genauer durchleuchtet oder das zwiespältige Verhältnis zum Vater, einem NSDAP-Mitglied und Wehrmachtsoffizier. Manchmal begnügt Hartwig sich mit einem klugen Arrangement von Gerüchten, Meinungen und Erinnerungen, stellt die richtigen Fragen, lässt die Antwort jedoch offen.
Einige Recherchen belegen lediglich, wie unzuverlässig die Informationen sind. Bei der Suche etwa nach dem Berliner Domizil Ingeborg Bachmanns erinnert sich Peter Härtling genau an eine Wohnung im Parterre, Adolf Opel an eine im ersten Obergeschoss, und eine Nachbarin ist sich sicher, dass Ingeborg Bachmann im zweiten Stock gewohnt hat. Diese Angabe wird von einer Nachmieterin bestätigt. In den "Gesprächen mit Zeitzeugen", die sich häufig spontan am "Rand einer Party oder einer Veranstaltung" ergeben, verraten Enzensberger, Martin Walser oder Peter Handke womöglich mehr über sich als über Ingeborg Bachmann. Dieser locker-lose Zugriff verleiht der ganzen Darstellung etwas unaufdringlich Leichtes selbst dort, wo die Analyse in die seelischen Abgründe Bachmanns blickt. Ina Hartwig beherrscht die große Kunst der Beiläufigkeit.
Wer also war Ingeborg Bachmann? Eine drogensüchtige Diva, mit einem Hang zu erotischen Exzessen, die unter ihrer verblassenden körperlichen Attraktivität litt? Eine Autorin, die ihren Vaterkomplex emotional und intellektuell ungenügend verarbeitet, ihre privaten Probleme aufgebläht und sich daher - auch literarisch - zum Opfer der deutschen Geschichte überhöht hat? Eine Entertainerin mit einem erstaunlichen "Talent für versöhnlerische Seifenopern"? Eine schüchterne Frau, die ihre Unsicherheit hinter Allüren verbarg? Oder eine kühle Strategin, die männliche Eitelkeiten für sich nutzte und sich in der Dichterkonkurrenz - auch mit ihrem geliebten Paul Celan - behauptete? Für eine Variante interessieren sich die "Bruchstücke einer Biographie" bemerkenswert wenig: für Ingeborg Bachmann als eine der bedeutendsten deutschsprachigen Lyrikerinnen, die die Sprachnot ihrer Zeit in Worte gefasst und den literarischen Nachkriegssound geprägt hat.
Ingeborg Bachmann machte öffentlich ganz unterschiedlich Eindruck. Die von ihr kursierenden Fotos sagen vor allem etwas über die "Bildermaschine" aus, die Eindrücke von Bachmann nach außen projizierte, weniger über das Innenleben der Person. Daher erzählt Hartwig immer auch über die Milieus, in denen sich Bachmann bewegt hat, und über den Zustand der literarischen Öffentlichkeit. Als etwa Bachmanns Gesicht mit dem legendären "Spiegel"-Titel vom 18. August 1954 ins bundesrepublikanische Kulturpublikum "geschleudert" wurde, richtete das Nachrichtenmagazin die kunstvolle Fotografie Herbert Lists noch einmal zu. Spiegelverkehrt und aus dem Kontext gelöst blickt Bachmann "irr verdreht" irgendwohin. Die grobe Physiognomie und die achtlos drapierte Kurzhaarfrisur, der dunkel geschminkte Mund und der im Ansatz gerade noch erkennbare schwarze Rollkragenpullover: alles provoziert die geläufigen Frauenbilder und zielt auf einen "Typus neuer Weiblichkeit", ungeschönt und irritierend. Der Autor der Titelgeschichte kommt mit dieser Zumutung nicht zurecht und ergeht sich in despektierlichen Bemerkungen. Dass er dann auch noch Paul Celan in eine Reihe mit dem "SS-Soldaten" George Forestier stellt, zeigt nur besonders deutlich, wie die "Verdrängung und Geschichtsklitterung der fünfziger Jahre" darin den Ton angeben - "eine Zeitkapsel öffnet sich".
Ähnlich aufschlussreich behandelt Hartwig den Berlin-Besuch Bachmanns als Stipendiatin der Ford Foundation in den sechziger Jahren. Mit Feingefühl zerlegt sie die Selbstinszenierung der Dichterin, die sich - staatlich aufs beste alimentiert - dem Leid am hässlichen Deutschland und seinen Bewohnern hingab. Ihr Alkohol- und Tablettenkonsum war immens. Sie fühlte sich einsam, allein aber lebte sie gewiss nicht, denn Günter Grass, Uwe Johnson, Hans-Werner Richter oder Peter Szondi nahmen sich für Bachmann viel Zeit. Noch einmal entstanden große Gedichte, wie etwa "Böhmen liegt am Meer", vor allem aber kristallisierte sich in diesen Jahren das "Todesarten"-Projekt heraus. Die Lyrikerin wurde zur Romanautorin.
Die Rede zur Verleihung des Büchner-Preises, den Bachmann 1964 erhielt, liest Hartwig kunstvoll als Arbeit an jenem düster-schweren Motivreservoir, das auf den berühmten letzten Satz von "Malina" zuläuft: "Es war Mord." Hartwig zeigt in einer luziden Analyse, wie sich das Finale auf das "Unbewusste einer Frau" bezieht, "das in sich selbst mörderisch ist". Die Kernidee des Romans sieht sie darin, "dass die beschädigten Seelen der Frauen den äußeren Krieg, den Krieg der männlichen Welt, in sich aufgenommen haben und deshalb - sterben müssen". Umso geheimnisvoller, dass sich während der biographischen Recherche ausgerechnet die Beziehung Bachmanns zu Henry Kissinger, dem "konservativen, gnadenlosen Machtpolitiker", zum heimlichen roten Faden entwickelt hat. Ina Hartwig lässt solche überraschenden Wendungen zu. Darin zeigt sich die "Zeitgenossenschaft Ingeborg Bachmanns" in "ihrer vollen abenteuerlichen Dimension".
STEFFEN MARTUS
Ina Hartwig: "Wer war Ingeborg Bachmann?" Eine Biographie in Bruchstücken.
Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2017. 320 S., Abb., geb., 22,- [Euro].
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Ina Hartwigs Buch [...] reißt alle Türen und Fenster in der muffigen Bachmann-Kirche auf. Eva Menasse Die Zeit 20171123