Der siebente Band der großen Werkausgabe vereinigt die für Amérys politisches Denken zentralen Aufsätze, vom ungedruckten Text bis zur berühmt gewordenen Streit-Schrift.
Die von Améry zum Zeitgeschehen verfaßten Kommentare und Analysen sind wegen ihrer gedanklichen Schärfe und stilistischen Brillanz heute noch lesenswert - und die wichtigsten von ihnen hat Stephan Steiner für diesen Band neu gelesen und kommentiert. Sie greifen Fragen der deutschen und internationalen Nachkriegsgeschichte auf: die der Nachwirkungen der NS-Epoche, des Antisemitismus- Problems und der politischen Nachkriegsordnung. Améry hat über Gewalt, über die Anziehungskraft radikaler Bewegungen nachgedacht, über die heimatlose Linke, und früh schon taucht in seinen Analysen die Frage des politischen Terrorismus auf.
Die stupende thematische Vielfalt der Publizistik Amérys macht diesen Band zu einem Kompendium der deutschen Nachkriegsgeschichte - und sie zeigt einen etwas anderen Améry: »Hier erscheint er als aktivistisch, den Puls der Zeit fühlend, nicht selten hoffnungsgeladen. Zwischen dem aus Auschwitz Befreiten und dem Toten von Salzburg liegen immerhin 30 Jahre, indenen gelebt, debattiert und auch gekämpft wurde« (Steiner). Radikaler Humanismus ist der Maßstab dieser aufregend aktuellen Texte.
Die von Améry zum Zeitgeschehen verfaßten Kommentare und Analysen sind wegen ihrer gedanklichen Schärfe und stilistischen Brillanz heute noch lesenswert - und die wichtigsten von ihnen hat Stephan Steiner für diesen Band neu gelesen und kommentiert. Sie greifen Fragen der deutschen und internationalen Nachkriegsgeschichte auf: die der Nachwirkungen der NS-Epoche, des Antisemitismus- Problems und der politischen Nachkriegsordnung. Améry hat über Gewalt, über die Anziehungskraft radikaler Bewegungen nachgedacht, über die heimatlose Linke, und früh schon taucht in seinen Analysen die Frage des politischen Terrorismus auf.
Die stupende thematische Vielfalt der Publizistik Amérys macht diesen Band zu einem Kompendium der deutschen Nachkriegsgeschichte - und sie zeigt einen etwas anderen Améry: »Hier erscheint er als aktivistisch, den Puls der Zeit fühlend, nicht selten hoffnungsgeladen. Zwischen dem aus Auschwitz Befreiten und dem Toten von Salzburg liegen immerhin 30 Jahre, indenen gelebt, debattiert und auch gekämpft wurde« (Steiner). Radikaler Humanismus ist der Maßstab dieser aufregend aktuellen Texte.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 14.02.2006Die Gewalt im Fleische
Flaschenpost aus der alten Bundesrepublik: Jean Amérys Aufsätze zur Politik und Zeitgeschichte
Es war eine typisch bundesrepublikanische Situation, sie ereignete sich in einer der beliebtesten Sendungen des guten alten deutschen Fernsehens. Im „Internationalen Frühschoppen” wurde am 17. November 1974 in Rauchschwaden halb erstickt der Ernstfall diskutiert: „Leben als Wegwerfware?” Im Hungerstreik war der RAF-Häftling Holger Meins gestorben, Sympathisanten von der Bewegung „2. Juni” hatten am nächsten Tag den Kammergerichtspräsidenten Günter von Drenkmann umgebracht. Der Moderator bat Jean Améry um ein Wort an die Gefangenen, die weiter hungern wollten, und der Gast aus Brüssel, der „ich Deutschland gegenüber ein Outsider bin und es zu bleiben wünsche”, sagte nach langem Zögern: „Nicht aufgeben!” Bereits am nächsten Tag begann die Springer-Presse gegen den „österreichischen Journalisten” zu hetzen, behauptete, Améry habe die RAF „zur Fortsetzung ihrer Aktionen aufgefordert” und erreichte, dass der Staatsanwalt gegen ihn ermittelte.
Die Untersuchung wurde bald eingestellt, aber Améry ermittelte gegen sich selber. Selbstverständlich könne er nicht die Taten einer Gruppe billigen, die es mit den Palästinensern hält, aber „ich weiß”, schrieb er, „dass der Hungerstreik die äußerste und einzige Waffe ohnmächtiger Inhaftierter ist”. Dieser Intellektuelle, der sich zwanzig Nachkriegsjahre als Lohnschreiber durchgebracht hatte, ehe er 1966 in „Jenseits von Schuld und Sühne” von seiner Gestapo- und KZ-Haft berichtete, beanspruchte bei diesem Thema ein eigenes Recht.
Zuständig war, darauf legte er Wert, „wer die Ereignisse im Fleische erfuhr”. Améry hatte die Nazi-Folterkeller und die KZs überlebt und lebte weiter mit der Scham, sich nicht gewehrt zu haben. Dass er und seine Kameraden sich nicht gegen die Unterdrücker erhoben hätten, „bleibt unsere immer wieder sich öffnende, sehr schmerzhafte Wunde”. Deshalb konnte er auch nicht verurteilen, dass die kolonialisierten Schwarzen in Afrika, die bedrängten Nordvietnamesen, die Black Panthers in den nordamerikanischen Ghettos für ihre Befreiung Gewalt brauchten. Ihre Gewalt sei Gegengewalt und deshalb zutiefst „human”. Die „gelebte Erfahrung der Schwarzen (...) entsprach in manchem Bezuge eigenen, prägenden und unverlierbaren Erlebnissen, die ich als jüdischer KZ-Häftling gehabt hatte”. Sein Rundfunkessay über den „Revolutionär” Frantz Fanon und dessen Manifest zum Menschenrecht auf Befreiung von der Unterdrückung („Die Verdammten der Erde”) lief am 29. Oktober 1968 im (man glaubt es nicht!) Bayerischen Rundfunk.
Die Violenz muss weitergehen
Zwei Tage später verhängte ein Richter in Frankfurt eine dreijährige Freiheitsstrafe gegen die vier Angeklagten, die dort ein halbes Jahr zuvor in zwei Kaufhäusern „wegen Vietnam” gezündelt und erheblichen Sachschaden angerichtet hatten. Die RAF gab es noch nicht, doch waren Andreas Baader und Gudrun Ensslin schon dabei. Die Journalistin Ulrike Meinhof übertrug den Befreiungskampf der Dritten Welt (an dem Améry später verzweifeln sollte) in die Bundesrepublik und gab den Opponenten jedes Recht: „Nun, da die Fesseln von Sitte & Anstand gesprengt worden sind, kann und muss neu und von vorne über Gewalt und Gegengewalt diskutiert werden.” Otto Schily verglich „das jüdische Kind im Ghetto, das mit erhobenen Händen auf SS-Leute zugeht, und die vietnamesischen Kinder, die schreiend, napalmverbrannt dem Fotografen entgegenlaufen nach den Flächenbombardements”.
Améry schien den Einsatz von Gewalt in Deutschland zu rechtfertigen. In jenem Beitrag für den Bayerischen Rundfunk vom Herbst 1968 hieß es überdeutlich: „Der Kampf geht weiter. Die Violenz muss weitergehen, gerichtet nunmehr in kontinentalem Ausmaß gegen die herrschenden Gewalten, die zwar ihre Zwischeninstanzen entwickelt haben, aber immer noch die kaum veränderten Unterdrücker von einst sind.” Und verabschiedete sich nicht auch Rudi Dutschke 1974 mit dem Ruf „Der Kampf geht weiter!” von dem toten Terroristen Holger Meins? Der Kampf ging weiter, die RAF brutalisierte sich, und die „Violenz” wollte kein Ende mehr nehmen. Doch gehörte Jean Amérys Sympathie niemals den deutschen Terroristen, er bezeichnete sich allerdings als Sympathisant und fühlte sich später mitschuldig, in seinen in Rundfunk und Zeitschriften vorgetragenen Überlegungen zur Gewalt nicht genügend differenziert zu haben, das eigene Leben, das ein Sterben war, zur Legitimation für die „abstrakte, die geborgte Gewalt gegen die herrschenden Gewalten hergeliehen zu haben.
Von diesen und anderen Auseinandersetzungen berichtet dieser Band mit den politischen Schriften Amérys. Er erinnert an eine alte Bundesrepublik, als „Debatte” noch kein Synonym für wichtighubernde Christiansens war. Mit seiner Erfahrung als Jude und KZ-Überlebender wendet sich Améry gegen den weiter bestehenden Antisemitismus, vor allem auch auf der Linken, beklagt die Konjunktur Hitlers in den siebziger Jahren und findet für den Rüstungsminister Hitlers die treffende Beschreibung: „Herr Speer bereut aufs Lukrativste.” Améry war einer jener Zwangsarbeiter, an die sich Speer, der das Lager Mittelbau-Dora besucht hatte und anschließend nach einem Schnaps verlangte, nicht mehr erinnern wollte.
Améry wehrte sich auch gegen die Stützen der literarischen Gesellschaft, die ihre Laufbahn in der Nachkriegsrepublik fortsetzten, als wäre nichts gewesen. Als Hans Egon Holthusen, inzwischen Leiter des Goethehauses in New York, noch nachträglich mit seiner „feschen” SS-Uniform renommieren wollte, druckte der Merkur seine sündenstolze Beichte: „Die schwarzuniformierte Organisation mit dem Totenkopfemblem der Schillschen Offiziere galt als eine Auslese, sie galt als chic, galt als elegant, und darum wurde sie von vielen exklusiv eingestellten Jünglingen bevorzugt, weil sie sich zu fein waren, in der kackbraunen Kluft der SA herumzulaufen.” In seiner Entgegnung weist Améry darauf hin, dass er einer war, „der Angst haben musste vor Ihrer feschen Uniform”. Der Häftling Jean Améry bekam es mit einem SS-Mann zu tun, der mit einem stilbewusst in eine Lederschlaufe gefassten Ochsenziemer auf ihn zutrat und ankündigte: „Jetzt passierts.” Auch Golo Mann schreibt er an, der nach der Entführung Hanns Martin Schleyers und der Ermordung seiner Begleiter den Bürgerkrieg im Land beschwor und die Abkehr vom „überkommenen Recht” forderte: „Der Moment kann kommen, in dem man jene wegen Mordes verurteilten Terroristen, die man in sicherem Gewahrsam hat, in Geiseln wird verwandeln müssen, indem man sie den Gesetzen des Friedens entzieht und unter Kriegsrecht stellt.” Ja, so war die alte BRD.
Die Scham der Überlebenden, die Hannah Arendt zu dem Exzess an Judenfeindschaft verleitete, den sie unter dem Titel „Eichmann in Jerusalem” veröffentlichte, bedrückte Améry noch mehr als andere. Nicht Rache geübt, nicht Gewalt gebraucht zu haben gegen seine Unterdrücker, dieses Versäumnis beschäftigte ihn sein weiteres Leben lang. Er war vielen lästig, weil er sich immer wieder auf seine zweijährige Gestapo-Haft berief, ein Gespenst aus einer Vergangenheit, die endlich vergangen sein sollte. Ihm blieb sie gegenwärtig: „Man führte mich an das Gerät. Der Haken griff in die Fessel, die hinter meinem Rücken meine Hände zusammenhielt. Dann zog man die Kette mit mir hinauf, bis ich etwa einen Meter über dem Boden hing. (. . . ) Und nun gab es ein von meinem Körper bis zu dieser Stunde nicht vergessenes Krachen und Splittern in den Schultern. Das eigene Körpergewicht bewirkte Luxation, ich fiel ins Leere und hing an den ausgerenkten, von hinten hochgerissenen und über dem Kopf nunmehr verdreht geschlossenen Armen.” Wer liest, was Améry im Fleische erfuhr, wird nicht mehr so leichtfertig von der gegebenenfalls doch vielleicht ausnahmsweise anzuwendenden Folter reden können, wie neuerdings die realpolitische Fronde zwischen Wolfgang Schäuble und Condoleezza Rice.
Frühschoppen und Nachkrieg
Werner Höfer, der Moderator des „Internationalen Frühschoppens”, war nicht bei der SS gewesen, hatte niemanden gefoltert und erschlagen, aber er hatte als Journalist 1943 die Hinrichtung des defätistischen Pianisten Karlrobert Kreiten gebilligt. Dem noch jungen Journalisten wird es nicht geschadet haben, dass er dem „ehrvergessenen Künstler” im12 Uhr Blatt ins Grab hinein nachrief, wer „statt Glauben Zweifel, statt Zuversicht Verleumdung und statt Haltung Verzweiflung stiftet”, habe es nicht besser verdient. Die Familie des Justiz-Mordopfers erhielt für Prozess und Hinrichtung eine Kostenrechnung in Höhe von RM 639,20, während Höfer seine Karriere in der Nachkriegszeit ungehemmt fortsetzen konnte. 1973 empfing er das Bundesverdienstkreuz; erst 1987 musste er von seinem Amt als WDR-Fernsehdirektor zurücktreten. Jean Améry hatte bereits neun Jahre vorher Selbstmord begangen. WILLI WINKLER
JEAN AMÉRY: Aufsätze zur Politik und Zeitgeschichte. Herausgegeben von Stephan Steiner (= Werke, Band 7). Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2005. 680 Seiten, 34 Euro.
Jean Améry (1912-1978)
Foto: Friedrich/Ullstein
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Flaschenpost aus der alten Bundesrepublik: Jean Amérys Aufsätze zur Politik und Zeitgeschichte
Es war eine typisch bundesrepublikanische Situation, sie ereignete sich in einer der beliebtesten Sendungen des guten alten deutschen Fernsehens. Im „Internationalen Frühschoppen” wurde am 17. November 1974 in Rauchschwaden halb erstickt der Ernstfall diskutiert: „Leben als Wegwerfware?” Im Hungerstreik war der RAF-Häftling Holger Meins gestorben, Sympathisanten von der Bewegung „2. Juni” hatten am nächsten Tag den Kammergerichtspräsidenten Günter von Drenkmann umgebracht. Der Moderator bat Jean Améry um ein Wort an die Gefangenen, die weiter hungern wollten, und der Gast aus Brüssel, der „ich Deutschland gegenüber ein Outsider bin und es zu bleiben wünsche”, sagte nach langem Zögern: „Nicht aufgeben!” Bereits am nächsten Tag begann die Springer-Presse gegen den „österreichischen Journalisten” zu hetzen, behauptete, Améry habe die RAF „zur Fortsetzung ihrer Aktionen aufgefordert” und erreichte, dass der Staatsanwalt gegen ihn ermittelte.
Die Untersuchung wurde bald eingestellt, aber Améry ermittelte gegen sich selber. Selbstverständlich könne er nicht die Taten einer Gruppe billigen, die es mit den Palästinensern hält, aber „ich weiß”, schrieb er, „dass der Hungerstreik die äußerste und einzige Waffe ohnmächtiger Inhaftierter ist”. Dieser Intellektuelle, der sich zwanzig Nachkriegsjahre als Lohnschreiber durchgebracht hatte, ehe er 1966 in „Jenseits von Schuld und Sühne” von seiner Gestapo- und KZ-Haft berichtete, beanspruchte bei diesem Thema ein eigenes Recht.
Zuständig war, darauf legte er Wert, „wer die Ereignisse im Fleische erfuhr”. Améry hatte die Nazi-Folterkeller und die KZs überlebt und lebte weiter mit der Scham, sich nicht gewehrt zu haben. Dass er und seine Kameraden sich nicht gegen die Unterdrücker erhoben hätten, „bleibt unsere immer wieder sich öffnende, sehr schmerzhafte Wunde”. Deshalb konnte er auch nicht verurteilen, dass die kolonialisierten Schwarzen in Afrika, die bedrängten Nordvietnamesen, die Black Panthers in den nordamerikanischen Ghettos für ihre Befreiung Gewalt brauchten. Ihre Gewalt sei Gegengewalt und deshalb zutiefst „human”. Die „gelebte Erfahrung der Schwarzen (...) entsprach in manchem Bezuge eigenen, prägenden und unverlierbaren Erlebnissen, die ich als jüdischer KZ-Häftling gehabt hatte”. Sein Rundfunkessay über den „Revolutionär” Frantz Fanon und dessen Manifest zum Menschenrecht auf Befreiung von der Unterdrückung („Die Verdammten der Erde”) lief am 29. Oktober 1968 im (man glaubt es nicht!) Bayerischen Rundfunk.
Die Violenz muss weitergehen
Zwei Tage später verhängte ein Richter in Frankfurt eine dreijährige Freiheitsstrafe gegen die vier Angeklagten, die dort ein halbes Jahr zuvor in zwei Kaufhäusern „wegen Vietnam” gezündelt und erheblichen Sachschaden angerichtet hatten. Die RAF gab es noch nicht, doch waren Andreas Baader und Gudrun Ensslin schon dabei. Die Journalistin Ulrike Meinhof übertrug den Befreiungskampf der Dritten Welt (an dem Améry später verzweifeln sollte) in die Bundesrepublik und gab den Opponenten jedes Recht: „Nun, da die Fesseln von Sitte & Anstand gesprengt worden sind, kann und muss neu und von vorne über Gewalt und Gegengewalt diskutiert werden.” Otto Schily verglich „das jüdische Kind im Ghetto, das mit erhobenen Händen auf SS-Leute zugeht, und die vietnamesischen Kinder, die schreiend, napalmverbrannt dem Fotografen entgegenlaufen nach den Flächenbombardements”.
Améry schien den Einsatz von Gewalt in Deutschland zu rechtfertigen. In jenem Beitrag für den Bayerischen Rundfunk vom Herbst 1968 hieß es überdeutlich: „Der Kampf geht weiter. Die Violenz muss weitergehen, gerichtet nunmehr in kontinentalem Ausmaß gegen die herrschenden Gewalten, die zwar ihre Zwischeninstanzen entwickelt haben, aber immer noch die kaum veränderten Unterdrücker von einst sind.” Und verabschiedete sich nicht auch Rudi Dutschke 1974 mit dem Ruf „Der Kampf geht weiter!” von dem toten Terroristen Holger Meins? Der Kampf ging weiter, die RAF brutalisierte sich, und die „Violenz” wollte kein Ende mehr nehmen. Doch gehörte Jean Amérys Sympathie niemals den deutschen Terroristen, er bezeichnete sich allerdings als Sympathisant und fühlte sich später mitschuldig, in seinen in Rundfunk und Zeitschriften vorgetragenen Überlegungen zur Gewalt nicht genügend differenziert zu haben, das eigene Leben, das ein Sterben war, zur Legitimation für die „abstrakte, die geborgte Gewalt gegen die herrschenden Gewalten hergeliehen zu haben.
Von diesen und anderen Auseinandersetzungen berichtet dieser Band mit den politischen Schriften Amérys. Er erinnert an eine alte Bundesrepublik, als „Debatte” noch kein Synonym für wichtighubernde Christiansens war. Mit seiner Erfahrung als Jude und KZ-Überlebender wendet sich Améry gegen den weiter bestehenden Antisemitismus, vor allem auch auf der Linken, beklagt die Konjunktur Hitlers in den siebziger Jahren und findet für den Rüstungsminister Hitlers die treffende Beschreibung: „Herr Speer bereut aufs Lukrativste.” Améry war einer jener Zwangsarbeiter, an die sich Speer, der das Lager Mittelbau-Dora besucht hatte und anschließend nach einem Schnaps verlangte, nicht mehr erinnern wollte.
Améry wehrte sich auch gegen die Stützen der literarischen Gesellschaft, die ihre Laufbahn in der Nachkriegsrepublik fortsetzten, als wäre nichts gewesen. Als Hans Egon Holthusen, inzwischen Leiter des Goethehauses in New York, noch nachträglich mit seiner „feschen” SS-Uniform renommieren wollte, druckte der Merkur seine sündenstolze Beichte: „Die schwarzuniformierte Organisation mit dem Totenkopfemblem der Schillschen Offiziere galt als eine Auslese, sie galt als chic, galt als elegant, und darum wurde sie von vielen exklusiv eingestellten Jünglingen bevorzugt, weil sie sich zu fein waren, in der kackbraunen Kluft der SA herumzulaufen.” In seiner Entgegnung weist Améry darauf hin, dass er einer war, „der Angst haben musste vor Ihrer feschen Uniform”. Der Häftling Jean Améry bekam es mit einem SS-Mann zu tun, der mit einem stilbewusst in eine Lederschlaufe gefassten Ochsenziemer auf ihn zutrat und ankündigte: „Jetzt passierts.” Auch Golo Mann schreibt er an, der nach der Entführung Hanns Martin Schleyers und der Ermordung seiner Begleiter den Bürgerkrieg im Land beschwor und die Abkehr vom „überkommenen Recht” forderte: „Der Moment kann kommen, in dem man jene wegen Mordes verurteilten Terroristen, die man in sicherem Gewahrsam hat, in Geiseln wird verwandeln müssen, indem man sie den Gesetzen des Friedens entzieht und unter Kriegsrecht stellt.” Ja, so war die alte BRD.
Die Scham der Überlebenden, die Hannah Arendt zu dem Exzess an Judenfeindschaft verleitete, den sie unter dem Titel „Eichmann in Jerusalem” veröffentlichte, bedrückte Améry noch mehr als andere. Nicht Rache geübt, nicht Gewalt gebraucht zu haben gegen seine Unterdrücker, dieses Versäumnis beschäftigte ihn sein weiteres Leben lang. Er war vielen lästig, weil er sich immer wieder auf seine zweijährige Gestapo-Haft berief, ein Gespenst aus einer Vergangenheit, die endlich vergangen sein sollte. Ihm blieb sie gegenwärtig: „Man führte mich an das Gerät. Der Haken griff in die Fessel, die hinter meinem Rücken meine Hände zusammenhielt. Dann zog man die Kette mit mir hinauf, bis ich etwa einen Meter über dem Boden hing. (. . . ) Und nun gab es ein von meinem Körper bis zu dieser Stunde nicht vergessenes Krachen und Splittern in den Schultern. Das eigene Körpergewicht bewirkte Luxation, ich fiel ins Leere und hing an den ausgerenkten, von hinten hochgerissenen und über dem Kopf nunmehr verdreht geschlossenen Armen.” Wer liest, was Améry im Fleische erfuhr, wird nicht mehr so leichtfertig von der gegebenenfalls doch vielleicht ausnahmsweise anzuwendenden Folter reden können, wie neuerdings die realpolitische Fronde zwischen Wolfgang Schäuble und Condoleezza Rice.
Frühschoppen und Nachkrieg
Werner Höfer, der Moderator des „Internationalen Frühschoppens”, war nicht bei der SS gewesen, hatte niemanden gefoltert und erschlagen, aber er hatte als Journalist 1943 die Hinrichtung des defätistischen Pianisten Karlrobert Kreiten gebilligt. Dem noch jungen Journalisten wird es nicht geschadet haben, dass er dem „ehrvergessenen Künstler” im12 Uhr Blatt ins Grab hinein nachrief, wer „statt Glauben Zweifel, statt Zuversicht Verleumdung und statt Haltung Verzweiflung stiftet”, habe es nicht besser verdient. Die Familie des Justiz-Mordopfers erhielt für Prozess und Hinrichtung eine Kostenrechnung in Höhe von RM 639,20, während Höfer seine Karriere in der Nachkriegszeit ungehemmt fortsetzen konnte. 1973 empfing er das Bundesverdienstkreuz; erst 1987 musste er von seinem Amt als WDR-Fernsehdirektor zurücktreten. Jean Améry hatte bereits neun Jahre vorher Selbstmord begangen. WILLI WINKLER
JEAN AMÉRY: Aufsätze zur Politik und Zeitgeschichte. Herausgegeben von Stephan Steiner (= Werke, Band 7). Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2005. 680 Seiten, 34 Euro.
Jean Améry (1912-1978)
Foto: Friedrich/Ullstein
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Als "europäischen Intellektuellen" und "modernen Klassiker" charakterisiert Horst Meier den Schriftsteller Jean Amery, dessen politische Aufsätze nun als siebter Band der Werkausgabe vorliegen. Wie er berichtet, scheinen Amerys Lebensthemen, die Erfahrung der Folter und des Vernichtungslagers, in vielen Texten durch. Besonders interessant findet Meier die Texte, die unter der Überschrift "Terrorismus" beziehungsweise "Gewalt und Gegengewalt" stehen. Er betont die frühe Diskussion der "Grenzen politischer Gewaltphilosophie" bei Amery. Gleichwohl habe sich dieser später den Vorwurf gemacht, nicht präzise und unmissverständlich genug zwischen legitimer und illegitimer Gewalt unterschieden zu haben. In den Briefen Amerys etwa an den ehemaligen SS-Freiwilligen und Schriftsteller Hans Egon Holthusen, oder an Erich Fried, Simon Wiesenthal, Albert Speer und Golo Mann, die sich auch in vorliegendem Band finden, erweist sich der Autor für Meier als "genauer Beobachter und leidenschaftlicher Teilnehmer der politischen Szene". Ausführlich würdigt er abschließend Amerys "Art des Denkens", die seine Texte "so überaus lesenswert" mache: sein "dialogisches Schreiben", seine "unablässige Selbstbefragung", die "Klarheit des Gedankens und die "Rationalität und ideologische Unbestechlichkeit".
© Perlentaucher Medien GmbH
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