Sankt Petersburg/Ludwigsburg 1992. Ein Mädchen reist mit den Eltern, der Großmutter und ihrem Bruder nach Deutschland aus, in die Freiheit. Was sie dafür zurücklässt, sind ihre geliebte Hündin Asta, die Märchen-Telefonnummer und fast alles, was sie mit Djeduschka, Opa, verbindet - letztlich ihre Kindheit. Im Westen merkt die Elfjährige, dass sie jetzt eine andere und «die Fremde» ist. Ein Flüchtlingskind im selbstgeschneiderten Parka, das die Wörter so komisch ausspricht, dass andere lachen. Auch für die Eltern ist es schwer, im Sehnsuchtswesten wächst ihre russische Nostalgie; und die stolze Großmutter, die mal einen Betrieb leitete, ist hier einfach eine alte Frau ohne Sprache. Das erst fremde Deutsch kann dem Mädchen helfen - beim Erwachsenwerden, bei der Eroberung jenes erhofften Lebens. Aber die Vorstellungen, was Freiheit ist, was sie erlaubt, unterscheiden sich zwischen Eltern und Tochter immer mehr. Vor allem, als sie selbst eine Familie gründet und Entscheidungen treffen muss.
Ein autobiographischer Roman, der zeigt, dass die Identität gerade im Zwiespalt zwischen Stolz und Scham, Eigensinn und Anpassung, Fremdsein und allem Dazwischen stark wird. «Wer wir sind» erzählt, wie eine Frau zu sich findet - und wer wir im heutigen Deutschland sind.
Ein autobiographischer Roman, der zeigt, dass die Identität gerade im Zwiespalt zwischen Stolz und Scham, Eigensinn und Anpassung, Fremdsein und allem Dazwischen stark wird. «Wer wir sind» erzählt, wie eine Frau zu sich findet - und wer wir im heutigen Deutschland sind.
Perlentaucher-Notiz zur Dlf Kultur-Rezension
Rezensentin Sigrid Löffler mag den besonderen Ton von Lena Gorelik, der sie von anderen jungen AutorInnen, die ebenfalls in den Neunzigern als jüdische Kontingentflüchtlinge nach Deutschland kamen, unterscheidet. Auch in Goreliks neuem autobiografischen Roman erkennt die Kritikerin die schonungslose Offenheit, mit der die Autorin von Demütigung und Scham, Sehnsucht und Einsamkeit erzählt: Scham auch für ihre Eltern, die einst Ingenieure in Russland, in Deutschland als Zeitarbeiter und Putzfrau arbeiteten, Scham für deren Unbeholfenheit auf deutschen Ämtern und die "erstickende" Liebe der Tochter gegenüber, resümiert Löffler. Zugleich erlebt die Rezensentin, wie die Autorin sich während des Schreibens mit ihrer Herkunft "versöhnt" und sich Würde und Respekt erkämpft.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.06.2021Mit gebremstem Schaum
In "Wer wir sind" erzählt Lena Gorelik von ihrer russisch-jüdischen Familie, lässt die eigentliche große Frage aber unbeantwortet.
Ein deutsches Wort im aufgeregten russischen Kindergeplapper: Badeschaum. Die Entfremdung zwischen Tochter und Eltern beginnt schleichend. Wenn sie hört, wie andere ihren Eltern sagen, dass die erst einmal richtig Deutsch lernen sollten. Wenn sie genervt dabei zusieht, wie Vater und Mutter unbeholfen durch den deutschen Behördendschungel und den Tarifwabenplan navigieren. Für die Unsicherheit, die Hilflosigkeit, das Anderssein ihrer Eltern schämt sie sich. Was stellt Migration mit einem Kind, einer Familie, unserem Land an?
Lena Gorelik wurde 1981 in Sankt Petersburg geboren und wanderte 1992 mit ihrer russisch-jüdischen Familie nach Deutschland aus. Ihr autobiographischer Roman "Wer wir sind" handelt von ihrem Erwachsenwerden zwischen Sozialismus und Kapitalismus, zwischen Kollektivismus und Individualismus, zwischen beigefarbenem Parka und bunten Glitzerhaarspangen. In ihrer Schulzeit haderte sie damit, anders zu sein. In Russland war sie die Jüdin. In Deutschland ist sie die Russin.
Lena lebt mit ihrer Familie im "Asylantenheim", wie es in den Neunzigern noch heißt, ihre Mitschüler leben im Einfamilienhaus. Sie will Schriftstellerin werden, ihre Eltern möchten, dass sie einen "richtigen" Beruf ergreift. Gleichzeitig ist sie zum Glücklichsein verdammt. Schließlich sind die Eltern ihren Kindern zuliebe ausgewandert. "Wir hatten ja nichts; ihr sollt es besser haben" - das Familienmantra ist ein Aufstiegsversprechen.
Später versteckt Lena ihre Herkunft hinter einem schwäbischen Dialekt und Markenkleidung. Ihre Eltern findet sie peinlich. Deren Interesse an ihrem Leben erscheint ihr fürchterlich invasiv. Da unterscheidet sich ihre Pubertät kaum von der ihrer Mitschüler. Was an Lenas Eltern jedoch anders ist: In der Fremde sind sie wieder zu Kindern geworden. Lena muss für sie zwischen Sprachen und Kulturen übersetzen. Die sowjetischen Diplome sind in Deutschland nichts wert. Als Zeitarbeiter und Putzfrau bleiben sie unter ihren Möglichkeiten.
Je mehr Lena in Deutschland ankommt, desto weiter entfernt sie sich von ihren Eltern und deren Erwartungen. Sie zieht weg, ihre eigenen Kinder können kaum noch Russisch. Während sich die Familie nach der Ankunft in Deutschland zu fünft ein winziges Zimmer teilte, kommuniziert man nun aus der Ferne über das Smartphone. Eltern und Tochter definieren Familie jeweils anders."Sind wir noch eine Familie?", fragt sich die Mutter. Für Lena liegt darin ein Vorwurf.
Die Geschichte ihrer Familie erzählt Gorelik mutig, wütend und melancholisch. "Wer wir sind" ist ein Gegenentwurf zu ihrem 2004 veröffentlichten Roman "Meine weißen Nächte", der die Erfahrungen russischer Einwanderer mit viel Witz schilderte. Von den Erwartungen des deutschen Publikums, das Migrationsgeschichten gerne humoristisch verarbeitet haben möchte, sagt sich Gorelik in ihrem neuen Roman los: "Und die Menschen, die mir bei Lesungen zuhörten, lachten über meine Geschichte, immer an den von mir dafür vorgesehenen Stellen. Ich hielt die Pausen im Lesefluss ein, die, an denen sie über mich lachen sollten."
Ihre Protagonisten zeichnet sie im neuen Roman zärtlich und gleichzeitig so ehrlich, dass es weh tut. Etwa, wenn sie beschreibt, wie die Hände ihrer Eltern noch heute zittern, wenn sie einem Deutschen die Hand schütteln. Oder wie ihre Mutter die Hände knetet, während sie die Schulleiterin anbettelt, ihre Tochter nicht in die Klasse mit den Ausländerkindern zu stecken. Auch über sich selbst richtet Gorelik hart: Ihr Alter Ego im Roman schämt sich für die Scham, die sie den Eltern gegenüber empfindet, schämt sich für all die Fragen, die sie ihnen nicht gestellt hat. Gleichzeitig werden Szenen nur angerissen, bleiben Gedankengänge für den Leser vage. Entschuldigungen der erwachsenen Gorelik verflechten sich mit Lenas Kindheitserinnerungen.
Der Leser ist gewarnt, weil die Autorin klarstellt: "Später ordne ich meine Geschichte, aber nichts ergibt einen Sinn. Das Erzählen weigert sich, ein trotziges Kind, aufgeräumt zu werden. Ich erzähle eine Geschichte, die uns allen gehört, ich sammle alle ihre Geschichten in meiner." Bis zuletzt bleibt das Gefühl, einer fremden Familie beim Gespräch am Nachbartisch zuzuhören. Um gänzlich folgen zu können, muss man wohl dabei gewesen sein. In den Auseinandersetzungen zwischen Eltern und Kind kann man sich aber auch selbst wiedererkennen.
Der Roman will jedoch auch die ganz große Frage aufwerfen: Wer sind wir im heutigen Deutschland? Der Leser muss sich die Antwort in den eingestreuten Anekdoten allerdings selbst zusammensuchen. Wir erfahren, dass Lenas gutes Deutsch gelobt wird, wie viel Hass in einem "Wie bitte?" stecken kann und dass man das einzige jüdische Kind in der Klasse zur Expertin für den Nahost-Konflikt erklärt. Die Antwort auf die große Frage geht letztlich in der dichten Familienerzählung unter. Vielleicht sind wir im heutigen Deutschland aber auch die Gesamtheit unserer Geschichten.
ANNA SCHILLER
Lena Gorelik: "Wer wir sind". Roman.
Rowohlt Berlin Verlag,
Berlin 2021. 317 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
In "Wer wir sind" erzählt Lena Gorelik von ihrer russisch-jüdischen Familie, lässt die eigentliche große Frage aber unbeantwortet.
Ein deutsches Wort im aufgeregten russischen Kindergeplapper: Badeschaum. Die Entfremdung zwischen Tochter und Eltern beginnt schleichend. Wenn sie hört, wie andere ihren Eltern sagen, dass die erst einmal richtig Deutsch lernen sollten. Wenn sie genervt dabei zusieht, wie Vater und Mutter unbeholfen durch den deutschen Behördendschungel und den Tarifwabenplan navigieren. Für die Unsicherheit, die Hilflosigkeit, das Anderssein ihrer Eltern schämt sie sich. Was stellt Migration mit einem Kind, einer Familie, unserem Land an?
Lena Gorelik wurde 1981 in Sankt Petersburg geboren und wanderte 1992 mit ihrer russisch-jüdischen Familie nach Deutschland aus. Ihr autobiographischer Roman "Wer wir sind" handelt von ihrem Erwachsenwerden zwischen Sozialismus und Kapitalismus, zwischen Kollektivismus und Individualismus, zwischen beigefarbenem Parka und bunten Glitzerhaarspangen. In ihrer Schulzeit haderte sie damit, anders zu sein. In Russland war sie die Jüdin. In Deutschland ist sie die Russin.
Lena lebt mit ihrer Familie im "Asylantenheim", wie es in den Neunzigern noch heißt, ihre Mitschüler leben im Einfamilienhaus. Sie will Schriftstellerin werden, ihre Eltern möchten, dass sie einen "richtigen" Beruf ergreift. Gleichzeitig ist sie zum Glücklichsein verdammt. Schließlich sind die Eltern ihren Kindern zuliebe ausgewandert. "Wir hatten ja nichts; ihr sollt es besser haben" - das Familienmantra ist ein Aufstiegsversprechen.
Später versteckt Lena ihre Herkunft hinter einem schwäbischen Dialekt und Markenkleidung. Ihre Eltern findet sie peinlich. Deren Interesse an ihrem Leben erscheint ihr fürchterlich invasiv. Da unterscheidet sich ihre Pubertät kaum von der ihrer Mitschüler. Was an Lenas Eltern jedoch anders ist: In der Fremde sind sie wieder zu Kindern geworden. Lena muss für sie zwischen Sprachen und Kulturen übersetzen. Die sowjetischen Diplome sind in Deutschland nichts wert. Als Zeitarbeiter und Putzfrau bleiben sie unter ihren Möglichkeiten.
Je mehr Lena in Deutschland ankommt, desto weiter entfernt sie sich von ihren Eltern und deren Erwartungen. Sie zieht weg, ihre eigenen Kinder können kaum noch Russisch. Während sich die Familie nach der Ankunft in Deutschland zu fünft ein winziges Zimmer teilte, kommuniziert man nun aus der Ferne über das Smartphone. Eltern und Tochter definieren Familie jeweils anders."Sind wir noch eine Familie?", fragt sich die Mutter. Für Lena liegt darin ein Vorwurf.
Die Geschichte ihrer Familie erzählt Gorelik mutig, wütend und melancholisch. "Wer wir sind" ist ein Gegenentwurf zu ihrem 2004 veröffentlichten Roman "Meine weißen Nächte", der die Erfahrungen russischer Einwanderer mit viel Witz schilderte. Von den Erwartungen des deutschen Publikums, das Migrationsgeschichten gerne humoristisch verarbeitet haben möchte, sagt sich Gorelik in ihrem neuen Roman los: "Und die Menschen, die mir bei Lesungen zuhörten, lachten über meine Geschichte, immer an den von mir dafür vorgesehenen Stellen. Ich hielt die Pausen im Lesefluss ein, die, an denen sie über mich lachen sollten."
Ihre Protagonisten zeichnet sie im neuen Roman zärtlich und gleichzeitig so ehrlich, dass es weh tut. Etwa, wenn sie beschreibt, wie die Hände ihrer Eltern noch heute zittern, wenn sie einem Deutschen die Hand schütteln. Oder wie ihre Mutter die Hände knetet, während sie die Schulleiterin anbettelt, ihre Tochter nicht in die Klasse mit den Ausländerkindern zu stecken. Auch über sich selbst richtet Gorelik hart: Ihr Alter Ego im Roman schämt sich für die Scham, die sie den Eltern gegenüber empfindet, schämt sich für all die Fragen, die sie ihnen nicht gestellt hat. Gleichzeitig werden Szenen nur angerissen, bleiben Gedankengänge für den Leser vage. Entschuldigungen der erwachsenen Gorelik verflechten sich mit Lenas Kindheitserinnerungen.
Der Leser ist gewarnt, weil die Autorin klarstellt: "Später ordne ich meine Geschichte, aber nichts ergibt einen Sinn. Das Erzählen weigert sich, ein trotziges Kind, aufgeräumt zu werden. Ich erzähle eine Geschichte, die uns allen gehört, ich sammle alle ihre Geschichten in meiner." Bis zuletzt bleibt das Gefühl, einer fremden Familie beim Gespräch am Nachbartisch zuzuhören. Um gänzlich folgen zu können, muss man wohl dabei gewesen sein. In den Auseinandersetzungen zwischen Eltern und Kind kann man sich aber auch selbst wiedererkennen.
Der Roman will jedoch auch die ganz große Frage aufwerfen: Wer sind wir im heutigen Deutschland? Der Leser muss sich die Antwort in den eingestreuten Anekdoten allerdings selbst zusammensuchen. Wir erfahren, dass Lenas gutes Deutsch gelobt wird, wie viel Hass in einem "Wie bitte?" stecken kann und dass man das einzige jüdische Kind in der Klasse zur Expertin für den Nahost-Konflikt erklärt. Die Antwort auf die große Frage geht letztlich in der dichten Familienerzählung unter. Vielleicht sind wir im heutigen Deutschland aber auch die Gesamtheit unserer Geschichten.
ANNA SCHILLER
Lena Gorelik: "Wer wir sind". Roman.
Rowohlt Berlin Verlag,
Berlin 2021. 317 S., geb., 22,- [Euro].
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Ein herrlich poetisches Werk. Nora Gantenbrink SPIEGEL plus 20210626