Marktplatzangebote
3 Angebote ab € 55,00 €
  • Buch mit Leinen-Einband

Nicht zu allen Zeiten ist Grimmelshausens großer Schelmenroman als Bestandteil des klassichen Kanons deutscher Literatur und deutschen Bildungsguts anerkannt worden. 1876 debattierte der preußische Landtag über diese - so der Redner - "Zusammenstellung von Zoten und Unlauterkeiten aus dem wüsten Leben eines Landknechts des Dreißigjährigen Kriegs", über "Irrfahrten, Liebesabenteuer, Diebstahl, Unzucht, Mord, Bruch des Fahneneids etc." In seiner Empörung über dergleichen Dinge in einem Roman hat der Abgeordnete ein gut Teil dessen getroffen, was Grimmelshausen mit satirischem Blick erfaßt, mit…mehr

Produktbeschreibung
Nicht zu allen Zeiten ist Grimmelshausens großer Schelmenroman als Bestandteil des klassichen Kanons deutscher Literatur und deutschen Bildungsguts anerkannt worden. 1876 debattierte der preußische Landtag über diese - so der Redner - "Zusammenstellung von Zoten und Unlauterkeiten aus dem wüsten Leben eines Landknechts des Dreißigjährigen Kriegs", über "Irrfahrten, Liebesabenteuer, Diebstahl, Unzucht, Mord, Bruch des Fahneneids etc." In seiner Empörung über dergleichen Dinge in einem Roman hat der Abgeordnete ein gut Teil dessen getroffen, was Grimmelshausen mit satirischem Blick erfaßt, mit Sinn fürs Groteske schildert, aber auch mit Schärfe geißelt: die Realität einer Zeit, in der die Welt verwildert schien und Katastrophenangst ein Grundgefühl des Menschen war, einer Zeit voller Krisen und Bedrohungen.
Autorenporträt
Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen (1622-76) gilt als der bedeutendste deutsche Erzähler des 17. Jahrhunderts. Nach einem gefahrvollen Leben als Soldat begann er erst 1665 mit dem Schreiben und hat in kurzer Zeit ein eindrucksvolles Opus geschaffen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.11.1997

Der Ochs als Metzger
Grimmelshausen, ein deutscher Manierist · Von Hans-Jürgen Schings

Wie war das noch in Telgte, als Günter Grass den Stoffel Gelnhausen seine Autorschaft ankündigen ließ? Den "großen Sack" werde er aufmachen, "den gefangenen Stunk freisetzen, des Kronos Parteigänger sein" und "der Sprache den Freipaß geben, damit sie laufe, wie sie gewachsen sei", "immer aber dem Leben und seinen Fässern abgezapft". Was dabei herausgekommen ist, zeigt sich vielleicht nirgends üppiger, reicher, farbiger als in dem vorliegenden Band. Nach zwei Bänden mit dem "Simplicissimus" und den "Simplicianischen Schriften" hat Dieter Breuer im Rahmen der Bibliothek der Frühen Neuzeit jetzt eine Art Nachlese herausgegeben. Diese Nachlese ist eine Fundgrube.

Wer, vielleicht von Richard Alewyns Modellbeschreibungen neugierig gemacht, immer schon wissen wollte, wie ein historisch-höfischer Roman des Barocks aussieht, doch vor den tausendseitigen Ungetümen des Herzogs von Braunschweig, Lohensteins und anderer Großromanciers kapitulieren mußte, der findet hier das Genre im bekömmlichen Kleinformat. Denn auch der simplicianische Autor, wiewohl auf den niederen Stil eingeschworen, hat sich daran versucht und eine "Liebs-Geschicht-Erzählung" verfaßt: "Printz Proximus und Lympida" parallelisiert vor dem exotischen Hintergrund des frühen Oströmischen Reiches in großem Stil die Geschichte der Liebenden und die Geschichte der Staaten und demonstriert darin - hier greift der "Theologische Stylus" ein - das Walten der Providenz.

Nicht weniger fromm geht es in der "anmutigen und ausführlichen Histori vom Keuschen Joseph in Egypten" zu. Der "curiose" Leser hat hier den ersten Josephsroman der deutschen Literatur vor sich. Thomas Manns Mut-em-enet heißt bei Grimmelshausen Selicha. Auch sie schon versammelt jene Damengesellschaft, die sich beim Anblick des Schönen, Zitronen schälend, mit den tückisch flitzenden Messerchen übel zurichtet. ". . . wann ihr jetzt schon in die Finger hauet / da ihr ihn kaum ansehet / wie meinet ihr wohl daß eure Herzen zerhackt würden / wann ihr täglich um ihn weret wie ich?" läßt die Verliebte, ein wenig derb, verlauten. Und warum ist Joseph ein solcher "Kern und Ausbund" von Schönheit? Weil seine Urmutter unter lauter schönen Bildern aufgewachsen ist, und so "seyen durch ihre hefftige Einbildungen alle ihre Kinder denselben an der Gestalt ähnlich geworden". Noch Goethes "Wahlverwandtschaften" kennen solche Macht der Einbildungskraft. Schon Grimmelshausen nutzt das Potential der Nebenfiguren. So hat Thomas Manns wunderbarer Mont-kaw einen Vorläufer in dem "Schaffner" Musai, um den Grimmelshausen ein eigenes kleines Werk gruppiert.

Doch wirklich zu Hause und wohl fühlt er sich auf den Höhen von Historie und Legende offenbar nicht. Gut die Hälfte des Bandes steht deshalb unter dem Regiment des gewohnten simplicianischen Furors. Ein köstliches kleines Bravourstück, der sogenannte "Anhang", zählt die Nummern eines imaginären türkischen Museums auf: "Ein Stück von dem Feigenblatt / wormit sich die Eva bedecket." "Eine Wiegen von Augspurgischer Arbeit / so die Eva zu ihren Kindern gebrauchet." "Eine Venedische Gläserne Flasche / darinnen eine zimliche Quantität von dem Wasser der Sündfluth auffbehalten worden." Neunundachtzig solcher Raritäten notiert Grimmelshausens Witz. "Wer nicht staunen machen kann, der soll Pferde striegeln gehen", lautete die Maxime des Erzmanieristen Marino. Grimmelshausens "Spitzwitz" nimmt es mit den Meistern manieristischer Ingeniosität auf. Auch sonst ist die "sinnreiche" Verstandesschärfe die Hauptwaffe des Satirikers.

Da ist das "Galgen-Maennlin", eine kleine Schrift gegen den Alraunen-Aberglauben. Simplicissimus schreibt einen Brief an seinen Sohn: "Dein Schreibn vom 17. diß ist mir wol zukommn / in welchm du von den so gnantn Galgn-Mänln so ausführlichn Bricht von mir bgehrst . . . " Er läßt alle unbetonten e-Vokale weg - so daß ein umständlicher Kommentator den Brief erläutern muß. Er gibt sich als Reformator der deutschen Sprache (deren Grund- und Stammwörter durchweg einsilbig seien) und doch zugleich als lipogrammatischer Manierist.

Da ist die Abhandlung "Vom Ursprung des Namens Bernheuter". Die Romantiker haben sich dafür interessiert. Man begegnet dem Urbild des Struwwelpeter. Denn das trägt ein Gespenst dem Bärenhäuter auf: "Deine Haar und Bart weder kämpeln / noch selbige wie auch die Nägel nicht abschneiden; die Nase nicht schneutzen / deine Händ und daß Angesicht nicht wäschen / den Hindern nicht wischen . . . " Erfreulich, daß auch der "Ewig-Waehrende Calender" zum Zuge kommt. Das unhandliche Format des Originals - es hat auf gegenüberliegenden Seiten je drei Rubriken mit Text - nötigt freilich zu einer Auswahl, die nur die "lustigen Erzehlungen" und "Stükke" aus einer Spalte bietet. Hier wird Grimmelshausens Ingenium besonders gut greifbar. Denn nicht um die übliche Kalender-Astrologie geht es. Vielmehr breitet der alte Simplicissimus vor seinem Sohn eine "ordentliche Unordnung" aus, ein "Chaos, oder verworrenes Mischmasch", ein "Labyrinth" - "umb dessen Verstand darinn zu üben / und jhn zu höhren Gedancken darinn zu reitzen". Wieder die Signale des "arguten", witzig-sinnreichen Stilwillens. Er läßt den Kalender-Erzähler zu einem regelrechten "apophthegmatischen Menschen" werden. Mit sicherem Blick hat der Kommentator Dieter Breuer diesen Zug markiert. Er verbindet Grimmelshausen mit der Argutia-Bewegung der Zeit, macht ihn zu einem der eher seltenen deutschen Prosa-Manieristen.

Wie das argute Spiel in Gang kommt, zeigt die knappe Kalendergeschichte von der "Verkehrten Welt". Der ganz junge Musketier Simplicissimus wird von einem Bild bis in seine Träume verfolgt: "da kam mir vor wie der Ochs den Metzger metzelte; daß Wild den Jäger fällete; die Fisch den Fischer frassen; der Esel den Menschen Ritte / der Lay dem Pfaffen predige / daß Pferd den Reuter tumelt: der Arm den Reichen gabe / der Bawr kriegte und Soldat pflügte". Dann entdeckt er, daß er selbst in solch verkehrter Welt lebt, und beschließt, diese Inversionen genau zu beobachten, "umb mich darauß zu bessern, und meinen wenigen Verstand zu schärpffen". Er hat zu einem welterschließenden Concetto gefunden und verbündet sich fortan satirisch mit dem lachenden Demokrit (obwohl ihm der melancholische Heraklit eigentlich nähersteht). Die Urszene von Grimmelshausens Autorschaft? Die Großerzählung "Verkehrte Welt" gibt dem Concetto eine überraschende doppelte Wendung. Sie führt den Simplicius durch zwanzig Straf- und Folterstationen der Hölle - unter anderen dienen Michelangelo und Hieronymus Bosch als Bildspender - und hält ihm aufs drastischste die Verkehrung der irdischen Glücks- und Machtverhältnisse vor Augen. Zweite Inversion: In Gesprächen mit den Übeltätern der Vergangenheit entwirft der Höllenwanderer naiv ein Idealbild der gegenwärtigen Christenheit, das jeder Leser mit den wirklichen Verhältnissen vergleichen muß. Insbesondere das sprichwörtliche "lang zu Hoff lang zu Höll", das noch Goethes Vater schätzte, füllt sich mit rücksichtsloser Konkretion. Satire und Predigt, Frömmigkeit und Ingeniosität schließen sich bei Grimmelshausen nicht aus.

Dieter Breuer hat alles getan, um die Leselust zu befördern und philologisch zu sichern. Als Herausgeber geht er auf die Erstdrucke zurück, wie sie, in den meisten Fällen, in der Ausgabe von Rolf Tarot vorliegen, die er kritisch benutzt. Für Schreibungen und Interpunktion akzeptiert er keinen der sonst üblichen "behutsamen" Kompromisse. Die "Bibliothek der Frühen Neuzeit" hält hier einen energischen Kurs (doch wo nur findet man deren "Editionsleitlinien", auf die Breuer gelegentlich summarisch verweist?). Der Ersatz der Fraktur durch die lateinische Schrift ist gewiß eine Wohltat fürs Auge. Breuers editorische Erklärungen wie die Bemerkungen zu Entstehung, Quellen und Deutung sind Musterstücke prägnanter Verknappung - obwohl der Apparat gut vierhundert Seiten einnimmt. Gelehrt und unprätentiös zugleich kümmert sich der Stellenkommentar um den (oft genug hilfsbedürftigen) Leser, ohne ihn zu unterschätzen oder zu nötigen. Wer noch kein Grimmelshausen-Liebhaber ist, dem gibt dieser Band die Chance, es zu werden.

Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen: "Verkehrte Welt: Satirische Schriften/ Historische Romane/Legendenromane". Werke, BandII. Herausgegeben von Dieter Breuer. Deutscher Klassiker Verlag, Frankfurt am Main 1997. 175 S., geb., 172,- DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr