Sankt Petersburg/Ludwigsburg 1992. Ein Mädchen reist mit den Eltern, der Großmutter und ihrem Bruder nach Deutschland aus, in die Freiheit. Was sie dafür zurücklässt, sind ihre geliebte Hündin Asta, die Märchen-Telefonnummer und fast alles, was sie mit Djeduschka, Opa, verbindet - letztlich ihre Kindheit. Im Westen merkt die Elfjährige, dass sie jetzt eine andere und «die Fremde» ist. Ein Flüchtlingskind im selbstgeschneiderten Parka, das die Wörter so komisch ausspricht, dass andere lachen. Auch für die Eltern ist es schwer, im Sehnsuchtswesten wächst ihre russische Nostalgie; und die stolze Großmutter, die mal einen Betrieb leitete, ist hier einfach eine alte Frau ohne Sprache. Das erst fremde Deutsch kann dem Mädchen helfen - beim Erwachsenwerden, bei der Eroberung jenes erhofften Lebens. Aber die Vorstellungen, was Freiheit ist, was sie erlaubt, unterscheiden sich zwischen Eltern und Tochter immer mehr. Vor allem, als sie selbst eine Familie gründet und Entscheidungen treffen muss.
Ein autobiographischer Roman, der zeigt, dass die Identität gerade im Zwiespalt zwischen Stolz und Scham, Eigensinn und Anpassung, Fremdsein und allem Dazwischen stark wird. «Wer wir sind» erzählt, wie eine Frau zu sich findet - und wer wir im heutigen Deutschland sind.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Ein autobiographischer Roman, der zeigt, dass die Identität gerade im Zwiespalt zwischen Stolz und Scham, Eigensinn und Anpassung, Fremdsein und allem Dazwischen stark wird. «Wer wir sind» erzählt, wie eine Frau zu sich findet - und wer wir im heutigen Deutschland sind.
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Ein herrlich poetisches Werk. Nora Gantenbrink SPIEGEL plus 20210626
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.05.2021Das Privileg der anderthalbten Generation
Lena Gorelik erklärt, wie heikel es ist, über die eigene Familie zu schreiben, was in der deutschen Sprache mit Gefühlen
passiert und ob man in Romanen gendern kann. Jetzt erscheint ihr neues Buch „Wer wir sind“
INTERVIEW: SIEGLINDE GEISEL
Wer wir sind“ heißt ihr neues Buch, in dem Lena Gorelik aus ihrer Familiengeschichte erzählt: 1992 verließen die Eltern mit ihren beiden Kindern und der Großmutter Sankt Petersburg und kamen als jüdische Kontingentflüchtlinge nach Deutschland. Seit ihrem 2004 erschienenen Romandebüt „Meine weißen Nächte“ ist Gorelik als Schriftstellerin bekannt.
SZ: Gab es für den Roman „Wer wir sind“ einen Auslöser?
Lena Gorelik: Es gab eher einen sehr lange unterdrückten Wunsch. Es stand immer die Frage im Hintergrund: Darf ich diese Geschichte erzählen? Ist das meine Geschichte? Wem gehört sie, was tue ich damit anderen an?
Das Buch trägt die Gattungsbezeichnung Roman. Doch eigentlich ist es eine Autobiografie.
Autofiktion ist das Wort, das im Literaturbetrieb gerade herumgereicht wird... Die Kunst des Romans liegt ja nicht im Erfinden der Geschichte, sondern in der Kunst des Erzählens. Und gerade bei diesem Roman ging es um all diese Fragen: Wie darf ich erzählen? Wo höre ich auf zu erzählen? Blicke ich mit meinen Augen, blicke ich mit den Augen der Mehrheitsgesellschaft, mit den Augen meiner Eltern?
Darf man die Ich-Erzählerin in diesem Roman ausnahmsweise mit der Autorin gleichsetzen?
Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht. Ich habe mir diese Gleichsetzung in meinen Romanen ja immer verboten. Aber diesmal würde ich sagen: Doch, Sie können mich mit dem Ich im Roman gleichsetzen. Vielleicht ärgere ich mich in drei Monaten über diesen Satz, aber heute sage ich ihn.
In dem Buch gibt es einerseits eine Chronologie der Ereignisse: das Leben in Petersburg, dann die Anfänge in Deutschland im Asylantenwohnheim einer schwäbischen Kleinstadt, die Erfahrung des Fremdseins und allmählich des Ankommens. Andererseits wechseln im Erzählen dieser Geschichte ständig Zeit und Ort.
Ich wusste weder, wo ich anfange, noch, wo ich aufhöre. Einen Monat vor der Abgabe telefonierte ich mit meinem Lektor und sagte: Ich könnte jetzt aufhören, und ich könnte noch zwei Jahre weiterschreiben. Es gibt nicht den Zeitpunkt, wo ich sage: Alles ist auserzählt, oder: Mir fehlen noch genau die drei Sachen.
In diesem Buch spielt die Frage nach der Sprache eine zentrale Rolle. Einmal heißt es, dass die Ich-Erzählerin sich „hinausschreibt aus alldem, aus der Unsicherheit, dem Fremdsein“. Ist es für Sie auch ein Akt der Befreiung, ihre Romane auf Deutsch zu schreiben?
Ich könnte gar keinen Roman auf Russisch schreiben, dazu ist mein Russisch nicht mehr gut genug. Ein Akt der Befreiung ist vielleicht zu groß gesagt. Ich würde eher von einem Akt des freien Willens sprechen, doch das betrifft eher die Entscheidung, das Russische mit in das Buch hineinzunehmen und mir die deutsche Sprache dadurch noch einmal von außen anzuschauen. Es war eine Selbstermächtigung: Ich mache mit der deutschen Sprache, was ich will, und wenn ich Lust habe, nehme ich die russische noch dazu.
In dem Roman tauchen immer wieder russische Wörter und Redewendungen in kyrillischer Schrift auf. Vielleicht eine Metapher für geglückte Einwanderung: Die fremden Wörter werden im Lauf der Lektüre selbstverständlich.
Eine Sprache wird bereichert durch den Einfluss anderer Sprachen, und ein Roman, in dem russische Worte vorkommen oder auch arabische oder sonst irgendwelche, ist für mich wie ein Geschenk an die deutsche Sprache. Ich habe die russischen Wörter sehr bewusst gewählt und geschaut: Wo hat die deutsche Sprache ihre Lücken, und wo wiederum hat die russische Sprache ihre Lücken?
Im Deutschen fehlen Ihnen die Gefühle, schreiben Sie einmal.
Weil die Gefühle im Deutschen schnell so einen Hauch von Pathos mitbringen. Wenn ich im Russischen etwas sage, dann ist es nicht pathetisch, sondern gefühlvoll.
In „Wer wir sind“ verwenden Sie manchmal den Genderstern. Was hat sie dazu bewogen?
Ich gendere nur da, wo wir im heutigen Kontext sind, weil es in den Neunzigern nun mal nicht gemacht wurde. Ich wünsche mir, dass dieses Gefühl, die literarische Sprache werde durch das Gendern gebrochen, mit der Zeit verschwindet. Mir geht es auch so, dass ich in einem Roman beim Lesen darüber stolpern würde. Doch dann dachte ich: Irgendjemand muss ja damit anfangen. Das Stolpern geht nicht weg, wenn man nicht damit beginnt. Ich versuche beim Sprechen zu gendern, und dann habe ich gemerkt, dass meine Kinder automatisch gendern, ohne dass ich jemals mit ihnen darüber gesprochen hätte. Vielleicht findet die nächste Generation das nicht mehr sonderbar, sondern sagt eher: Lustig, früher haben die ja gar nicht gegendert in der Literatur.
„Wer wir sind“ ist ein sehr persönliches Buch, Sie schreiben über Ihre Familie. An einer Stelle sagt die Mutter: „Schreib auf keinen Fall über uns.“ Wie sind Sie mit diesem Konflikt umgegangen?
Ich glaube, das ist es, was mich jahrelang davon abgehalten hat, das Buch zu schreiben. Eine Autorin hatte mir geraten zu warten, bis meine Eltern tot sind, doch das hätte ich unehrlich gefunden. Gary Shteyngart hat eine Autofiktion geschrieben, und da habe ich ihn gefragt: Wie hast du das Problem gelöst mit deinen Eltern? Er sagte: „Die können nicht genug Englisch, um das Buch zu lesen“, und in seinem Vertrag gibt es eine Klausel, dass das Buch in jede Sprache übersetzt werden darf, außer ins Russische. Ich habe Shteyngarts Buch meiner Mutter geschenkt, und sie rief mich nach fünfzig Seiten an und sagte: „Wie kann er das seiner Mutter nur antun!“ Dann dachte ich: Ok, das war’s, ich werde nie so etwas schreiben. Ich schreibe im Buch ja auch viel über die Frage: Darf ich oder darf ich nicht? Das ist kein Trick, sondern der Versuch, Verantwortung zu übernehmen.
Wie haben Ihre Eltern reagiert?
Ich hatte panische Angst, ihnen das Manuskript zu zeigen, doch zu meiner Überraschung waren sie unglaublich berührt. Am Ende waren sie beinahe dankbar – auch so ein großes Wort, sehen Sie, da ist das Pathos im Deutschen. Für mich ist das Buch ja auch eine Liebeserklärung an meine Eltern, schon wieder das Pathos.
Was hätten Sie gemacht, wenn Ihre Eltern sich gegen eine Veröffentlichung ausgesprochen hätten?
Dann hätte ich viel Stress mit meinem Verlag gehabt. Ich hätte es nicht gegen ihren Willen veröffentlicht.
Das ganze Buch handelt davon, wie Identität entsteht. Was haben Sie darüber herausgefunden?
Wenn ich sage: Wir sind das, wo wir herkommen, dann meine ich nicht nur das Land und die Kultur, sondern auch die Familie und die tradierten Geschichten, das Unerzählte und das Weitergegebene. Werden die Geschichten als Heldengeschichten weitergegeben oder als Opfergeschichten?
War das Schreiben von „Wer wir sind“ auch ein Emanzipationsprozess?
In jedem Interview kam die Frage: „Als was fühlen Sie sich? Was ist mit Ihrer Herkunft, wo ist Ihr Zuhause, was ist Ihre Muttersprache?“ Und ich war immer die, die antwortete, und häufig war ich auch die, die sagte: „Ich stelle mir gerade diese Frage nicht.“ Ich werde in die Auseinandersetzung gezwungen vom Außen. Und bei diesem Roman war es anders: Ich schreibe nicht, weil ihr mich fragt, sondern weil ich es will. Ich mach das nicht auf Knopfdruck.
In Dmitrij Kapitelmans Roman „Eine Formalie in Kiew“ gibt es den Satz: „Migration hört eigentlich nie auf.“ Wie sehen Sie das?
Ich hätte dem jahrelang widersprochen, weil ich das Gefühl hatte, diesen Integrationsforderungen entsprechen zu müssen, als könnte ich sagen: Ab heute bin ich integriert, ab heute bin ich deutsch, ich bin jetzt eine von euch. Doch mittlerweile würde ich das nicht mehr sagen. Mittlerweile würde ich sagen: Es ist schön, dass die Migration nie aufhört, es ist schön, dass das weitergeht. Meine Kinder sind hier geboren, und wenn ich an ihnen noch Spuren der Migration finde, dann freue ich mich.
Für Ihre Eltern war das anders. Sie hatten Angst, dass ihre Kinder das Russische verlieren könnten.
Ich habe mal gelernt, dass ich die anderthalbte Generation bin, ich kam ja mit elf Jahren als Kind nach Deutschland. Vielleicht ist das tatsächlich das Privileg der anderthalbten oder auch der zweiten Generation. Für die erste Generation sind keine Gemeinsamkeiten mehr da, wenn die eigenen Kinder die Kultur nicht mehr kennen, die Bräuche, die Feste. Doch wenn meine Kinder weniger Russisches kennen, haben wir ja immer noch das Deutsche gemeinsam. Natürlich möchte ich, dass sie auch das Russische kennen, aber ich habe keine Verlustangst. Die eigenen Kinder zu verlieren, das ist für meine Eltern eine ganz große immanente Angst, und für andere Kulturen gilt das möglicherweise noch mehr.
Das Thema der Scham ist geradezu ein Leitmotiv in Ihrem Buch. Ist es Ihnen schwergefallen, darüber zu schreiben?
Ich weiß gar nicht, ob mir das Schreiben darüber schwerfiel, aber ich habe gemerkt, dass es mir wahnsinnig schwerfiel, die Stellen mit der Scham zu lektorieren. Es hat sich alles in mir gewehrt, das noch mal zu lesen. Und ich glaube auch nicht, dass das die Stellen sind, die ich bei einer Lesung lesen würde. Es gibt ja auch die Scham über die Scham. Zu lernen, damit zu leben und zu sagen: „Das ist ein Teil von mir“ – das ist tatsächlich die schwerste Art von Akzeptanz.
Ist Scham ein Gefühl, das mit Migration immer verbunden ist?
Ich kenne niemanden, der eine Migrationserfahrung gemacht hat und diese Scham nicht kennt. Man wird als fremd konnotiert. Etwas wird plötzlich leuchtend orange angemalt, aber ohne, dass man sich selbst dafür entschieden hat. Es ist nicht so, dass ich sage: „Ich ziehe mir jetzt eine grelle Jacke an, und alle sollen gucken, wie ich aussehe.“ Ich bin der Mensch, der ich bis gestern noch war, doch alle sehen mich in grell. Und diese Scham, von außen als etwas erkannt zu werden, wofür man sich nicht entschieden hat, dem ist man ausgeliefert. Und deswegen, glaube ich, bleibt die Scham.
„Für mich ist das Buch ja auch
eine Liebeserklärung an meine
Eltern, schon wieder Pathos“
„Ich habe gemerkt, dass es
mir schwerfiel, die Stellen mit
der Scham zu lektorieren“
Lena Gorelik wurde 1981 im damaligen Leningrad geboren.
Foto: Christoph Hardt/imago/future image
Lena Gorelik: Wer wir sind. Roman. Rowohlt Berlin, Berlin 2021.
320 Seiten, 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Lena Gorelik erklärt, wie heikel es ist, über die eigene Familie zu schreiben, was in der deutschen Sprache mit Gefühlen
passiert und ob man in Romanen gendern kann. Jetzt erscheint ihr neues Buch „Wer wir sind“
INTERVIEW: SIEGLINDE GEISEL
Wer wir sind“ heißt ihr neues Buch, in dem Lena Gorelik aus ihrer Familiengeschichte erzählt: 1992 verließen die Eltern mit ihren beiden Kindern und der Großmutter Sankt Petersburg und kamen als jüdische Kontingentflüchtlinge nach Deutschland. Seit ihrem 2004 erschienenen Romandebüt „Meine weißen Nächte“ ist Gorelik als Schriftstellerin bekannt.
SZ: Gab es für den Roman „Wer wir sind“ einen Auslöser?
Lena Gorelik: Es gab eher einen sehr lange unterdrückten Wunsch. Es stand immer die Frage im Hintergrund: Darf ich diese Geschichte erzählen? Ist das meine Geschichte? Wem gehört sie, was tue ich damit anderen an?
Das Buch trägt die Gattungsbezeichnung Roman. Doch eigentlich ist es eine Autobiografie.
Autofiktion ist das Wort, das im Literaturbetrieb gerade herumgereicht wird... Die Kunst des Romans liegt ja nicht im Erfinden der Geschichte, sondern in der Kunst des Erzählens. Und gerade bei diesem Roman ging es um all diese Fragen: Wie darf ich erzählen? Wo höre ich auf zu erzählen? Blicke ich mit meinen Augen, blicke ich mit den Augen der Mehrheitsgesellschaft, mit den Augen meiner Eltern?
Darf man die Ich-Erzählerin in diesem Roman ausnahmsweise mit der Autorin gleichsetzen?
Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht. Ich habe mir diese Gleichsetzung in meinen Romanen ja immer verboten. Aber diesmal würde ich sagen: Doch, Sie können mich mit dem Ich im Roman gleichsetzen. Vielleicht ärgere ich mich in drei Monaten über diesen Satz, aber heute sage ich ihn.
In dem Buch gibt es einerseits eine Chronologie der Ereignisse: das Leben in Petersburg, dann die Anfänge in Deutschland im Asylantenwohnheim einer schwäbischen Kleinstadt, die Erfahrung des Fremdseins und allmählich des Ankommens. Andererseits wechseln im Erzählen dieser Geschichte ständig Zeit und Ort.
Ich wusste weder, wo ich anfange, noch, wo ich aufhöre. Einen Monat vor der Abgabe telefonierte ich mit meinem Lektor und sagte: Ich könnte jetzt aufhören, und ich könnte noch zwei Jahre weiterschreiben. Es gibt nicht den Zeitpunkt, wo ich sage: Alles ist auserzählt, oder: Mir fehlen noch genau die drei Sachen.
In diesem Buch spielt die Frage nach der Sprache eine zentrale Rolle. Einmal heißt es, dass die Ich-Erzählerin sich „hinausschreibt aus alldem, aus der Unsicherheit, dem Fremdsein“. Ist es für Sie auch ein Akt der Befreiung, ihre Romane auf Deutsch zu schreiben?
Ich könnte gar keinen Roman auf Russisch schreiben, dazu ist mein Russisch nicht mehr gut genug. Ein Akt der Befreiung ist vielleicht zu groß gesagt. Ich würde eher von einem Akt des freien Willens sprechen, doch das betrifft eher die Entscheidung, das Russische mit in das Buch hineinzunehmen und mir die deutsche Sprache dadurch noch einmal von außen anzuschauen. Es war eine Selbstermächtigung: Ich mache mit der deutschen Sprache, was ich will, und wenn ich Lust habe, nehme ich die russische noch dazu.
In dem Roman tauchen immer wieder russische Wörter und Redewendungen in kyrillischer Schrift auf. Vielleicht eine Metapher für geglückte Einwanderung: Die fremden Wörter werden im Lauf der Lektüre selbstverständlich.
Eine Sprache wird bereichert durch den Einfluss anderer Sprachen, und ein Roman, in dem russische Worte vorkommen oder auch arabische oder sonst irgendwelche, ist für mich wie ein Geschenk an die deutsche Sprache. Ich habe die russischen Wörter sehr bewusst gewählt und geschaut: Wo hat die deutsche Sprache ihre Lücken, und wo wiederum hat die russische Sprache ihre Lücken?
Im Deutschen fehlen Ihnen die Gefühle, schreiben Sie einmal.
Weil die Gefühle im Deutschen schnell so einen Hauch von Pathos mitbringen. Wenn ich im Russischen etwas sage, dann ist es nicht pathetisch, sondern gefühlvoll.
In „Wer wir sind“ verwenden Sie manchmal den Genderstern. Was hat sie dazu bewogen?
Ich gendere nur da, wo wir im heutigen Kontext sind, weil es in den Neunzigern nun mal nicht gemacht wurde. Ich wünsche mir, dass dieses Gefühl, die literarische Sprache werde durch das Gendern gebrochen, mit der Zeit verschwindet. Mir geht es auch so, dass ich in einem Roman beim Lesen darüber stolpern würde. Doch dann dachte ich: Irgendjemand muss ja damit anfangen. Das Stolpern geht nicht weg, wenn man nicht damit beginnt. Ich versuche beim Sprechen zu gendern, und dann habe ich gemerkt, dass meine Kinder automatisch gendern, ohne dass ich jemals mit ihnen darüber gesprochen hätte. Vielleicht findet die nächste Generation das nicht mehr sonderbar, sondern sagt eher: Lustig, früher haben die ja gar nicht gegendert in der Literatur.
„Wer wir sind“ ist ein sehr persönliches Buch, Sie schreiben über Ihre Familie. An einer Stelle sagt die Mutter: „Schreib auf keinen Fall über uns.“ Wie sind Sie mit diesem Konflikt umgegangen?
Ich glaube, das ist es, was mich jahrelang davon abgehalten hat, das Buch zu schreiben. Eine Autorin hatte mir geraten zu warten, bis meine Eltern tot sind, doch das hätte ich unehrlich gefunden. Gary Shteyngart hat eine Autofiktion geschrieben, und da habe ich ihn gefragt: Wie hast du das Problem gelöst mit deinen Eltern? Er sagte: „Die können nicht genug Englisch, um das Buch zu lesen“, und in seinem Vertrag gibt es eine Klausel, dass das Buch in jede Sprache übersetzt werden darf, außer ins Russische. Ich habe Shteyngarts Buch meiner Mutter geschenkt, und sie rief mich nach fünfzig Seiten an und sagte: „Wie kann er das seiner Mutter nur antun!“ Dann dachte ich: Ok, das war’s, ich werde nie so etwas schreiben. Ich schreibe im Buch ja auch viel über die Frage: Darf ich oder darf ich nicht? Das ist kein Trick, sondern der Versuch, Verantwortung zu übernehmen.
Wie haben Ihre Eltern reagiert?
Ich hatte panische Angst, ihnen das Manuskript zu zeigen, doch zu meiner Überraschung waren sie unglaublich berührt. Am Ende waren sie beinahe dankbar – auch so ein großes Wort, sehen Sie, da ist das Pathos im Deutschen. Für mich ist das Buch ja auch eine Liebeserklärung an meine Eltern, schon wieder das Pathos.
Was hätten Sie gemacht, wenn Ihre Eltern sich gegen eine Veröffentlichung ausgesprochen hätten?
Dann hätte ich viel Stress mit meinem Verlag gehabt. Ich hätte es nicht gegen ihren Willen veröffentlicht.
Das ganze Buch handelt davon, wie Identität entsteht. Was haben Sie darüber herausgefunden?
Wenn ich sage: Wir sind das, wo wir herkommen, dann meine ich nicht nur das Land und die Kultur, sondern auch die Familie und die tradierten Geschichten, das Unerzählte und das Weitergegebene. Werden die Geschichten als Heldengeschichten weitergegeben oder als Opfergeschichten?
War das Schreiben von „Wer wir sind“ auch ein Emanzipationsprozess?
In jedem Interview kam die Frage: „Als was fühlen Sie sich? Was ist mit Ihrer Herkunft, wo ist Ihr Zuhause, was ist Ihre Muttersprache?“ Und ich war immer die, die antwortete, und häufig war ich auch die, die sagte: „Ich stelle mir gerade diese Frage nicht.“ Ich werde in die Auseinandersetzung gezwungen vom Außen. Und bei diesem Roman war es anders: Ich schreibe nicht, weil ihr mich fragt, sondern weil ich es will. Ich mach das nicht auf Knopfdruck.
In Dmitrij Kapitelmans Roman „Eine Formalie in Kiew“ gibt es den Satz: „Migration hört eigentlich nie auf.“ Wie sehen Sie das?
Ich hätte dem jahrelang widersprochen, weil ich das Gefühl hatte, diesen Integrationsforderungen entsprechen zu müssen, als könnte ich sagen: Ab heute bin ich integriert, ab heute bin ich deutsch, ich bin jetzt eine von euch. Doch mittlerweile würde ich das nicht mehr sagen. Mittlerweile würde ich sagen: Es ist schön, dass die Migration nie aufhört, es ist schön, dass das weitergeht. Meine Kinder sind hier geboren, und wenn ich an ihnen noch Spuren der Migration finde, dann freue ich mich.
Für Ihre Eltern war das anders. Sie hatten Angst, dass ihre Kinder das Russische verlieren könnten.
Ich habe mal gelernt, dass ich die anderthalbte Generation bin, ich kam ja mit elf Jahren als Kind nach Deutschland. Vielleicht ist das tatsächlich das Privileg der anderthalbten oder auch der zweiten Generation. Für die erste Generation sind keine Gemeinsamkeiten mehr da, wenn die eigenen Kinder die Kultur nicht mehr kennen, die Bräuche, die Feste. Doch wenn meine Kinder weniger Russisches kennen, haben wir ja immer noch das Deutsche gemeinsam. Natürlich möchte ich, dass sie auch das Russische kennen, aber ich habe keine Verlustangst. Die eigenen Kinder zu verlieren, das ist für meine Eltern eine ganz große immanente Angst, und für andere Kulturen gilt das möglicherweise noch mehr.
Das Thema der Scham ist geradezu ein Leitmotiv in Ihrem Buch. Ist es Ihnen schwergefallen, darüber zu schreiben?
Ich weiß gar nicht, ob mir das Schreiben darüber schwerfiel, aber ich habe gemerkt, dass es mir wahnsinnig schwerfiel, die Stellen mit der Scham zu lektorieren. Es hat sich alles in mir gewehrt, das noch mal zu lesen. Und ich glaube auch nicht, dass das die Stellen sind, die ich bei einer Lesung lesen würde. Es gibt ja auch die Scham über die Scham. Zu lernen, damit zu leben und zu sagen: „Das ist ein Teil von mir“ – das ist tatsächlich die schwerste Art von Akzeptanz.
Ist Scham ein Gefühl, das mit Migration immer verbunden ist?
Ich kenne niemanden, der eine Migrationserfahrung gemacht hat und diese Scham nicht kennt. Man wird als fremd konnotiert. Etwas wird plötzlich leuchtend orange angemalt, aber ohne, dass man sich selbst dafür entschieden hat. Es ist nicht so, dass ich sage: „Ich ziehe mir jetzt eine grelle Jacke an, und alle sollen gucken, wie ich aussehe.“ Ich bin der Mensch, der ich bis gestern noch war, doch alle sehen mich in grell. Und diese Scham, von außen als etwas erkannt zu werden, wofür man sich nicht entschieden hat, dem ist man ausgeliefert. Und deswegen, glaube ich, bleibt die Scham.
„Für mich ist das Buch ja auch
eine Liebeserklärung an meine
Eltern, schon wieder Pathos“
„Ich habe gemerkt, dass es
mir schwerfiel, die Stellen mit
der Scham zu lektorieren“
Lena Gorelik wurde 1981 im damaligen Leningrad geboren.
Foto: Christoph Hardt/imago/future image
Lena Gorelik: Wer wir sind. Roman. Rowohlt Berlin, Berlin 2021.
320 Seiten, 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Perlentaucher-Notiz zur Dlf Kultur-Rezension
Rezensentin Sigrid Löffler mag den besonderen Ton von Lena Gorelik, der sie von anderen jungen AutorInnen, die ebenfalls in den Neunzigern als jüdische Kontingentflüchtlinge nach Deutschland kamen, unterscheidet. Auch in Goreliks neuem autobiografischen Roman erkennt die Kritikerin die schonungslose Offenheit, mit der die Autorin von Demütigung und Scham, Sehnsucht und Einsamkeit erzählt: Scham auch für ihre Eltern, die einst Ingenieure in Russland, in Deutschland als Zeitarbeiter und Putzfrau arbeiteten, Scham für deren Unbeholfenheit auf deutschen Ämtern und die "erstickende" Liebe der Tochter gegenüber, resümiert Löffler. Zugleich erlebt die Rezensentin, wie die Autorin sich während des Schreibens mit ihrer Herkunft "versöhnt" und sich Würde und Respekt erkämpft.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.06.2021Mit gebremstem Schaum
In "Wer wir sind" erzählt Lena Gorelik von ihrer russisch-jüdischen Familie, lässt die eigentliche große Frage aber unbeantwortet.
Ein deutsches Wort im aufgeregten russischen Kindergeplapper: Badeschaum. Die Entfremdung zwischen Tochter und Eltern beginnt schleichend. Wenn sie hört, wie andere ihren Eltern sagen, dass die erst einmal richtig Deutsch lernen sollten. Wenn sie genervt dabei zusieht, wie Vater und Mutter unbeholfen durch den deutschen Behördendschungel und den Tarifwabenplan navigieren. Für die Unsicherheit, die Hilflosigkeit, das Anderssein ihrer Eltern schämt sie sich. Was stellt Migration mit einem Kind, einer Familie, unserem Land an?
Lena Gorelik wurde 1981 in Sankt Petersburg geboren und wanderte 1992 mit ihrer russisch-jüdischen Familie nach Deutschland aus. Ihr autobiographischer Roman "Wer wir sind" handelt von ihrem Erwachsenwerden zwischen Sozialismus und Kapitalismus, zwischen Kollektivismus und Individualismus, zwischen beigefarbenem Parka und bunten Glitzerhaarspangen. In ihrer Schulzeit haderte sie damit, anders zu sein. In Russland war sie die Jüdin. In Deutschland ist sie die Russin.
Lena lebt mit ihrer Familie im "Asylantenheim", wie es in den Neunzigern noch heißt, ihre Mitschüler leben im Einfamilienhaus. Sie will Schriftstellerin werden, ihre Eltern möchten, dass sie einen "richtigen" Beruf ergreift. Gleichzeitig ist sie zum Glücklichsein verdammt. Schließlich sind die Eltern ihren Kindern zuliebe ausgewandert. "Wir hatten ja nichts; ihr sollt es besser haben" - das Familienmantra ist ein Aufstiegsversprechen.
Später versteckt Lena ihre Herkunft hinter einem schwäbischen Dialekt und Markenkleidung. Ihre Eltern findet sie peinlich. Deren Interesse an ihrem Leben erscheint ihr fürchterlich invasiv. Da unterscheidet sich ihre Pubertät kaum von der ihrer Mitschüler. Was an Lenas Eltern jedoch anders ist: In der Fremde sind sie wieder zu Kindern geworden. Lena muss für sie zwischen Sprachen und Kulturen übersetzen. Die sowjetischen Diplome sind in Deutschland nichts wert. Als Zeitarbeiter und Putzfrau bleiben sie unter ihren Möglichkeiten.
Je mehr Lena in Deutschland ankommt, desto weiter entfernt sie sich von ihren Eltern und deren Erwartungen. Sie zieht weg, ihre eigenen Kinder können kaum noch Russisch. Während sich die Familie nach der Ankunft in Deutschland zu fünft ein winziges Zimmer teilte, kommuniziert man nun aus der Ferne über das Smartphone. Eltern und Tochter definieren Familie jeweils anders."Sind wir noch eine Familie?", fragt sich die Mutter. Für Lena liegt darin ein Vorwurf.
Die Geschichte ihrer Familie erzählt Gorelik mutig, wütend und melancholisch. "Wer wir sind" ist ein Gegenentwurf zu ihrem 2004 veröffentlichten Roman "Meine weißen Nächte", der die Erfahrungen russischer Einwanderer mit viel Witz schilderte. Von den Erwartungen des deutschen Publikums, das Migrationsgeschichten gerne humoristisch verarbeitet haben möchte, sagt sich Gorelik in ihrem neuen Roman los: "Und die Menschen, die mir bei Lesungen zuhörten, lachten über meine Geschichte, immer an den von mir dafür vorgesehenen Stellen. Ich hielt die Pausen im Lesefluss ein, die, an denen sie über mich lachen sollten."
Ihre Protagonisten zeichnet sie im neuen Roman zärtlich und gleichzeitig so ehrlich, dass es weh tut. Etwa, wenn sie beschreibt, wie die Hände ihrer Eltern noch heute zittern, wenn sie einem Deutschen die Hand schütteln. Oder wie ihre Mutter die Hände knetet, während sie die Schulleiterin anbettelt, ihre Tochter nicht in die Klasse mit den Ausländerkindern zu stecken. Auch über sich selbst richtet Gorelik hart: Ihr Alter Ego im Roman schämt sich für die Scham, die sie den Eltern gegenüber empfindet, schämt sich für all die Fragen, die sie ihnen nicht gestellt hat. Gleichzeitig werden Szenen nur angerissen, bleiben Gedankengänge für den Leser vage. Entschuldigungen der erwachsenen Gorelik verflechten sich mit Lenas Kindheitserinnerungen.
Der Leser ist gewarnt, weil die Autorin klarstellt: "Später ordne ich meine Geschichte, aber nichts ergibt einen Sinn. Das Erzählen weigert sich, ein trotziges Kind, aufgeräumt zu werden. Ich erzähle eine Geschichte, die uns allen gehört, ich sammle alle ihre Geschichten in meiner." Bis zuletzt bleibt das Gefühl, einer fremden Familie beim Gespräch am Nachbartisch zuzuhören. Um gänzlich folgen zu können, muss man wohl dabei gewesen sein. In den Auseinandersetzungen zwischen Eltern und Kind kann man sich aber auch selbst wiedererkennen.
Der Roman will jedoch auch die ganz große Frage aufwerfen: Wer sind wir im heutigen Deutschland? Der Leser muss sich die Antwort in den eingestreuten Anekdoten allerdings selbst zusammensuchen. Wir erfahren, dass Lenas gutes Deutsch gelobt wird, wie viel Hass in einem "Wie bitte?" stecken kann und dass man das einzige jüdische Kind in der Klasse zur Expertin für den Nahost-Konflikt erklärt. Die Antwort auf die große Frage geht letztlich in der dichten Familienerzählung unter. Vielleicht sind wir im heutigen Deutschland aber auch die Gesamtheit unserer Geschichten.
ANNA SCHILLER
Lena Gorelik: "Wer wir sind". Roman.
Rowohlt Berlin Verlag,
Berlin 2021. 317 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
In "Wer wir sind" erzählt Lena Gorelik von ihrer russisch-jüdischen Familie, lässt die eigentliche große Frage aber unbeantwortet.
Ein deutsches Wort im aufgeregten russischen Kindergeplapper: Badeschaum. Die Entfremdung zwischen Tochter und Eltern beginnt schleichend. Wenn sie hört, wie andere ihren Eltern sagen, dass die erst einmal richtig Deutsch lernen sollten. Wenn sie genervt dabei zusieht, wie Vater und Mutter unbeholfen durch den deutschen Behördendschungel und den Tarifwabenplan navigieren. Für die Unsicherheit, die Hilflosigkeit, das Anderssein ihrer Eltern schämt sie sich. Was stellt Migration mit einem Kind, einer Familie, unserem Land an?
Lena Gorelik wurde 1981 in Sankt Petersburg geboren und wanderte 1992 mit ihrer russisch-jüdischen Familie nach Deutschland aus. Ihr autobiographischer Roman "Wer wir sind" handelt von ihrem Erwachsenwerden zwischen Sozialismus und Kapitalismus, zwischen Kollektivismus und Individualismus, zwischen beigefarbenem Parka und bunten Glitzerhaarspangen. In ihrer Schulzeit haderte sie damit, anders zu sein. In Russland war sie die Jüdin. In Deutschland ist sie die Russin.
Lena lebt mit ihrer Familie im "Asylantenheim", wie es in den Neunzigern noch heißt, ihre Mitschüler leben im Einfamilienhaus. Sie will Schriftstellerin werden, ihre Eltern möchten, dass sie einen "richtigen" Beruf ergreift. Gleichzeitig ist sie zum Glücklichsein verdammt. Schließlich sind die Eltern ihren Kindern zuliebe ausgewandert. "Wir hatten ja nichts; ihr sollt es besser haben" - das Familienmantra ist ein Aufstiegsversprechen.
Später versteckt Lena ihre Herkunft hinter einem schwäbischen Dialekt und Markenkleidung. Ihre Eltern findet sie peinlich. Deren Interesse an ihrem Leben erscheint ihr fürchterlich invasiv. Da unterscheidet sich ihre Pubertät kaum von der ihrer Mitschüler. Was an Lenas Eltern jedoch anders ist: In der Fremde sind sie wieder zu Kindern geworden. Lena muss für sie zwischen Sprachen und Kulturen übersetzen. Die sowjetischen Diplome sind in Deutschland nichts wert. Als Zeitarbeiter und Putzfrau bleiben sie unter ihren Möglichkeiten.
Je mehr Lena in Deutschland ankommt, desto weiter entfernt sie sich von ihren Eltern und deren Erwartungen. Sie zieht weg, ihre eigenen Kinder können kaum noch Russisch. Während sich die Familie nach der Ankunft in Deutschland zu fünft ein winziges Zimmer teilte, kommuniziert man nun aus der Ferne über das Smartphone. Eltern und Tochter definieren Familie jeweils anders."Sind wir noch eine Familie?", fragt sich die Mutter. Für Lena liegt darin ein Vorwurf.
Die Geschichte ihrer Familie erzählt Gorelik mutig, wütend und melancholisch. "Wer wir sind" ist ein Gegenentwurf zu ihrem 2004 veröffentlichten Roman "Meine weißen Nächte", der die Erfahrungen russischer Einwanderer mit viel Witz schilderte. Von den Erwartungen des deutschen Publikums, das Migrationsgeschichten gerne humoristisch verarbeitet haben möchte, sagt sich Gorelik in ihrem neuen Roman los: "Und die Menschen, die mir bei Lesungen zuhörten, lachten über meine Geschichte, immer an den von mir dafür vorgesehenen Stellen. Ich hielt die Pausen im Lesefluss ein, die, an denen sie über mich lachen sollten."
Ihre Protagonisten zeichnet sie im neuen Roman zärtlich und gleichzeitig so ehrlich, dass es weh tut. Etwa, wenn sie beschreibt, wie die Hände ihrer Eltern noch heute zittern, wenn sie einem Deutschen die Hand schütteln. Oder wie ihre Mutter die Hände knetet, während sie die Schulleiterin anbettelt, ihre Tochter nicht in die Klasse mit den Ausländerkindern zu stecken. Auch über sich selbst richtet Gorelik hart: Ihr Alter Ego im Roman schämt sich für die Scham, die sie den Eltern gegenüber empfindet, schämt sich für all die Fragen, die sie ihnen nicht gestellt hat. Gleichzeitig werden Szenen nur angerissen, bleiben Gedankengänge für den Leser vage. Entschuldigungen der erwachsenen Gorelik verflechten sich mit Lenas Kindheitserinnerungen.
Der Leser ist gewarnt, weil die Autorin klarstellt: "Später ordne ich meine Geschichte, aber nichts ergibt einen Sinn. Das Erzählen weigert sich, ein trotziges Kind, aufgeräumt zu werden. Ich erzähle eine Geschichte, die uns allen gehört, ich sammle alle ihre Geschichten in meiner." Bis zuletzt bleibt das Gefühl, einer fremden Familie beim Gespräch am Nachbartisch zuzuhören. Um gänzlich folgen zu können, muss man wohl dabei gewesen sein. In den Auseinandersetzungen zwischen Eltern und Kind kann man sich aber auch selbst wiedererkennen.
Der Roman will jedoch auch die ganz große Frage aufwerfen: Wer sind wir im heutigen Deutschland? Der Leser muss sich die Antwort in den eingestreuten Anekdoten allerdings selbst zusammensuchen. Wir erfahren, dass Lenas gutes Deutsch gelobt wird, wie viel Hass in einem "Wie bitte?" stecken kann und dass man das einzige jüdische Kind in der Klasse zur Expertin für den Nahost-Konflikt erklärt. Die Antwort auf die große Frage geht letztlich in der dichten Familienerzählung unter. Vielleicht sind wir im heutigen Deutschland aber auch die Gesamtheit unserer Geschichten.
ANNA SCHILLER
Lena Gorelik: "Wer wir sind". Roman.
Rowohlt Berlin Verlag,
Berlin 2021. 317 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main