Artikel, Unterhaltungen, Vorworte und Reden - die hier zusammengetragenen Stellungnahmen und Positionierungen des Schriftstellers Jean Genet dokumentieren, dass Genet, obwohl er in seinen letzten zwanzig Lebensjahren sehr zurückgezogen lebte, in eindrucksvoller Weise in der Offentlichkeit prasent war. Von Chartres bis Chicago, von der Goutte d'or bis zu den Lagern von Sabra und Chatila, von den Ufern des Jordan bis in die Ghettos der African-Americans: Dieser Band der Werkausgabe ist das Protokoll eines literarischen und politischen Abenteurers, der sich an die Seite der Ausgestoßenen und Revoltierenden dieser Welt stellte und für sich selbst nie einen anderen Titel beanspruchte als den des Vagabunden. Der Band enthalt weitgehend noch nicht auf Deutsch übersetzte und veroffentlichte Texte, u.a. Genets berühmte May Day Speech vom 1. Mai 1970 sowie den als Vorwort zu Texten der RAF verfassten Essay Gewalt und Brutalitat. Die beigefügte Kurzbiografie und die umfangreichen editorischen Anmerkungen des Herausgebers Albert Dichy (IMEC) liefern eine wertvolle literarische Einordnung der Texte in das Oeuvre des franzosischen Dichters und Dramatikers.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Niklas Bender liest die Essays und Interviews von Jean Genet im Rahmen der Werkausgabe mit gemischten Gefühlen. Die Frage, wie man sich als heutiger Leser zu Genets in den Texten aus den Jahren 1968 bis 1975 dokumentiertem Hass auf die westliche Welt und zu seinem Engagement für die Palästinenser oder den Vietcong verhalten soll, treibt Bender um. Urteile des Autors, vor allem aber seine Sprache erregen Benders Widerwillen. Ist das einfach fehlgeleitet oder schon Pop-Folklore?, überlegt er. Oder darf der Leser nostalgisch werden angesichts von so viel Revoltenfuror? Bei Genets RAF-Engagement jedenfalls scheint ihm die Sache klar. Bender begreift es als Aufruf zur Gewalt. Interessant scheint ihm Genet immer dann, wenn der Autor nach historischen Erklärungen sucht, Empathie zeigt und einen "historischen und persönlichen Echoraum" öffnet, wie in dem Bericht aus einem libanesischen Palästinenser-Lager.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 31.08.2020An den Gestaden des Bösen
Er pries die RAF, hasste die USA und besang Mörder: Jean Genets
Essays und Interviews wirken wie Flaschenpost aus hemmungsloser Zeit
VON WILLI WINKLER
Am 2. September 1977 erschien auf der Titelseite der französischen Tageszeitung Le Monde ein Text mit dem Titel „Violence et brutalité“ (Gewalt und Brutalität), der internationales Aufsehen erregte. Der Bundestag beschäftigte sich mit dem Artikel, sogar der Staatspräsident Valéry Giscard d’Estaing sah sich in einem Telefongespräch mit Bundeskanzler Helmut Schmidt genötigt, seiner „Entrüstung“ Ausdruck zu geben.
Es handelte sich dabei um den Vorabdruck einer Einleitung, mit der Jean Genet Texte der deutschen Rote Armee Fraktion (RAF) ehren wollte. „Wir verdanken es Andreas Baader, Ulrike Meinhof, Holger Meins, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe, der RAF im Allgemeinen“, so schwärmte der Dichter Wochen und wenige Monate, nachdem Siegfried Buback und Jürgen Ponto von der RAF ermordet worden waren, „dass sie uns nicht nur durch Worte, sondern auch durch ihre Taten, außerhalb und innerhalb der Gefängnisse, klargemacht haben, dass nur die Gewalt die Brutalität der Menschen beenden kann“.
Drei Tage nach Erscheinen des Artikels wurde in Köln der Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer von Mitgliedern ebenjener RAF entführt; vier seiner Begleiter wurden dabei brutal ermordet.
Genet meinte eine andere Brutalität: „Die Architektur des sozialen Wohnungsbaus; die Bürokratie; (…) die Autorität der Maschine gegenüber dem Menschen, der sie bedient; (…) die Zunahme von Strafen; (…) der unterwürfige Bückling für ein Trinkgeld; (…) das Marschieren im Stechschritt; die Bombardierung Haiphongs.“ Er wusste auch, was allein dagegen hilft: „Die ganze spontane Gewalt des Lebens, die sich in der Gewalt der Revolutionäre fortsetzt, wird gerade ausreichen, um die organisierte Brutalität zu besiegen.“
Die ganze spontane Gewalt des Lebens: Der vor Kurzem verstorbene Dieter E. Zimmer hat den RAF-Text „Gewalt und Brutalität“ als Muster sprachlicher Manipulation analysiert: „Zwei fast synonyme Begriffe werden auseinanderinterpretiert, mit Emotion geladen und an Freund und Feind vergeben, damit sie sich bekriegen. Die Welt hat sich dadurch nicht verändert“, fährt Zimmer in Anspielung auf den berühmten Satz von Karl Marx fort, „aber sie ist neu interpretiert, nämlich sprachlich neu geordnet und bewertet. Und das ist eine Einladung zur realen Veränderung“.
Gewalt, und dass sie unvermeidlich gegen die umgebende „strukturelle Gewalt“ sogar notwendig sei, wurde Ende der Sechzigerjahre, noch vor der Gründung der RAF, zum Schibboleth der wesentlich machtlosen Intelligenz. Zehn Jahre vor Genet hatte Peter Weiß seinen Kummer über den Tod Che Guevaras in fast identische Worte gefasst: „Nur die Gewalt kann helfen.“ Genet war kein Intellektueller, aber Gewalt wie Brutalität haben den Kleinkriminellen immer fasziniert, die reale Veränderung zunächst überhaupt nicht. Im „Totenfest“ (1947) gilt eine seiner Gewaltfantasien einem phallisch-männlichen Hitler, für den er „tiefe Bewunderung und Sympathie“ empfindet. Notfalls tun es auch die Nazi-Soldaten: „Als ich eines Tages deutsche Soldaten hinter einer Mauer auf Franzosen schießen sah, schämte ich mich plötzlich, nicht zu ihnen zu gehören, mein Gewehr anzulegen und an ihrer Seite zu sterben.“
Derlei Exaltationen leistete sich 150 Jahre zuvor ein anderer Gefangener, der Marquis de Sade, wenn er sich seine Gräuel und Lusttaten ausmalte. Von einem Dichter, da sei der große Karl Heinz Bohrer vor, wird niemand große Moralkunststücke erwarten. Er muss ja keine Kabinettsdiskussionen leiten, und seine Sätze bleiben angenehm folgenlos. Man nennt es auch Kunst. Wie de Sade konnte sich Genet im Gefängnis ausgiebig an den „märchenhaften Gestaden des Bösen“ vergnügen. Niemand hat die totale Unmoral, das Épater le bourgeois, weiter getrieben als Genet, der sich mit seiner Sprachgewalt und mithilfe von Jean Cocteau aus dem Gefängnis freischrieb. Draußen wurde er an die Brust gedrückt, aufgeführt, verfilmt. Der existenzialistische Nachkriegspapst Sartre sprach ihn buchstäblich heilig, als er „Saint Genet“, den vielfach vorbestraften Stricher und Dieb, 1952 auf achthundert Seiten als „Komödianten und Märtyrer“ feierte, und damit bei Genet eine sechsjährige Schreibkrise auslöste. Die Exzesse hatten sich erschöpft. Erst die Politik lieferte ihm wieder Gelegenheiten. Aber hier spricht ein politischer Dilettant und manchmal irrlichtert er auch. Er preist den revolutionären Daniel Cohn-Bendit und beschimpft den Präsidenten Giscard d’Estaing. Sein politisches Verständnis reicht allerdings kaum über den Satz hinaus, dass er mittlerweile in den Hotels residiere, in denen er früher gestohlen habe.
Dass Genet mit der Amoralität, die sich bei André Gide oder Thomas Mann so angenehm zartbitter las, Ernst machte und Mörder besang, war in der Literatur noch erträglich, aber nicht in der Wirklichkeit. Die „heroische Gewalt“, die „konsequente Entschlossenheit“, die er bei der RAF aus der Ferne bewunderte, findet er in der Nähe zu den palästinensischen Fedajin tatsächlich: „Zwischen jedem Soldat und seiner Waffe hatte sich eine verliebte und magische Beziehung herausgebildet. Da die Fedajin der Jugend kaum entwachsen waren, bildete das Gewehr in seiner Funktion als Waffe für sie das Zeichen triumphierender Männlichkeit und gab ihnen die Gewissheit zu leben.“ Natürlich ist auch schwuler Kitsch dabei: „Eine straffmachende Kälte verlieh jeder Geste ihre Anmut.“
Bereits 1970 war Genet Jassir Arafat begegnet. In der Identifikation mit den Fedajin fand sich Genet endlich wieder im Gegensatz zu den herrschenden Mächten, zur Brutalität der Welt. Die Black Panthers standen auf gegen Mehrheitsamerika, die RAF gegen das „unmenschliche Deutschland“, folgerichtig galt sein Alterswerk den Palästinensern, bei denen er eine Schönheit fand, die in der modernen Welt nicht zu finden war, die Aura des Freischärlertums, der wiederum guten Gewalt.
Bei der RAF delirierte er davon, dass sie ihre Kämpfer „bis an die Grenzen des Todes“ treibe. Den realen Tod erlebte er 1982 im Dauerbürgerkriegsland Libanon. Genet hielt sich zufällig in Beirut auf, als christliche Milizen unter den Augen der israelischen Armee ein Massaker in den palästinensischen Flüchtlingslagern von Sabra und Schatila anrichten. Sechshundert, achthundert, vielleicht sogar mehrere Tausend Männer, Frauen und Kinder waren umgebracht worden. Das war keine Literatur mehr, sondern echte Brutalität. Genet schreibt sich ohne Stilisierung sein Entsetzen über die aufgereihten Körper von Leib und Seele. Einem Mann war der Schädel gespalten worden: „Ein Teil des schwarz gewordenen Hirns klebte am Boden neben dem Kopf. Der ganze Körper lag in einer Lache geronnenen schwarzen Blutes.“
Der Band mit Genets politischen Äußerungen kommt wie eine Flaschenpost aus einer hemmungslosen Zeit, die schon nach wenigen Jahrzehnten kaum mehr zu begreifen ist. Die Ausgabe versammelt so gut wie alle Texte aus der nachpoetischen Phase Genets, darunter auch die langen Gespräche mit Hubert Fichte und Rüdiger Wischenbart, aber auch das kürzere mit dem Playboy, wobei der Amerikahasser Genet darauf bestand, dass es nicht auf Französisch erscheinen dürfe.
So verdienstvoll das jahrzehntelange Wirken des Merlin Verlags für Jean Genet auch ist, etwas Mäkelei muss sein. So wurde nicht nur bei den Kommata auffällig gespart, die Edition übernimmt in den Anmerkungen die sachlichen Fehler der französischen Ausgabe von Albert Dichy; der offene Brief, den der Spiegel-Redakteur Dieter Wild an die germanophoben Kollegen von Le Monde schrieb, wäre auch im Internet zu haben, wurde aber aus dem Französischen rückübersetzt. Bei Genets Liebeserklärung an die RAF fehlt ein wichtiger zeithistorischer Hinweis. Le Monde hatte seine eigenen Gründe, diese rhetorische Gewaltorgie zu drucken. Einem Doktoranden gegenüber hat Redaktionsdirektor Jacques Fauvet Jahre später zugegeben, dass ihn im Herbst 1977 ein gewisses „agacement sur le plan économique“ geplagt habe, eine „Verärgerung in wirtschaftlicher Hinsicht“. Französische Geschäftsleute hätten sich beklagt, dass sie von den Deutschen „von oben herab“ behandelt würden. Da kam Genets Amoralität gerade recht mit seiner Behauptung, die RAF lasse „ihre Gewalt niemals zu reiner Brutalität werden“.
Jean Genet: Essays, Interviews. Band IX der Werkausgabe in Einzelbänden. Aus dem Französischen von Christiane Kayser u.a. Merlin Verlag, Gifkendorf-Vastorf 2020. 572 Seiten, 28 Euro.
Nach der Freilassung residierte
er in den Hotels, in denen er
früher gestohlen hatte
Der Autor und Kriminelle Jean Genet stand immer und auch in seinen Essays für die von ihm hemmungslos besungene „ganze spontane Gewalt des Lebens“.
Foto: AFP ARCHIVES
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Er pries die RAF, hasste die USA und besang Mörder: Jean Genets
Essays und Interviews wirken wie Flaschenpost aus hemmungsloser Zeit
VON WILLI WINKLER
Am 2. September 1977 erschien auf der Titelseite der französischen Tageszeitung Le Monde ein Text mit dem Titel „Violence et brutalité“ (Gewalt und Brutalität), der internationales Aufsehen erregte. Der Bundestag beschäftigte sich mit dem Artikel, sogar der Staatspräsident Valéry Giscard d’Estaing sah sich in einem Telefongespräch mit Bundeskanzler Helmut Schmidt genötigt, seiner „Entrüstung“ Ausdruck zu geben.
Es handelte sich dabei um den Vorabdruck einer Einleitung, mit der Jean Genet Texte der deutschen Rote Armee Fraktion (RAF) ehren wollte. „Wir verdanken es Andreas Baader, Ulrike Meinhof, Holger Meins, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe, der RAF im Allgemeinen“, so schwärmte der Dichter Wochen und wenige Monate, nachdem Siegfried Buback und Jürgen Ponto von der RAF ermordet worden waren, „dass sie uns nicht nur durch Worte, sondern auch durch ihre Taten, außerhalb und innerhalb der Gefängnisse, klargemacht haben, dass nur die Gewalt die Brutalität der Menschen beenden kann“.
Drei Tage nach Erscheinen des Artikels wurde in Köln der Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer von Mitgliedern ebenjener RAF entführt; vier seiner Begleiter wurden dabei brutal ermordet.
Genet meinte eine andere Brutalität: „Die Architektur des sozialen Wohnungsbaus; die Bürokratie; (…) die Autorität der Maschine gegenüber dem Menschen, der sie bedient; (…) die Zunahme von Strafen; (…) der unterwürfige Bückling für ein Trinkgeld; (…) das Marschieren im Stechschritt; die Bombardierung Haiphongs.“ Er wusste auch, was allein dagegen hilft: „Die ganze spontane Gewalt des Lebens, die sich in der Gewalt der Revolutionäre fortsetzt, wird gerade ausreichen, um die organisierte Brutalität zu besiegen.“
Die ganze spontane Gewalt des Lebens: Der vor Kurzem verstorbene Dieter E. Zimmer hat den RAF-Text „Gewalt und Brutalität“ als Muster sprachlicher Manipulation analysiert: „Zwei fast synonyme Begriffe werden auseinanderinterpretiert, mit Emotion geladen und an Freund und Feind vergeben, damit sie sich bekriegen. Die Welt hat sich dadurch nicht verändert“, fährt Zimmer in Anspielung auf den berühmten Satz von Karl Marx fort, „aber sie ist neu interpretiert, nämlich sprachlich neu geordnet und bewertet. Und das ist eine Einladung zur realen Veränderung“.
Gewalt, und dass sie unvermeidlich gegen die umgebende „strukturelle Gewalt“ sogar notwendig sei, wurde Ende der Sechzigerjahre, noch vor der Gründung der RAF, zum Schibboleth der wesentlich machtlosen Intelligenz. Zehn Jahre vor Genet hatte Peter Weiß seinen Kummer über den Tod Che Guevaras in fast identische Worte gefasst: „Nur die Gewalt kann helfen.“ Genet war kein Intellektueller, aber Gewalt wie Brutalität haben den Kleinkriminellen immer fasziniert, die reale Veränderung zunächst überhaupt nicht. Im „Totenfest“ (1947) gilt eine seiner Gewaltfantasien einem phallisch-männlichen Hitler, für den er „tiefe Bewunderung und Sympathie“ empfindet. Notfalls tun es auch die Nazi-Soldaten: „Als ich eines Tages deutsche Soldaten hinter einer Mauer auf Franzosen schießen sah, schämte ich mich plötzlich, nicht zu ihnen zu gehören, mein Gewehr anzulegen und an ihrer Seite zu sterben.“
Derlei Exaltationen leistete sich 150 Jahre zuvor ein anderer Gefangener, der Marquis de Sade, wenn er sich seine Gräuel und Lusttaten ausmalte. Von einem Dichter, da sei der große Karl Heinz Bohrer vor, wird niemand große Moralkunststücke erwarten. Er muss ja keine Kabinettsdiskussionen leiten, und seine Sätze bleiben angenehm folgenlos. Man nennt es auch Kunst. Wie de Sade konnte sich Genet im Gefängnis ausgiebig an den „märchenhaften Gestaden des Bösen“ vergnügen. Niemand hat die totale Unmoral, das Épater le bourgeois, weiter getrieben als Genet, der sich mit seiner Sprachgewalt und mithilfe von Jean Cocteau aus dem Gefängnis freischrieb. Draußen wurde er an die Brust gedrückt, aufgeführt, verfilmt. Der existenzialistische Nachkriegspapst Sartre sprach ihn buchstäblich heilig, als er „Saint Genet“, den vielfach vorbestraften Stricher und Dieb, 1952 auf achthundert Seiten als „Komödianten und Märtyrer“ feierte, und damit bei Genet eine sechsjährige Schreibkrise auslöste. Die Exzesse hatten sich erschöpft. Erst die Politik lieferte ihm wieder Gelegenheiten. Aber hier spricht ein politischer Dilettant und manchmal irrlichtert er auch. Er preist den revolutionären Daniel Cohn-Bendit und beschimpft den Präsidenten Giscard d’Estaing. Sein politisches Verständnis reicht allerdings kaum über den Satz hinaus, dass er mittlerweile in den Hotels residiere, in denen er früher gestohlen habe.
Dass Genet mit der Amoralität, die sich bei André Gide oder Thomas Mann so angenehm zartbitter las, Ernst machte und Mörder besang, war in der Literatur noch erträglich, aber nicht in der Wirklichkeit. Die „heroische Gewalt“, die „konsequente Entschlossenheit“, die er bei der RAF aus der Ferne bewunderte, findet er in der Nähe zu den palästinensischen Fedajin tatsächlich: „Zwischen jedem Soldat und seiner Waffe hatte sich eine verliebte und magische Beziehung herausgebildet. Da die Fedajin der Jugend kaum entwachsen waren, bildete das Gewehr in seiner Funktion als Waffe für sie das Zeichen triumphierender Männlichkeit und gab ihnen die Gewissheit zu leben.“ Natürlich ist auch schwuler Kitsch dabei: „Eine straffmachende Kälte verlieh jeder Geste ihre Anmut.“
Bereits 1970 war Genet Jassir Arafat begegnet. In der Identifikation mit den Fedajin fand sich Genet endlich wieder im Gegensatz zu den herrschenden Mächten, zur Brutalität der Welt. Die Black Panthers standen auf gegen Mehrheitsamerika, die RAF gegen das „unmenschliche Deutschland“, folgerichtig galt sein Alterswerk den Palästinensern, bei denen er eine Schönheit fand, die in der modernen Welt nicht zu finden war, die Aura des Freischärlertums, der wiederum guten Gewalt.
Bei der RAF delirierte er davon, dass sie ihre Kämpfer „bis an die Grenzen des Todes“ treibe. Den realen Tod erlebte er 1982 im Dauerbürgerkriegsland Libanon. Genet hielt sich zufällig in Beirut auf, als christliche Milizen unter den Augen der israelischen Armee ein Massaker in den palästinensischen Flüchtlingslagern von Sabra und Schatila anrichten. Sechshundert, achthundert, vielleicht sogar mehrere Tausend Männer, Frauen und Kinder waren umgebracht worden. Das war keine Literatur mehr, sondern echte Brutalität. Genet schreibt sich ohne Stilisierung sein Entsetzen über die aufgereihten Körper von Leib und Seele. Einem Mann war der Schädel gespalten worden: „Ein Teil des schwarz gewordenen Hirns klebte am Boden neben dem Kopf. Der ganze Körper lag in einer Lache geronnenen schwarzen Blutes.“
Der Band mit Genets politischen Äußerungen kommt wie eine Flaschenpost aus einer hemmungslosen Zeit, die schon nach wenigen Jahrzehnten kaum mehr zu begreifen ist. Die Ausgabe versammelt so gut wie alle Texte aus der nachpoetischen Phase Genets, darunter auch die langen Gespräche mit Hubert Fichte und Rüdiger Wischenbart, aber auch das kürzere mit dem Playboy, wobei der Amerikahasser Genet darauf bestand, dass es nicht auf Französisch erscheinen dürfe.
So verdienstvoll das jahrzehntelange Wirken des Merlin Verlags für Jean Genet auch ist, etwas Mäkelei muss sein. So wurde nicht nur bei den Kommata auffällig gespart, die Edition übernimmt in den Anmerkungen die sachlichen Fehler der französischen Ausgabe von Albert Dichy; der offene Brief, den der Spiegel-Redakteur Dieter Wild an die germanophoben Kollegen von Le Monde schrieb, wäre auch im Internet zu haben, wurde aber aus dem Französischen rückübersetzt. Bei Genets Liebeserklärung an die RAF fehlt ein wichtiger zeithistorischer Hinweis. Le Monde hatte seine eigenen Gründe, diese rhetorische Gewaltorgie zu drucken. Einem Doktoranden gegenüber hat Redaktionsdirektor Jacques Fauvet Jahre später zugegeben, dass ihn im Herbst 1977 ein gewisses „agacement sur le plan économique“ geplagt habe, eine „Verärgerung in wirtschaftlicher Hinsicht“. Französische Geschäftsleute hätten sich beklagt, dass sie von den Deutschen „von oben herab“ behandelt würden. Da kam Genets Amoralität gerade recht mit seiner Behauptung, die RAF lasse „ihre Gewalt niemals zu reiner Brutalität werden“.
Jean Genet: Essays, Interviews. Band IX der Werkausgabe in Einzelbänden. Aus dem Französischen von Christiane Kayser u.a. Merlin Verlag, Gifkendorf-Vastorf 2020. 572 Seiten, 28 Euro.
Nach der Freilassung residierte
er in den Hotels, in denen er
früher gestohlen hatte
Der Autor und Kriminelle Jean Genet stand immer und auch in seinen Essays für die von ihm hemmungslos besungene „ganze spontane Gewalt des Lebens“.
Foto: AFP ARCHIVES
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