Ein früher Versuch des späteren, Aufsehen erregenden Essayisten, die
Wundbrände des 20. Jahrhunderts zu benennen - und seine
Entschlossenheit, sich ihnen zu stellen.
»Hätte man den 23jährigen Hans Mayer, und erst recht den 65jährigen Jean Améry nach seiner Berufung gefragt, er hätte geantwortet: Ein deutscher Dichter.«
So beginnt das Nachwort der Herausgeberin zu diesem Band, der den literarischen Autor Jean Améry vorstellt. In dem Romanfragment »Die Schiffbrüchigen«, das Améry mit 23 Jahren schrieb, erlebt der Protagonist Eugen Althager, der dem österreichischen proletarisierten Kleinbürgertum entstammt, den Zusammenbruch der Ersten Republik als Untergang seiner bisherigen Welt. Er versucht, sich - auch durch private Untergänge hindurch - in eine Art »heroischen Nihilismus« zu retten.
Deutlich wird, wie viele Lebensthemen und biographische Momente Jean Améry in dieser frühen Arbeit schon vorweggenommen hat. »Ein notwendiger Roman, wenn nicht gar eine kleine Offenbarung«, so die Herausgeberin. »Lefeu oder Der Abbruch« schließlich, Amérys großer Romanessay aus dem Jahr 1974, ein Künstlerroman mit dem Schauplatz Paris, geht auf den früheren Roman zurück und ist zugleich »eine Bilanz der eigenen Existenz, des eigenen Denkens« (Améry).
Zur Geschichte von »Die Schiffbrüchigen«:
Ein unerhörter Glücksfall, dass das Manuskript sich durch die Zeit der Verfolgung, Flucht, KZ-Haft und Emigration in einer Wiener Manuskript-Agentur erhalten hat. Im Marbacher Literatur-Archiv wurde es bei den Arbeiten zur Améry-Gesamtausgabe entdeckt.
Wundbrände des 20. Jahrhunderts zu benennen - und seine
Entschlossenheit, sich ihnen zu stellen.
»Hätte man den 23jährigen Hans Mayer, und erst recht den 65jährigen Jean Améry nach seiner Berufung gefragt, er hätte geantwortet: Ein deutscher Dichter.«
So beginnt das Nachwort der Herausgeberin zu diesem Band, der den literarischen Autor Jean Améry vorstellt. In dem Romanfragment »Die Schiffbrüchigen«, das Améry mit 23 Jahren schrieb, erlebt der Protagonist Eugen Althager, der dem österreichischen proletarisierten Kleinbürgertum entstammt, den Zusammenbruch der Ersten Republik als Untergang seiner bisherigen Welt. Er versucht, sich - auch durch private Untergänge hindurch - in eine Art »heroischen Nihilismus« zu retten.
Deutlich wird, wie viele Lebensthemen und biographische Momente Jean Améry in dieser frühen Arbeit schon vorweggenommen hat. »Ein notwendiger Roman, wenn nicht gar eine kleine Offenbarung«, so die Herausgeberin. »Lefeu oder Der Abbruch« schließlich, Amérys großer Romanessay aus dem Jahr 1974, ein Künstlerroman mit dem Schauplatz Paris, geht auf den früheren Roman zurück und ist zugleich »eine Bilanz der eigenen Existenz, des eigenen Denkens« (Améry).
Zur Geschichte von »Die Schiffbrüchigen«:
Ein unerhörter Glücksfall, dass das Manuskript sich durch die Zeit der Verfolgung, Flucht, KZ-Haft und Emigration in einer Wiener Manuskript-Agentur erhalten hat. Im Marbacher Literatur-Archiv wurde es bei den Arbeiten zur Améry-Gesamtausgabe entdeckt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.03.2007Eugen erwacht
Nachgeholtes Debüt: Jean Amérys Roman "Die Schiffbrüchigen"
Vor diesem Roman darf man nicht kneifen. Ist er schlecht, ist er gelungen? Das Leben eines Menschen hängt an dieser Frage, das Selbstverständnis eines Schriftstellers dreißig Jahre nach seinem Tod. Ist es nicht so verlaufen, wie es in diesem Erstlingsroman auf gespenstische Weise gefühlt, geahnt, gespürt und vorzeitig beendet wird? Man ist dem Verfasser eine klare Antwort schuldig. Mit "Eugen erwacht" beginnt die tragische Geschichte. "Der kalte Aprilmorgen sah weiß und silbrig zitternd zum Fenster herein", lautet der zweite Satz. Wer das Buch jetzt zuschlägt, verpasst ein literaturgeschichtliches und zeithistorisches Ereignis.
"Kennt man ein anderes Zeugnis eines zum Juden gemachten dreiundzwanzigjährigen Wiener Autodidakten, der ohne jede Distanz zwischen 1934 und 1935 von seiner Wut auf Hitlers Machtergreifung, von seinem Schmerz über die Niederschlagung des österreichischen Februar-Aufstands in Romanform zu berichten weiß?", liest man im nicht namentlich gezeichneten Nachwort, von dem man vermuten darf, dass es Irene Heidelberger-Leonard geschrieben hat. Sie betreut die Werkausgabe und hat mit ihrer großen Biographie das Interesse an Jean Améry neu entfacht. Zu den Sensationen ihrer Darstellung in "Revolte und Resignation" gehörte der Hinweis auf "Die Schiffbrüchigen".
Der Roman wurde in den dreißiger Jahren nicht gedruckt. Améry hatte ihn an den verehrten Thomas Mann geschickt und dieser den jungen Autor an Robert Musil verwiesen. "Recht begabt" nannte Musil das Werk, in dem er "noch gewisse Unreifen" ausmachte. Wie durch ein Wunder hat das Typoskript den Krieg überlebt, und man weiß noch nicht einmal, wie Améry wieder in seinen Besitz kam. Im Jahr 1950 unternahm er noch einen Anlauf zur Publikation, es wurde wieder nichts daraus. Jetzt erscheinen "Die Schiffbrüchigen" gleich zweimal, in der Werkausgabe und als gebundenes Einzelwerk.
Nichts wünschte Jean Améry so sehr wie ein Leben als Schriftsteller. Dieser Anspruch ist als einziger Teil seiner Identität ungebrochen aus Auschwitz hervorgegangen. Nach dem Krieg hat Améry Zeitungsprosa am Fließband produziert: Brotarbeiten. Die literarischen Texte, die parallel dazu entstanden, verheimlichte er. Zu Recht, wie die Biographin befand: "Angestrengte Schreibübungen, sowohl sprachlich wie inhaltlich wenig innovativ." Sie seien ein "wertvoller Beleg allein dafür, dass der durch Hitler verhinderte österreichische Romancier der dreißiger Jahre 1945 mehr denn je entschlossen ist, sein Schriftstellerdasein wiederaufzunehmen".
In den siebziger Jahren scheiterte der größte Wunsch seines Lebens endgültig. Mit seinen Schriften über Schuld und Sühne, den Suizid, das Altern war Améry zu einem der angesehensten und einflussreichsten Publizisten geworden. Seine literarischen Spätwerke wurden von den Gesinnungsfreunden gelobt. Doch die Kritik hat sein am französischen Beispiel geschultes Esssayerzählen gründlich missverstanden - und zum Teil gnadenlos verrissen.
Man müsste "Die Schiffbrüchigen" unbelastet lesen und kann es doch nicht.
Das Werk, erfuhr man aus der Biographie von Irene Heidelberger-Leonard, "gibt mehr Auskunft über Amérys Weltbild als irgendeine andere spätere Schrift". Sie selber verweigerte jede ästhetische Beurteilung: "Künstlerroman? Liebesroman? Autobiographischer Zeitroman?" Und sie zitiert Kafka: "Der Roman bin ich, meine Geschichten sind ich." Alle "Urthemen" Amérys sind versammelt, befand die Biographin. "Der Jugendroman enthält in nuce alle Grundfragen des Meisterwerks", unterstreicht die Herausgeberin. Vom "Urthema" Suizid ist erstmals auf Seite hundert die Rede. Die Geliebte des arbeitslosen Intellektuellen Eugen Althager ist schwanger. Agathe will das Kind nicht - und Eugen will es auch nicht. Nicht nur wegen ihrer materiellen Nöte. Agathe hat die Adresse eines Arztes. Althager sagt rein gar nichts. Über mehrere Zeilen hinweg beschreibt Jean Améry seine Reaktion an den Veränderungen seiner Gesichtsfarbe, an den Bewegungen seiner Gesichtsfalten, am Spiel seiner Augenwinkel und der Mundpartie. "Es bleibt einem immer noch die Möglichkeit, sich umzubringen, nur ...". Es sind seine ersten Worte in dieser Situation, aus der er keinen Ausweg sieht.
Améry zeichnet Althager keineswegs als Helden. Agathe bekommt von ihrer Schwester Hilde die Adresse eines Arztes - und den Hinweis auf einen Geldgeber. Höllmer ist ganz verrückt nach ihr. Althager ist einverstanden, dass sie mit ihm schläft. Sie wird es ihm nie verzeihen. Es ist das langsame Ende ihrer Liebe - und die Beschreibung der ebenso langsam entstehenden Beziehung zwischen Agathe und Höllmer ein eindrückliches Stück Literatur.
Durch einen unvermittelt eingeschobenen "Bericht aus dem Vorjahr" erfährt der Leser, dass Althager seine Geliebte einmal mit deren Schwester Hilde betrogen hatte. Diese Stelle ist der augenscheinlichste Bruch in diesem Roman, dessen einzelne Teile nicht immer ineinandergreifen. Sie sind meist nach den handelnden Personen überschrieben - die Porträts der Frauen sind großartig. Mit Abstrichen: Die Beschreibung der Brüste und anderer körperlicher Merkmale sind kitschig und schwülstig - einzelne erotische Szenen hingegen durchaus überzeugend. An Geld, Anerkennung, Erfolg und Perspektiven mangelt es Eugen Althager - nie aber an Frauen.
Das Gedicht, das noch während der Zeit mit Agathe von der "Tagespost" am 29. Mai 1933 abgedruckt (und honoriert) wird, ist der früheren Freundin Lili gewidmet: "Mich hat ein Dichter geliebt." Im Roman lässt Améry es die frühere Geliebte in der Zeitung lesen - und vor dem Schlafengehen gleich noch einmal. "Schläfst du schon, Lili", murmelt die Stimme eines anderen Mannes neben ihr. Dieser Roman der Unreife ist auch verdammt abgeklärt.
Die Beschreibung der Armut, eine Szene im Pfandhaus, Althagers Rückkehr in die Natur der Herkunft nach einem Nervenzusammenbruch, all das ist von gelungener Dichte. Aber es ist der Reigen der Frauen, der das Buch zusammenhält. Nach dem Aufenthalt auf dem Lande, den Althagers Jugendfreund Heinrich Hessl bezahlt hat, liegt unvermittelt ein neues Mädchen in seinem Bett. Doris Hechler. Mit ihrem Einzug in das Leben Althagers nimmt die Geschichte auf Seite 204 eine politische Wende. Doris Hechler steht für die Epoche des Generalstreiks, der im Februar 1934 zerschlagen wird, und für den Antisemitismus, der sich jetzt auf offener Straße brutal bemerkbar macht. "Bin ich eigentlich eine Zuhälternatur?", reflektiert Eugen Althager seine finanzielle Abhängigkeit von den Frauen.
Die nächste ist dann wirklich eine Prostituierte - und Althager, der bislang alles im Leben passiv hingenommen hat, erstmals zum Kampf bereit. Er will sich um Mimi mit deren Zuhälter schlagen - doch dieser verzichtet freiwillig und für ein paar Schillinge auf seine beste Einnahmequelle. Es ist gewissermaßen das Vorspiel zum Endkampf.
Das Urthema Suizid kehrt mit den Briefen des Pariser Oheims in die Handlung zurück. Sie begleiten seine kleinen Geldsendungen. "Freundlich und indirekt legen sie ihm den Selbstmord nahe" angesichts des Zustand einer - seiner - Generation, die "nicht zu zeugen man wahrlich besser getan hätte". Améry betreibt das Spiel der Motive - Tod, Sexualität, Geld - mit einigem Raffinement. Man ertappt sich dabei, dass man diesen Roman gegen alle Warnungen und Widerstände gut zu finden beginnt und voller Spannung seiner Handlung folgt. Und das Buch wird tatsächlich immer besser. Das Werk gipfelt in einem absurden Duell mit einem faschistischen Studenten, den Althager nur herausfordern kann, weil er sein Judentum verleugnet. Als Sekundant dient ihm Hessl, der ebenfalls jüdische Freund, der bei den Katholiken Karriere macht. In diesem Duell wird Eugen Althager schwer verletzt. Er stirbt 24 Stunden später im Krankenhaus. Am offenen Grab werden uns die Protagonisten des Romans nochmals vorgeführt.
"Die Schiffbrüchigen" sind nicht in allen Teilen gelungen. Der Roman hat sprachliche und dramaturgische Schwächen - aber er zeugt sehr wohl von den dichterischen Qualitäten seines Verfassers. Er ist sehr viel mehr als eine Anordnung von Jean Amérys existentiellen Stoffen. Amérys lebenslanges Ressentiment, das sich in seiner Unversöhnlichkeit gegenüber Deutschland äußerte, bekommt durch die Lektüre dieses ganz erstaunlichen Erstlings einen noch viel bittereren Beigeschmack. Seine literarischen Versprechungen liegen auf der Hand und konnten nicht eingelöst werden. Tatsächlich, man müsste diesen Roman auch lesen, wenn er nicht von Jean Améry geschrieben worden wäre.
JÜRG ALTWEGG
Jean Améry: "Die Schiffbrüchigen". Roman. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2007. 330 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Nachgeholtes Debüt: Jean Amérys Roman "Die Schiffbrüchigen"
Vor diesem Roman darf man nicht kneifen. Ist er schlecht, ist er gelungen? Das Leben eines Menschen hängt an dieser Frage, das Selbstverständnis eines Schriftstellers dreißig Jahre nach seinem Tod. Ist es nicht so verlaufen, wie es in diesem Erstlingsroman auf gespenstische Weise gefühlt, geahnt, gespürt und vorzeitig beendet wird? Man ist dem Verfasser eine klare Antwort schuldig. Mit "Eugen erwacht" beginnt die tragische Geschichte. "Der kalte Aprilmorgen sah weiß und silbrig zitternd zum Fenster herein", lautet der zweite Satz. Wer das Buch jetzt zuschlägt, verpasst ein literaturgeschichtliches und zeithistorisches Ereignis.
"Kennt man ein anderes Zeugnis eines zum Juden gemachten dreiundzwanzigjährigen Wiener Autodidakten, der ohne jede Distanz zwischen 1934 und 1935 von seiner Wut auf Hitlers Machtergreifung, von seinem Schmerz über die Niederschlagung des österreichischen Februar-Aufstands in Romanform zu berichten weiß?", liest man im nicht namentlich gezeichneten Nachwort, von dem man vermuten darf, dass es Irene Heidelberger-Leonard geschrieben hat. Sie betreut die Werkausgabe und hat mit ihrer großen Biographie das Interesse an Jean Améry neu entfacht. Zu den Sensationen ihrer Darstellung in "Revolte und Resignation" gehörte der Hinweis auf "Die Schiffbrüchigen".
Der Roman wurde in den dreißiger Jahren nicht gedruckt. Améry hatte ihn an den verehrten Thomas Mann geschickt und dieser den jungen Autor an Robert Musil verwiesen. "Recht begabt" nannte Musil das Werk, in dem er "noch gewisse Unreifen" ausmachte. Wie durch ein Wunder hat das Typoskript den Krieg überlebt, und man weiß noch nicht einmal, wie Améry wieder in seinen Besitz kam. Im Jahr 1950 unternahm er noch einen Anlauf zur Publikation, es wurde wieder nichts daraus. Jetzt erscheinen "Die Schiffbrüchigen" gleich zweimal, in der Werkausgabe und als gebundenes Einzelwerk.
Nichts wünschte Jean Améry so sehr wie ein Leben als Schriftsteller. Dieser Anspruch ist als einziger Teil seiner Identität ungebrochen aus Auschwitz hervorgegangen. Nach dem Krieg hat Améry Zeitungsprosa am Fließband produziert: Brotarbeiten. Die literarischen Texte, die parallel dazu entstanden, verheimlichte er. Zu Recht, wie die Biographin befand: "Angestrengte Schreibübungen, sowohl sprachlich wie inhaltlich wenig innovativ." Sie seien ein "wertvoller Beleg allein dafür, dass der durch Hitler verhinderte österreichische Romancier der dreißiger Jahre 1945 mehr denn je entschlossen ist, sein Schriftstellerdasein wiederaufzunehmen".
In den siebziger Jahren scheiterte der größte Wunsch seines Lebens endgültig. Mit seinen Schriften über Schuld und Sühne, den Suizid, das Altern war Améry zu einem der angesehensten und einflussreichsten Publizisten geworden. Seine literarischen Spätwerke wurden von den Gesinnungsfreunden gelobt. Doch die Kritik hat sein am französischen Beispiel geschultes Esssayerzählen gründlich missverstanden - und zum Teil gnadenlos verrissen.
Man müsste "Die Schiffbrüchigen" unbelastet lesen und kann es doch nicht.
Das Werk, erfuhr man aus der Biographie von Irene Heidelberger-Leonard, "gibt mehr Auskunft über Amérys Weltbild als irgendeine andere spätere Schrift". Sie selber verweigerte jede ästhetische Beurteilung: "Künstlerroman? Liebesroman? Autobiographischer Zeitroman?" Und sie zitiert Kafka: "Der Roman bin ich, meine Geschichten sind ich." Alle "Urthemen" Amérys sind versammelt, befand die Biographin. "Der Jugendroman enthält in nuce alle Grundfragen des Meisterwerks", unterstreicht die Herausgeberin. Vom "Urthema" Suizid ist erstmals auf Seite hundert die Rede. Die Geliebte des arbeitslosen Intellektuellen Eugen Althager ist schwanger. Agathe will das Kind nicht - und Eugen will es auch nicht. Nicht nur wegen ihrer materiellen Nöte. Agathe hat die Adresse eines Arztes. Althager sagt rein gar nichts. Über mehrere Zeilen hinweg beschreibt Jean Améry seine Reaktion an den Veränderungen seiner Gesichtsfarbe, an den Bewegungen seiner Gesichtsfalten, am Spiel seiner Augenwinkel und der Mundpartie. "Es bleibt einem immer noch die Möglichkeit, sich umzubringen, nur ...". Es sind seine ersten Worte in dieser Situation, aus der er keinen Ausweg sieht.
Améry zeichnet Althager keineswegs als Helden. Agathe bekommt von ihrer Schwester Hilde die Adresse eines Arztes - und den Hinweis auf einen Geldgeber. Höllmer ist ganz verrückt nach ihr. Althager ist einverstanden, dass sie mit ihm schläft. Sie wird es ihm nie verzeihen. Es ist das langsame Ende ihrer Liebe - und die Beschreibung der ebenso langsam entstehenden Beziehung zwischen Agathe und Höllmer ein eindrückliches Stück Literatur.
Durch einen unvermittelt eingeschobenen "Bericht aus dem Vorjahr" erfährt der Leser, dass Althager seine Geliebte einmal mit deren Schwester Hilde betrogen hatte. Diese Stelle ist der augenscheinlichste Bruch in diesem Roman, dessen einzelne Teile nicht immer ineinandergreifen. Sie sind meist nach den handelnden Personen überschrieben - die Porträts der Frauen sind großartig. Mit Abstrichen: Die Beschreibung der Brüste und anderer körperlicher Merkmale sind kitschig und schwülstig - einzelne erotische Szenen hingegen durchaus überzeugend. An Geld, Anerkennung, Erfolg und Perspektiven mangelt es Eugen Althager - nie aber an Frauen.
Das Gedicht, das noch während der Zeit mit Agathe von der "Tagespost" am 29. Mai 1933 abgedruckt (und honoriert) wird, ist der früheren Freundin Lili gewidmet: "Mich hat ein Dichter geliebt." Im Roman lässt Améry es die frühere Geliebte in der Zeitung lesen - und vor dem Schlafengehen gleich noch einmal. "Schläfst du schon, Lili", murmelt die Stimme eines anderen Mannes neben ihr. Dieser Roman der Unreife ist auch verdammt abgeklärt.
Die Beschreibung der Armut, eine Szene im Pfandhaus, Althagers Rückkehr in die Natur der Herkunft nach einem Nervenzusammenbruch, all das ist von gelungener Dichte. Aber es ist der Reigen der Frauen, der das Buch zusammenhält. Nach dem Aufenthalt auf dem Lande, den Althagers Jugendfreund Heinrich Hessl bezahlt hat, liegt unvermittelt ein neues Mädchen in seinem Bett. Doris Hechler. Mit ihrem Einzug in das Leben Althagers nimmt die Geschichte auf Seite 204 eine politische Wende. Doris Hechler steht für die Epoche des Generalstreiks, der im Februar 1934 zerschlagen wird, und für den Antisemitismus, der sich jetzt auf offener Straße brutal bemerkbar macht. "Bin ich eigentlich eine Zuhälternatur?", reflektiert Eugen Althager seine finanzielle Abhängigkeit von den Frauen.
Die nächste ist dann wirklich eine Prostituierte - und Althager, der bislang alles im Leben passiv hingenommen hat, erstmals zum Kampf bereit. Er will sich um Mimi mit deren Zuhälter schlagen - doch dieser verzichtet freiwillig und für ein paar Schillinge auf seine beste Einnahmequelle. Es ist gewissermaßen das Vorspiel zum Endkampf.
Das Urthema Suizid kehrt mit den Briefen des Pariser Oheims in die Handlung zurück. Sie begleiten seine kleinen Geldsendungen. "Freundlich und indirekt legen sie ihm den Selbstmord nahe" angesichts des Zustand einer - seiner - Generation, die "nicht zu zeugen man wahrlich besser getan hätte". Améry betreibt das Spiel der Motive - Tod, Sexualität, Geld - mit einigem Raffinement. Man ertappt sich dabei, dass man diesen Roman gegen alle Warnungen und Widerstände gut zu finden beginnt und voller Spannung seiner Handlung folgt. Und das Buch wird tatsächlich immer besser. Das Werk gipfelt in einem absurden Duell mit einem faschistischen Studenten, den Althager nur herausfordern kann, weil er sein Judentum verleugnet. Als Sekundant dient ihm Hessl, der ebenfalls jüdische Freund, der bei den Katholiken Karriere macht. In diesem Duell wird Eugen Althager schwer verletzt. Er stirbt 24 Stunden später im Krankenhaus. Am offenen Grab werden uns die Protagonisten des Romans nochmals vorgeführt.
"Die Schiffbrüchigen" sind nicht in allen Teilen gelungen. Der Roman hat sprachliche und dramaturgische Schwächen - aber er zeugt sehr wohl von den dichterischen Qualitäten seines Verfassers. Er ist sehr viel mehr als eine Anordnung von Jean Amérys existentiellen Stoffen. Amérys lebenslanges Ressentiment, das sich in seiner Unversöhnlichkeit gegenüber Deutschland äußerte, bekommt durch die Lektüre dieses ganz erstaunlichen Erstlings einen noch viel bittereren Beigeschmack. Seine literarischen Versprechungen liegen auf der Hand und konnten nicht eingelöst werden. Tatsächlich, man müsste diesen Roman auch lesen, wenn er nicht von Jean Améry geschrieben worden wäre.
JÜRG ALTWEGG
Jean Améry: "Die Schiffbrüchigen". Roman. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2007. 330 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Für den Rezensenten Jürg Altwegg hat die Literaturkritik einiges gut zu machen an Jean Amery, genauer gesagt an dem Schriftsteller Amery. Denn diese beiden Erzählungen zeigen ihm, dass Amery weit mehr war als das "intellektuelle Gewissen" oder ein Modedenker. Nein, weiß Altwegg nun, Amery war ein großer Erzähler, nur hat dies niemand bei der Veröffentlichung von "Lefeu" recht begriffen, zu quer stand Amery zum damaligen Zeitgeist. Und dass es sich bei seinem erst kürzlich herausgegebenen Erstlingswerk "Die Schiffbrüchigen" um große Kunst handelt, wurde sowieso schon festgestellt. Was kann Altwegg da noch sagen, außer die Herausgeberin für ihre "brillanten Überlegungen" zu feiern und ihr zu danken, dass sie der deutschen Literatur einen großen Autor geschenkt hat.
© Perlentaucher Medien GmbH
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