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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.09.2022

Gegen alle Regeln der Logik

Hundert Jahre nach seinem tragischen Tod ist der russische Schriftsteller Velimir Chlebnikov noch immer eine verkannte Größe.

Im Namen der Bewahrung der richtigen literarischen Perspektive halte ich es für meine Pflicht, schwarz auf weiß zu sagen, dass wir ihn für unseren dichterischen Lehrmeister halten." Mit diesem Satz verabschiedete sich Vladimir Majakowski 1922 von dem verstorbenen Dichter Velimir Chlebnikov. Majakowski kennt jeder, Chlebnikov kaum jemand. Dabei behauptete sein Weggefährte, der später bekannt gewordene Sprachwissenschaftler Roman Jakobson, ohne ihn hätte es nicht nur Majakowski, sondern auch den Maler Kasimir Malewitsch nicht gegeben. Anlässlich Chlebnikovs fünfzigsten Todestags, also bereits vor fünfzig Jahren, hatte der Übersetzer Peter Urban mit seiner im Rowohlt-Verlag veröffentlichten Werkausgabe versucht, dies zu ändern. Vergeblich. Jetzt, fünfzig Jahre später und also hundert Jahre nach Chlebnikovs tragischem Tod, bringt der Suhrkamp-Verlag diese Ausgabe fast unverändert neu heraus.

Chlebnikov, 1885 geboren, begann Mathematik und Physik an der Universität Kazan zu studieren, wo Nikolai Lobatschewski unterrichtete, der als Erster die nicht euklidische Geometrie entwickelte und somit die newtonschen Gesetze der Kausalität und Kontinuität infrage stellte. Die Begegnung mit Lobatschewski erschütterte Chlebnikovs Glauben an die Gesetze der Naturwissenschaft. Er gab sein Studium auf, um als "Lobatschewski des Wortes" (so er selbst) "ein komplexes Werk 'quer durch die Zeiten', wo die Regeln der Logik, der Zeit und des Raumes so häufig durchbrochen werden, wie der Trinker stündlich zum Schnapsglas greift", zu schaffen.

1909 kam Chlebnikov nach Moskau. Hier traf er die Dichter Vasily Kamenski und Alexei Krutschonych, die Künstlerin Natalia Gontscharowa und die Künstler Michail Larionow und Malewitsch. Das kulturelle Leben der Stadt befand sich im Umbruch. Anders als die westlich und aristokratisch geprägte Bildungselite St. Petersburgs, die Ikonenverehrung und mit ihnen die Bauernkultur als primitiv verachtete, weigerten sich die jungen Dichter und Künstler in Moskau, von denen die meisten auf dem Land mit der Ikone aufgewachsen waren, ihren kulturellen Ursprung zu verleugnen. "Wir betrachteten", schreibt Malewitsch, "die menschliche Gesellschaft nicht als ein Ganzes, sondern als zweigeteilt. Aus unserem Blickwinkel, jenem Burljuks, meinem, Gontscharowas und Larionows, gab es zwei Gesellschaften: jene der Intelligenz (die städtische) und die bäuerliche. Letztere bewerteten wir höher und stützten uns mehr auf sie."

Diesen Hintergrund muss man sich vor Augen halten, wenn man nicht nur den nach 1910 von Moskau ausgehenden Aufbruch auf allen Gebieten der russischen Kultur verstehen will, sondern auch Chlebnikovs Besessenheit, mit der er sich dem Studium der auf dem Lande vorhandenen mündlichen Überlieferungen zuwandte. Angeregt durch den Rhythmus und Klang der Märchen, Lieder, Legenden, Sprichwörter und Beschwörungen, begann er bereits vor 1910 nicht nur Gedichte eben nach Wortrhythmus und -klang zu komponieren, sondern auch reine Klanggedichte zu schreiben, die er bei seinen Auftritten im 1913 gegründeten "Cabaret 13", in dem gesungen, getanzt, das Publikum beschimpft und bemalt wurde, mit Schlägen eines Kochlöffels untermalte. Damit nahm er die dadaistischen, 1916 im "Cabaret Voltaire" in Zürich aufgeführten Lautgedichte von Hugo Ball vorweg. Die Dadaisten waren, wie Raoul Hausmann berichtet, über das Treiben in Moskau informiert: "Immerhin, Kandinsky war auf dem Laufenden über die 'Erfindungen' Khlebnikov's und er ließ im Cabaret Voltaire in Zürich 1916 Phoneme von Khlebnikov, in Gegenwart von Hugo Ball, vortragen."

Chlebnikovs sprachliche Schöpfungen sind Höhenflüge, die bis heute ihresgleichen suchen und die erst im Vortrag voll zur Geltung kommen. Wegen der Biegsamkeit der Worte in den slawischen Sprachen sind sie kaum in eine westliche Sprache zu übertragen. Man nehme nur das Gedicht "Beschwörung durch Lachen", mit dem Urban die Werkausgabe beginnt. Er lud dazu gleich mehrere Dichter als Übersetzer ein. Hier der Versuch des deutschen Vertreters der konkreten Poesie, Franz Mon: "o lacht auf ihr Lachhälse, o lacht los ihr Lachhälse, was lachen die mit lächere was lachen die lächerlich . . ."

Bald wurde Chlebnikov zur treibenden Kraft der Moskauer Bewegung, da seine zusammen mit Krutschonych verfassten Manifeste den Weg in die Gegenstandslosigkeit bereiteten. So trat er in dem heute legendären Manifest "Eine Ohrfeige dem öffentlichen Geschmack" von 1910 für das "selbsthafte Wort" ein: als ein Element, das keine semantische Entsprechung in der realen Welt mehr habe. Malewitsch illustrierte dieses Manifest. Chlebnikov und seine Anhänger nannten sich "Budet'ljane", was irreführend mit "Futuristen" übersetzt wird. Mit der Endung "jane", die der Bezeichnung für Bauern, "krest'jane", entnommen war, beriefen sie sich aber bewusst auf ihre Verbundenheit mit diesen. Ihre Auffassung war somit meilenweit von der der westlichen Futuristen entfernt, die auf den technischen Fortschritt der Großstädte setzten. Als der Futurist Filippo Tommaso Marinetti 1914 in Moskau auf Chlebnikov traf, konnte, wie Jakobson sich erinnert, eine Schlägerei gerade noch verhindert werden.

Chlebnikov war auch einer der Initiatoren der Oper "Sieg über die Sonne". Das Stück war eine bitterböse, an Absurdität kaum zu übertreffende Parodie auf den Glauben des modernen Menschen, er könnte dank der Naturwissenschaften in der Zukunft alles regulieren. Die Aufführung Ende 1913 (mit ihrer Ausstattung von Malewitsch), während derer das Publikum beschimpft und bespuckt wurde, war ein Riesenskandal. Leider fehlt in der Werkausgabe der von Chlebnikov verfasste Prolog zu dieser Oper. Überhaupt wurde die Auswahl zu sehr unter literarischen Aspekten zusammengestellt. Dadurch geht die Bedeutung Chlebnikovs für die bildende Kunst verloren. Seine absurden Theaterstücke wurden sofort nach Lenins Machtergreifung im Jahr 1917 verboten. Erst nach Chlebnikovs Tod war es Vladimir Tatlin gelungen, dessen Stück "Zangesi" auf die Bühne zu bringen - in Urbans Ausgabe ist es in voller Länge und mit einem Foto der Aufführung enthalten. Leider ist Tatlins Zusammenarbeit mit Chlebnikov kaum bekannt, weil sie ins Bild von Tatlin als rationalem Konstruktivisten nicht passte.

Ergänzt ist die Neuausgabe um das 1921 verfasste Gedicht "Der Vorsitzende der Tscheka". Es ist mit Versen wie "Die Leichen warf man aus dem Fenster in den Abgrund" und "Müllgruben waren oft der Sarg und Nägel unterm Fingernagel Schmuck der Männer" eines der erschütterndsten Zeugnisse des bolschewistischen Terrors. Wer solche Verse schrieb, musste selbst fürchten, in die Mühlen der Tscheka zu geraten. Als 1921 der Dichter Nikolaj Gumilev, der als Chefredakteur der Kunstzeitschrift "Apollon" ein großer Förderer der Kunst Gontscharowas, Larionows, Malewitschs und Tatlins war, ohne Gerichtsverfahren erschossen wurde, begab sich Chlebnikov auf die Flucht, die ihn in den Kaukasus und wieder zurück nach Nowgorod führte. Außer einem Kopfkissen, in dem er seine Manuskripte aufbewahrte, besaß er nichts mehr. Im Sommer 1922 starb er mit nur 37 Jahren an Hunger und Erschöpfung. NOEMI SMOLIK

Velimir Chlebnikov: "Werke".

Hrsg. und aus dem Russischen von Peter Urban u. a.

Suhrkamp Verlag, Berlin 2022.

695 S., geb., 68,- Euro.

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